Als ich geboren wurde, waren seit der Wende beinahe zehn Jahre vergangen – von Deutschland über Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei, Bulgarien, Rumänien. Ich bin ein Kind des europäischen Sommers, meine Augen haben den Eisernen Vorhang nie erblickt. Ich kenne ihn nur aus den Geschichten von meiner Urgroßmutter, die nicht aus Tschechien nach Österreich reisen durfte und der Reise meines Vaters in die DDR.
Oft ertappe ich mich erschrocken dabei, wie ich selbstverständlich annehme, dass es „normal“ wäre, in einem reichen Land aufgewachsen zu sein. Meine Mutter stand noch nie vor leeren Supermarktregalen. Meine Großeltern haben ihr nicht als Kind eingetrichtert, dass sie sich hüten müsse, um ihren Nachbar:innen nichts Regierungskritisches zu sagen. So sollte es ja auch sein. Doch obwohl es mir seltener passiert, seit ich nach Polen gezogen bin, vergesse ich viel zu leicht, dass für viele Menschen das Leben so anders war und an zu vielen Orten noch immer so anders ist.
Die Eltern von Andrei Lumpan wuchsen im Rumänien von Nicolae Ceaușescu auf. Dort musste man manchmal tagelang anstehen, um an „exotische“ Waren wie Fleisch zu kommen. Das Land wurde von dem despotischen Diktator ausgehöhlt. Alles von Wert, was das Land produzierte wurde exportiert und die Bevölkerung musste hungern. Wer 1982 mehr als einen Monatsvorrat Grundnahrungsmittel einkaufte, kam für sechs Monate bis fünf Jahre ins Gefängnis. In den 80ern war eine:r von dreißig Rumänier:innen Informant:in der Securitate, darunter zehnjährige Kinder.
Andreis Vater war 15 Jahre alt, als er 1984 zum ersten Mal Rumänien verließ. Unterwegs in ihrem Dacia 3000 begab er sich mit seiner Mutter und seinem Stiefvater auf einen Roadtrip nach Ostberlin. „In Ungarn auszusteigen, fühlte sich [für ihn] an wie der Übergang von der Hölle in den Himmel“, erzählt Andrei. In Polen vor der vollen Auslage einer Fleischerei zu stehen, war nahezu unglaublich. Mitnehmen konnten sie davon jedoch nichts – bis auf einen teuren Fuchskragen, den Andreis Großmutter im Autoreifen über die Grenze schmuggelte. Andreis Vater war wütend, dass sie für das Geld nichts zu essen gekauft hatten.
Als Andrei 16 Jahre alt war, nahm ihn sein Vater mit, um die gleiche Reise genau 30 Jahre später zu wiederholen und ihre Eindrücke zu dokumentieren. Von Rumänien über Ungarn, die ehemalige Tschechoslowakei und Polen nach Deutschland versuchten sie, die Spuren wiederzufinden – die Orte, die Andreis Vater vor 30 Jahren fotografiert hatte und die Spuren, die das Leben an den Leuten in diesen sechs Ländern hinterlassen hatte. Das Ergebnis ist ein umfangreiches Projekt mit Fotos, Videoaufnahmen und unzähligen Interviews.
„Diese Gespräche öffneten neue Türen für mich und meinen Vater. Obwohl diese Menschen unter dem gleichen politischen System gelebt haben, war die Art, wie ihnen dieses Leben möglich war, extrem unterschiedlich.“ Das Projekt wurde zum besten Geschichtsunterricht für Andrei. Er und sein Vater bilden so einen grenzüberschreitenden Systemwandel ab. „Es ist ein heikles Thema, über das immer noch kaum gesprochen wird. Obwohl es uns so nah ist und noch immer einen immensen Einfluss auf das heutige Leben hat.“ Im Sommer 2021 wiederholten sie die Reise ein drittes Mal.
Die folgenden Bilder sind Ausschnitte aus dem Projekt „1984 vs. NOW“. Mehr Fotos, Videos und Informationen gibt es auf der Website 1984now.eu (nur auf Rumänisch verfügbar).















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Autor:innen
War bis November 2022 Redakteurin bei DIEVERPEILTE. Hat Wirtschafts- und
Sozialwissenschaften in Wien studiert und befindet sich aktuell im
Philosophiestudium. Themenschwerpunkte sind Gesellschaft, Wirtschaft und
Poltik.