WARNUNG: In diesem Text wird das Thema Angststörung behandelt.

Lieber Eberhard,

wir kennen uns nun schon eine ganze Weile, du und ich.

Kennengelernt haben wir uns, als ich 15 oder 16 war. Den Grund dafür kann ich dir nicht genau sagen… du warst plötzlich da und hast mir Angst gemacht.

Richtig eng miteinander wurden wir dann während der Corona-Pandemie. Ich war zum Studieren in eine neue Stadt gezogen. Da ich dort noch niemanden kannte, fühlte ich mich anfangs vor allem einsam. Deshalb habe ich es ehrlich gesagt auch gar nicht gemerkt, wie du dich immer näher an mich herangepirscht hast. Du bist sehr geschickt in deinem Vorgehen. Ich vermute, dass es dir bei mir ganz gut gefallen hat und dann hast du wohl beschlossen zu bleiben. Ich kann das auch gut verstehen, Eberhard. Als soziale Angststörung hat man es bei jemandem, der sehr perfektionistisch veranlagt ist und einen hohen Anspruch an sich selbst hat, ziemlich einfach. Vielleicht war auch mein Geschlecht ein wichtiger Faktor für dich? Frauen sind nämlich 1,5-mal öfter von einer sozialen Angststörung betroffen als Männer. Wie auch immer: Am Ende des zweiten Semesters waren wir beide dann schon ziemlich eng befreundet. Während der Präsenzlehre, die nach der Corona-Zeit wieder begann, hast du mich auf Schritt und Tritt begleitet. „Die finden dich doch eh doof“, hast du mir ganz leise zugeflüstert, wenn ich mich mit Kommiliton:innen unterhalten habe. „Du wirst dein Studium doch eh nicht schaffen“, meintest du als ‚liebgemeinte‘ Aufmunterung, als ich versucht habe, für eine Klausur zu lernen. „Merkst du eigentlich, wie sehr deine Stimme zittert? Hör‘ genau hin!“, hast du mich ermahnt, als ich ein Referat gehalten habe.

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Es ist so paradox: Ich mag Menschen – eigentlich. Ich habe viele und enge Freund:innen. Ich liebe es, mich lange und gut zu unterhalten. Ich gehe gerne feiern und betrachte mich generell als einen sozialen Menschen.

Doch das Perfide an dir: Du hast mir sogar immer wieder eingeredet, dass dich niemand an meiner Seite bemerken darf. „Lass dir bloß nichts anmerken“, hast du mich gewarnt, „wenn alle von mir wissen, dann wirst du noch weniger akzeptiert!“ Und ich habe dir das alles geglaubt! Das hat es für mich natürlich nochmal schwerer gemacht.

Ach Eberhard, es wäre so leicht gewesen, auf dich wütend zu sein. Wenn ich unsere Freundschaft Revue passieren lasse, frage ich mich: Wie oft hast du mir mein Leben erschwert? Wie viele unnötige Gedanken habe ich mir wegen dir gemacht? Wie oft zweifle ich teilweise immer noch an mir? Wenn ich daran denke, wie schwierig und anstrengend so vieles in meinem Leben wegen dir war, könnte ich dir manchmal einfach den Hals umdrehen.

Aber: Ich weiß, dass du es eigentlich nur gut mit mir meinst. Du willst mich davor schützen, dass ich mich vor anderen Menschen blamiere. Du möchtest nicht, dass sich Freund:innen von mir distanzieren. Du möchtest verhindern, dass ich einen schlechten Eindruck hinterlasse. Und es ist dir wichtig, dass ich ernst genommen werde. Und das schätze ich an dir – wirklich. Ich denke nur, du übertreibst es mit deinem guten Willen ein bisschen. Ein bisschen sehr. Denn bis jetzt ist keine der Situationen, vor denen du mich gewarnt hast, auch wirklich eingetreten – nicht eine einzige! Niemand hat den Kontakt zu mir abgebrochen. Niemand hat mir direkt ins Gesicht gesagt, dass er/sie mich nicht leiden kann. Niemand gab mir für einen Vortrag ein negatives Feedback. Und selbst wenn – es wäre kein Weltuntergang für mich gewesen. Weil ich weiß, dass ich auf jede dieser Situationen reagieren kann. Vielleicht wäre es am Anfang hart, damit klarzukommen. Aber mit der Zeit würde ich dafür Möglichkeiten finden und Strategien entwickeln, die mir im Umgang damit helfen, – da bin ich mir sicher.  

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ALLE ILLUSTRATIONEN: KATRIN

Durch meine Therapie, die ich seit einem Jahr wegen und mit dir mache, hast du dich schon ein wenig beruhigt. Du klopfst nun immer seltener bei mir im Kopf. So langsam habe ich den Eindruck, dass dir die Ideen ausgehen. Und wenn du dann doch wieder versuchst, mir Angst zu machen, so kann ich darauf inzwischen ziemlich gelungen kontern, – indem ich dir gut zurede. Meistens siehst du dann auch ein, dass deine Befürchtungen übertrieben sind. Manchmal dauert es aber auch ein oder zwei Tage – so wie letztens, als du mich bei der Einführungsveranstaltung meines neuen Studienabschnittes erst mal davon überzeugt hast, dass mich alle Kommiliton:innen nicht leiden können. Dass ich nie wieder in die Uni gehen kann – und generell nicht in der Lage sei, einen Job adäquat zu erledigen. Aber nach ein paar Stunden hatte sich die Angst gelegt und alles war wieder in bester Ordnung. Und siehst du: nichts ist passiert.

Ich habe auch den Eindruck, dass du dich inzwischen gar nicht mehr so wohl bei mir fühlst. Du lässt dich nur noch sporadisch blicken und wenn, dann machst du einen eher verhaltenen Eindruck auf mich. Bist du dir gar nicht mehr so sicher, dass all deine Horrorszenarien eintreten werden? Ich könnte es verstehen – das, was du behauptest, ist ja auch extrem abstrus. Vielleicht ist es langsam an der Zeit, dass du lernst, allein klarzukommen, mein lieber Eberhard. Ich brauche dich nicht und ich denke: du brauchst auch mich nicht. Und ich bin mir sicher, dass du super alleine zurechtkommen wirst. Du schaffst das, ich glaube an dich!

Aber keine Sorge, – ich weiß, dass wir beide wahrscheinlich noch ab und an miteinander zu tun haben werden. In schwierigen Lebenssituationen wird es dir wahrscheinlich immer wieder leichtfallen, kurz auf einen Kaffee bei mir vorbeizuschauen. Weil ich in herausfordernden oder aufwühlenden Situationen generell vulnerabler bin. Mehr an mir zweifle und es dir leichter fällt, mich von deiner Meinung zu überzeugen. Und dann werde ich dich auch nicht kaltherzig vor die Tür setzen. Einfach rausschmeißen klappt bei dir ja eh nicht. Aber ich weiß, dass deine Besuche dann zumindest nicht von langer Dauer sein werden und du früher oder später wieder deine eigenen Wege gehen wirst.

Mach‘s gut!
Deine Emma

Autorin: Emma, Illustrationen: Katrin

Anmerkung der Redaktion: Dies ist ein Erfahrungsbericht und gilt mitnichten für alle Menschen mit Angststörung. Es geht hier um eine persönliche Perspektive, nicht um Pauschalisierung.

Der Telefondienst „Mutruf“ bietet Unterstützung für Menschen, die von Angststörungen betroffen sind, von Personen, die selbst Erfahrungen mit Angststörungen gemacht haben. Das Team ist von montags bis donnerstags von 10 bis 18 Uhr und freitags von 10 bis 12 Uhr unter der Nummer 04191 – 2749280 erreichbar.

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