WARNUNG: Dieser Text thematisiert Alkoholismus.

Ich weiß nicht mehr viel von jener Sommernacht, in der ich meinen ersten Vollrausch hatte, aber ich weiß noch, wie es sich anfühlte: der See, die Menschen, ein cooler Typ an meiner Seite, der sich mit schwarzem Kajal schminkte und The Misfits hörte. Ich war 14, mein neuer Freund Björn hatte Geburtstag – er wurde schon 16 – und es gab Fruchtbowle mit Wodka. Wir hatten uns ein paar Monate zuvor in einem nerdigen Online-Forum kennengelernt und als er sich in mich verliebte, verliebte ich mich zurück. So machte ich das damals: Ein Typ offenbarte mir seine Gefühle und mein Hirn zündete ein synaptisches Feuerwerk, das alles überblendete, was man grob als „gesunden Menschenverstand“ bezeichnen könnte. Mit glühender Überzeugung deutete ich das als Liebe und machte viele Typen erst sehr glücklich und bald darauf wieder sehr unglücklich – inklusive Björn. Aber heute war erstmal sein Geburtstag und es mangelte nicht an neurologischen Böllern. Es gab eine Party ohne Aufsicht, einen rauen Sandstrand und Bowle, deren wodkagetränkte Erdbeeren ich mit der Zunge zerdrückte, bis der süße Matsch mit leichtem Brennen meine Kehle hinunterrutschte. Wurde mein Becher bedenklich leer, kippte ich Bowle nach. Wurde die Bowle bedenklich leer, kippten wir Vodka nach. Und je später es wurde, desto schärfer brannten die Erdbeeren in der Kehle. Mich störte das nicht. Eigentlich mochte ich es sogar. Je mehr es brannte, desto egaler wurde alles. Die Euphorie, das Feuerwerk, die aufgepeitschten Gefühle waren etwas anderem gewichen, das ich ebenso schätzen lernte wie den Rausch: die Ruhe.

Der kanadische Arzt Gabor Maté schrieb den vielzitierten Satz: „Frag nicht nach der Sucht, frag nach dem Schmerz.“ Er meint, dass abhängiges Verhalten einen tief empfundenen Mangel ausgleichen will, ein Trauma, eine Verletzung.

Was war also mein Schmerz damals am See? War er so groß, dass ich keine andere Wahl hatte, als zu trinken? War er so tiefgreifend, dass ich früher oder später abhängig werden musste? Klar, ich fühlte mich unverstanden, wie jeder Teenager, der seine Schminke in der Halloween-Abteilung kauft. Aber da waren keine schlimmen Traumata, keine autoritären Eltern, keine finanzielle Not.

Das Trinken wurde auch nicht sofort zu einem erdrückenden Problem – vielmehr wuchs es mit mir mit und passte sich meinem Leben an, wie eine zweite Haut. Als Teenager waren Partys noch Provinzen der Freiheit; auf den Kopf gestellte Erwachsenenwelten, in denen wir unsere eigenen Gesetze machten. Später wurde Alkohol einfach Teil des Alltags. Ich datete ältere Typen und trank mit ihnen Rotwein auf dem Sofa, während wir Six Feet Under guckten. Ich arbeitete in einer Bar in Irland, zapfte alten Männern liebevoll Guinness und trank nach der Schicht mit ihnen mit, wenn sie sagten „Take one for yourself, pat“, und das sagten sie eigentlich immer. Ich arbeitete neben dem Studium in einem Weinladen und sagte völlig unironisch das Wort „Tannine“ oder holte für die ganze WG Tyskie vom Kiosk. Dazwischen legte ich immer wieder Pausen ein. Für die Außenwelt war ich einfach gern und oft betrunken. Vielleicht nicht gerade gesund, aber keine:r meine:r Freund:innen malte jemals ein Transparent, unter dem sie mir mit eindringlicher Stimme erklären wollten, dass mein Trinken ein Problem war. 

Anders war es mit meiner Innenwelt. In meiner Innenwelt war jeden Tag Intervention. In meiner Innenwelt schrie ich mich an, wieso ich mein Leben eigentlich so verkackte. Wieso ich nie etwas fertig kriegte. Wieso ich so unzuverlässig war. Wieso ich mich nach Routine und Ruhe sehnte und beides immer genau dann sabotierte, wenn es zum Greifen nah war. Ständig musste ich Mahngebühren und ungekündigte Abos bezahlen; einmal stand der Schuldeneintreiber vor der Tür – meine Mutter war grad zu Besuch – und mehr als einmal wurde mir mit dem Inkasso gedroht. Immer hätte ich genug Geld auf dem Konto gehabt, um die Rechnungen einfach zu bezahlen. Obwohl ich einen guten Job fand, fühlte ich mich, als würde ich auf der Stelle treten. Meine Pflanzen starben, meine Wohnung war chaotisch und je länger das so ging, desto mehr trank ich und je mehr ich trank, desto mehr versteckte ich es vor anderen. Ich wusste, dass das Trinken ein Problem war, aber glaubte auch, daran nichts ändern zu können, bis ich nicht den ganzen Rest mal auf der Reihe hatte. 

Als ich kurz vor meinem 30. Geburtstag beschloss, das Trinken endgültig an den Nagel zu hängen und mir eingestand, dass nicht ich die Substanz kontrollierte, sondern sie mich, wurde vieles davon besser. Mein Leben wurde heller und ich wurde stärker und fröhlicher. Die innere Stimme wurde sanfter und mit jedem nüchternen Tag gewann ich etwas Vertrauen zurück, dass sich mein Leben zum Besseren wenden könnte. Doch manches blieb: Immer noch starben meine Pflanzen – wenn auch nicht so schnell – und immer noch versank meine Wohnung im Chaos – wenn auch nicht so bodenlos. Noch immer war es ein Mysterium, warum ich manchmal so viel in kurzer Zeit auf die Beine stellen konnte und es mir dann entglitt. 

Im Februar 2021 klagte ich meiner Podcast-Kollegin Mia mein Leid über all die klaffenden Baustellen meines Lebens. Kurz darauf schrieb mir eine Hörerin, ob ich schonmal darüber nachgedacht hätte, ob ich ADHS haben könnte. Ich war zu diesem Zeitpunkt bereits drei Jahre in psychiatrischer Behandlung, hatte eine Therapie und viele Erstsitzungen hinter mir, aber ADHS? Das hatte mir noch niemand gesagt. Ich begann wie im Rausch zu recherchieren und nach dem Lesen einer Symptomliste schickte ich den Link an meine beste Freundin mit den Worten: Fuck. Das erklärt mein Leben.

Ich machte eine offizielle Diagnostik, die mein Gefühl bestätigte und meinem Mysterium endlich einen Namen gab. Aber, wenn ich die vier Buchstaben zerlege, in die „Aufmerksamkeits-Defizit-und-Hyperaktivitäts-Störung“, wäre keines dieser Worte Teil meiner Selbstbeschreibung. Ich habe tatsächlich noch keine Person mit ADHS getroffen, die ausgerechnet Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivität als ihre größten Leiden identifizieren würde. Beide Begriffe beziehen sich nämlich auf Symptome, die von außen sichtbar sind. Das Innenleben bleibt in der Bezeichnung weitgehend unsichtbar. 

IMG 5293
Mika Döring, spricht im SodaKlub-Podcast über Alkoholabhängigkeit und ADHS. Alle Fotos: Steffi

Ich empfinde meine Aufmerksamkeit nicht als defizitär – sie ist wach und dynamisch. Ja, sie hat ein trotziges Eigenleben, verweigert sich manchmal bis zur Lähmung, doch wenn ich erstmal einen emotionalen Anker in einer Sache gefunden habe, fließt sie ohne Reibungsverlust. Beinahe löse ich mich auf, die Kakophonie der Welt aus tickenden Uhrzeigern, aufleuchtenden Handybildschirmen, piependen Waschmaschinen, angefangenen To-Do-Listen und aufgegebenen Morgenroutinen; aus automatischen Abo-Verlängerungen, Netflix-Dokus, dem Satz meiner Mutter, der mir seit zehn Jahren nicht aus dem Kopf geht, die Freundin, deren Rückruf ich immer wieder verschiebe, die Wäsche, die in der Maschine modert, die scheiß Bahncard-Rechnung, die gröhlenden Männer vor meinem Fenster, die anfahrende Tram, der Geruch von meinem Aschenbecher, fucking Instagram schon wieder – Hallo, Mika, du hast dich schon lange nicht mehr selbst gehasst, könntest du doch mal wieder…? Das alles tritt beiseite und lässt mich stundenlang dieser einen Sache nachgehen. 

Letztlich ist das auch eine Suche nach Stimulation für ein Gehirn, das sich schnell langweilt. Das kann auch aus dem Ruder laufen. Zum Beispiel, wenn man vergisst zu Essen oder sich krankmeldet, um mehr Zeit mit der neuesten Hyperfixierung zu verbringen. Oder wenn man danach so erschöpft ist, dass erstmal gar nichts mehr geht. Aber es schüttet Dopamin aus – und daran haben ADHS-Gehirne einen chronischen Mangel. Dopamin ist nicht etwa das Wohlfühl-Molekül, wie lange Zeit behauptet wurde. Vielmehr ist es für Motivation und Lernen zuständig. Das, was Dopamin ausschüttet, wird priorisiert und wiederholt. Und weißt du, was richtig gut darin ist, Dopamin auszuschütten?

Drogen.

Nicht zufällig sind Suchterkrankungen unter Menschen mit ADHS sehr verbreitet

Ich habe lange nach meinem Schmerz gefragt. Und auch wenn ich mit der Zeit ein paar emotionale Päckchen angesammelt habe, glaube ich nicht, dass Trauma eine notwendige Bedingung ist, um von etwas abhängig zu werden. Genauso wenig ist es eine neurologische Notwendigkeit, dass ein ADHS-Gehirn süchtig wird. Ich glaube heute, man sollte vor allem nach Bedeutung fragen: Wieso war Alkohol trinken für mich bedeutungsvoll? Was hat den Suff auf meiner emotionalen Landkarte als wichtigen Ort markiert? Warum blieb er nicht nur eine kleine Siedlung, sondern ist zu einer Metropole herangewachsen, deren Vernetzungen zu belebten Handelsrouten der Sinnhaftigkeit wurden.

Wie war das, damals am See und in all den Jahren danach? 

Seit ich denken kann, finde ich mich selbst etwas weird. Es ist, als würden alle um mich herum dieselbe Musik hören und intuitiv die richtigen Tanzschritte dazu machen, aber in meinem Kopf spielen drei Tracks gleichzeitig. Ich schaue mir die Tanzenden an und versuche, so gut ich kann, meine eigene Musik auszublenden, um aus den Bewegungen der anderen Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, die Schritte zu verinnerlichen und zu imitieren. Ich bin gut genug darin, um kaum aufzufallen. Aber es kostet Kraft.

Alkohol schenkte mir scheinbar Erleichterung von der ständigen Konzentration auf die Schritte der anderen. Er schliff die unförmigen Kanten, die aus meiner Persönlichkeit herausstanden und machte es leichter, in soziale Gefüge zu passen, in denen ich mich wie ein Fremdkörper fühlte. Er entließ mich kurzfristig aus der inneren Anspannung und der Überforderung mit dem Alltag. Als Jugendliche kostete es mich Kraft, in Klassenzimmern zu sitzen und meinen Fokus auf Dinge zu lenken, die mich nicht interessierten. Später prügelte ich mich durch Uni- und Arbeitstage, und wenn ich völlig erschöpft zuhause ankam, tat ich das, was einfach war: ich trank. Kurzfristig rückte die Scham über das Scheitern in den Hintergrund, mein Denken wurde unscharf, meine innere Musik wurde leise und dumpf. Das funktionierte gut. Sogar so gut, dass ich irgendwann nicht mehr wusste, wer ich eigentlich war. 

Langfristig ist es unheimlich anstrengend, das Leben von einer Person zu führen, die man nicht kennt. Man tappt im Dunkeln herum, probiert dieses oder jenes, aber es erscheint stets wie ein komischer Zufall, wenn man mal glücklich ist. Vielleicht orientiert man sich dabei an den gängigen Vorstellungen, was „Heilung“ bedeutet: Für Alkoholabhängige heißt das Ziel Abstinenz, um einem geregelten Leben nachgehen zu können und für ADHSler:innen heißt es Normalisierung, um einem geregelten Leben nachgehen zu können. Alkoholabhängige hören gute Ratschläge wie „Hör doch einfach auf“ und ADHSler:innen werden gefragt, ob sie schon mal eine To-Do Liste ausprobiert hätten. 

Natürlich ist es eine gute Idee, mit dem Trinken aufzuhören, wenn man ein Problem damit hat. Und natürlich sind To-Do-Listen sehr nützlich. Aber weder Abstinenz noch Selbstorganisation sind Selbstzweck. Sie sind nicht das Ziel – sie sind Teil des Weges, sich selbst kennenzulernen und schrittweise ein Leben zu bauen, das passt. Wir brauchen auch nicht einfach „Selbstliebe“ und dann ist alles gut. Es ist nämlich ziemlich schwierig, sich selbst zu lieben, während man in einem Leben steckt, in dem man eine Substanz als zweite Haut braucht oder die Tanzschritte anderer imitiert, statt die eigenen zu finden. Wir brauchen eine innere Revolution, die uns groß macht und die sich auf alle anderen Bereiche erstreckt: Wie wir Grenzen setzen, Beziehungen führen, arbeiten, abschalten, lieben und träumen. 

Denn das Andere kennen wir schon: uns klein zu machen, um ins eigene Leben hinein zu passen, die eigenen Ecken abzuschleifen, zu verleugnen oder zu verachten. Das ist es, was viele von uns krank gemacht hat.

Auch das Neue ist anstrengend, aber es ist eine Anstrengung, die uns weiterbringt. Hin zu einem Leben, in dessen Zentrum wir selbst stehen und in dem wir uns ernstnehmen. Kurz: Ein Leben in dem wir unsere eigene Musik wieder hören können.

Mika ist Co-Host des Sober-Podcast-SodaKlub, in dem sie mit ihrer Freundin Mia über die Abhängigkeit und das jetzt nüchterne Leben spricht. Ab und zu veröffentlicht sie dort auch Interviews zum Thema ADHS. Du kannst ihr auch auf Spotify und Instagram folgen.

Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

Autorin: Mika Döring

Spenden Illustration 1 100 sw 1

Jetzt DIEVERPEILTE supporten und mit dieser geilen Autorin anstoßen!

Folgt uns auf FacebookInstagram und Spotify.

Autor:innen

+ posts

DIEVERPEILTE ist eine Redaktion von Journalist:innen und Nichtjournalist:innen, die bei uns oder als Gastautor:innen arbeiten. Alle eint, dass sie guten jungen Journalismus machen wollen. Wenn du uns einen Text anbieten willst: info@dieverpeilte.de

2 Comments on “ADHS und Alkohol: Der Takt der anderen”

  1. Super geschrieben. Liest sich in einem Stück wirklich so runter. Seit einigen Monaten trinke ich nicht mehr und vermute nun seit einigen Wochen auch, dass ich ADHS haben könnte. Genau so, wie die Autorin es beschreibt fühlte sich der Alkohol-Konsum immer an. Das Gehirn Mal etwas runter fahren manchmal auch einfach, um schlafen zu können

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert