80,23 Prozent. Das ist der Anteil an Stimmen für Aljaksandr Lukashenka, der von den Staatsmedien am 9. August 2020 verkündet wurde. Über 80 Prozent sollen für einen Mann gestimmt haben, der als letzter Diktator Europas bekannt ist. Von demokratischen Wahlen war keine Spur. Die Proteste brachen aus, bevor die Urnen überhaupt geschlossen waren. Es waren die größten Proteste, die unter Lukashenka in 26 Jahren gesehen wurden. Die Bilder vermittelten eine revolutionäre Stimmung. Die Proteste hielten monatelang an. Und sie forderten ihre Opfer. Videos zeigen, wie Demonstrant:innen geprügelt, angeschossen und mit Wägen überfahren wurden. Mehrere starben. Und unzählige wurden verhaftet – an einem Tag sogar über Tausend.
Die Unruhen wurden erfolgreich unterdrückt, Lukashenka ist immer noch an der Macht. Doch die Menschen kämpfen weiter. So auch Regisseurin Dasha Brian und Produzentin Masha Kruk. Jedoch nicht von Belarus aus. Wie so viele flohen sie nach Polen, da sie in Belarus verfolgt werden würden. Jeden Monat veröffentlichen sie unter Art Project Revolution nun in Warschau ein kurzes Video im Rahmen einer Ausstellung. In der Galerie, wo sie ihr letztes Video zeigten, spreche ich mit ihnen über ihre Geschichte, ihre Revolution und ihr Leben im Exil.
DIEVPERPEILTE: Wie habt ihr euch kennengelernt?
Dasha: Wir haben uns zum ersten Mal 2020 bei den Protesten getroffen. Aber nur sehr kurz. Zwei oder drei Wochen später wurde ich dann gefragt, ob ich bei einem Videoprojekt in Minsk als Regisseurin mitmachen möchte – auch gegen die Regierung. Und als der Leiter des Projekts mich der Produzentin vorstellen wollte, kam Masha in den Raum. Es war, als ob das Schicksal uns zusammengeführt hätte. Der Film, den wir drehten, wurde später als unser erster gemeinsamer Film in Warschau veröffentlicht. Wir beendeten also die Dreharbeiten und am nächsten Tag kam die Riot Police zu Mashas Haus, um sie festzunehmen.
Masha: Die Verhaftung hatte nichts mit unseren Dreharbeiten zu tun. In dieser Zeit habe ich für das Internationale Komitee für die Untersuchung von Folter ein Interview mit politisch unterdrückten Menschen geführt, die im Gefängnis gesessen hatten. Außerdem habe ich auf verschiedenen Social-Media-Plattformen Nachrichten gegen Gewalt verschickt. Die Polizei wurde bei Telegram und Instagram auf mich aufmerksam, verfolgte meine Kontakte und fand den Ort, an dem ich lebte. Als sie mir dann mein Telefon abnahmen, fanden sie die Daten vom Dreh. Alles führte zusammen. Es war eine Katastrophe, sie fanden viele Kontakte, auch den von Dasha. Danach war es für mein Team zu gefährlich.
Dasha: Ich musste im Prinzip das Land verlassen. Wir waren alle in verschiedenen Bereichen politisch aktiv. Wie Masha schon gesagt hat, machte sie diesen Job als Freiwillige. Ich machte Ausstellungen und einige Performances während der Proteste und auch der Leiter des Projekts war gegen die Regierung aktiv. Als wir zusammenkamen, bestand also die Möglichkeit, dass jemand verhaftet wurde, nicht wegen des Films, sondern wegen unserer früheren Aktivitäten. Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre das nicht so gefährlich gewesen. Aber direkt nach den Dreharbeiten löscht man eben nicht alles, was auf dem Handy ist, und als sie Masha verhafteten, fanden sie leicht alle unsere Informationen – Kontakte, Chats, im Grunde alles, was sie brauchten.
Wann war das?
Masha: Das war in den letzten Novembertagen 2020. Ich war vom 27. in der Früh bis zum 1. Dezember im Gefängnis, dann war ich mit meinem Anwalt vor Gericht.
Dasha: Es war wie ein Wunder: Er schaffte es, die Gerichtsverhandlung mit Mascha zu verschieben, sodass sie die Akte erst mal schlossen und sie frei ließen, was zu dieser Zeit fast nie passierte. Normalerweise hören sie dir nicht einmal zu. Wenn sie dich festnehmen, heißt das, dass du schuldig bist. Egal, was du getan oder nicht getan hast.
Aber du warst trotzdem schon in Warschau.
Dasha: Wir hatten keinen Kontakt zu Masha und wussten nicht, warum genau sie verhaftet wurde. Und wegen des Zeitpunkts vermuteten wir, dass es wahrscheinlich wegen des Drehs war, also musste ich aus dem Land fliehen. Wir glaubten nicht an eine Chance, damit durchzukommen. Ich nahm die Videos mit und verließ Belarus. Mascha blieb noch bis Juli.
Masha: Ich habe meine Heimatstadt besucht und meine Mutter. Ich war frei, aber es war gefährlich. Im Juni passierte es wieder, sie eröffneten ein neues Strafverfahren, absolut ohne Grund. Es war Terrorismus. Sie riefen mich an und sagten, dass sie in meiner Heimatstadt auf mich warteten und, dass meine Mutter Zeugin sei, also war es auch für sie gefährlich. Ich verließ Belarus innerhalb von drei Tagen. Zuerst für zwei Monate nach Kyiv und Ende August kam ich nach Warschau.
Bist du wegen Dasha nach Warschau gegangen?
Masha: Ja, es fühlte sich an, als wäre es mein Schicksal. Ich hatte nicht das Gefühl, dass Kyiv mein Platz war – zum Leben, für die Revolution, um zu arbeiten. In Warschau gab es eine starke Diaspora von belarussischen Aktivist:innen. Erst dann erinnerte ich mich an Dashas Geschichte. Also schrieb ich ihr, dass ich entschieden hatte, nach Warschau zu kommen und sie hat mich wirklich unterstützt – mit meiner Wohnung, mit dem Transport, mit dem Flug. Dann haben wir uns auf dem Warschauer Flughafen wiedergetroffen. (sie lächeln sich gegenseitig an)
Wart ihr schon immer politisch? Oder kam das erst im Jahr 2020, als die Wahlen anfingen?
Dasha: Ich bin nicht sehr stolz darauf, aber ich war früher kein politischer Mensch. Als ich in Belarus aufgewachsen bin, wusste ich immer, dass ich das Land verlassen muss, wenn ich Kunst machen möchte. Wegen der Repressionen und der politischen Situation konnte ich in Belarus nicht frei arbeiten. Deshalb war es mir im Grunde egal, was dort vor sich ging. Ich hatte nicht das Gefühl, dass es meine Heimat war und, dass die politische Situation mein Leben irgendwie beeinflussen würde. Also zog ich nach Berlin und jedes Mal, wenn ich nach Belarus zurückkam, fühlte ich mich noch mehr unter Druck gesetzt. Selbst wenn man etwas tut, das nicht direkt mit Politik zu tun hat, hat man immer noch die Angst, dass sie etwas Politisches darin finden könnten und man verhaftet wird. Jedes Mal, wenn ich zurückkam, hatte ich das Gefühl, im Gefängnis zu sein. Das ganze Land fühlte sich wie ein Gefängnis an.
Das heißt, du wolltest im Ausland bleiben?
Dasha: 2020 habe ich mich an der Filmuniversität Babelsberg für Regie beworben. Ich bin nur kurz zurückgekommen, um meine Eltern zu besuchen und dann kam Covid. Ich wurde in Babelsberg angenommen, aber sie haben mich nicht aus Belarus rausgelassen. Es war nicht einmal die deutsche Botschaft geöffnet und die Leute in Babelsberg sagten mir, dass sie mir nicht helfen könnten.
Wie war es, in Belarus festzusitzen?
Dasha: Wegen Covid haben viele Menschen, darunter auch ich, gesehen, wie die Regierung auf eine solche Situation reagiert und dass ihnen die Menschen wirklich egal sind. Dann kamen die Wahlen und es gab diesen einen Kandidaten, Wiktar Babaryka. Er war derjenige, der immer Künstler:innen unterstützt hatte. Er brachte Kunstwerke belarussischer Künstler:innen aus der ganzen Welt zurück und gab sie in ein Museum, damit die Menschen sie sehen konnten. Meinen ersten Film als Regisseurin habe ich dank ihm gedreht. Er mietete einen großen Hangar, in dem wir kostenlos drehen konnten. Als er dann sagte, dass er für das Amt des Präsidenten kandidieren wolle, glaubte ich, dass sich mit diesem Mann alles ändern könnte. Ich fing an, mich politisch zu engagieren, und wenn man das tut, versteht man wirklich, wie die Politik alles im eigenen Leben beeinflusst. Absolut alles.
Wie meinst du das?
Dasha: Vor ein paar Jahren hätte ich mir vielleicht noch selbst die Schuld gegeben, wenn ich nicht genug Geld für ein Auslandsstudium hatte. Aber dann habe ich gesehen, dass es nicht daran lag, dass ich nicht hart genug gearbeitet habe, sondern daran, dass das Finanzsystem in Belarus so beschissen ist, dass man im Grunde nicht mehr Geld verdienen kann. Ich begann, alles sehr klar zu sehen. Und wenn man einmal politisch ist, geht man nie wieder zurück (lacht).
Das ist wahr. Und ich denke, es ist nichts, wofür man sich schämen muss, wenn man nicht immer politisch war. Als ich in der Schule war, hatte ich eine politische Meinung, die ich heute überhaupt nicht teile, aber es ist immer ein Prozess.
Dasha: Ich glaube, das Wichtigste ist, dass man irgendwann anfängt, sich dafür zu interessieren, und dass man versteht, wie es das eigene Leben beeinflusst. Dass man nicht einfach die Augen schließen und so tun kann, als ob nichts passiert. In Belarus ist es schwieriger, weil es sehr gefährlich wird, wenn man anfängt, politisch zu sein – was normalerweise bedeutet, dass man gegen die Regierung ist. Ich glaube, wir sind auch deshalb so lange davongekommen, weil wir Frauen sind. Lukashenka hasst Frauen so sehr, dass er sie nicht einmal als Gefahr wahrgenommen hat. Selbst als Tichanovskaja Präsidentschaftskandidatin wurde.
Lukashenkas Frauenfeindlichkeit ist also richtig nach hinten losgegangen.
Dasha: Ich habe mit meinen Freund:innen gescherzt, dass Lukaschenko das Beste für den Feminismus in Belarus getan hat. Natürlich wurden Frauen inhaftiert und Frauen wurden im Gefängnis gefoltert, aber im Verhältnis nicht so viele wie Männer. Die Regierung hat nur sehr langsam begriffen, dass Frauen sogar noch gefährlicher sein können als Männer. Tatsächlich würde ich sagen, dass die belarussische Revolution ein weibliches Gesicht hatte. Bei den Protesten waren es vor allem Frauen, die dort standen und versuchten, gegen die Riot Police zu kämpfen. Für mich war das sehr feministisch.
Ist davon auch etwas geblieben?
Dasha: Die Tatsache, dass die Mehrheit der Menschen Zichanouskaja [oft auch Tichanovskaja, Anm. d. Red.] unterstützt, sagt schon eine Menge aus. Natürlich haben wir in dieser Richtung noch viel Arbeit vor uns, aber trotzdem, ein gewisses Stigma begann zu verschwinden. Die Menschen glauben daran, dass eine Frau Präsidentin und eine gute Führungspersönlichkeit für das Land sein kann. Was sie jetzt für Belarus tut, hat Lukashenka in seinen 27 Jahren nicht einmal zu drei Prozent geschafft. Wie schrecklich die Situation in Belarus momentan auch sein mag, sie hat zur Entwicklung des Landes beigetragen. Vielleicht nur ein paar Schritte in die Zukunft, aber wir haben sie gemacht.
Es ist ein sehr starkes Bild: Lukashenka, der Unterdrücker eines ganzen Landes, gegen Zichanouskaja, die den Weg nach vorne zeigt. Ich muss sagen, ich war überrascht, eine junge Frau als seine Gegnerin zu sehen.
Masha: Ja, das war sehr überraschend. Nachdem in den ersten Tagen viele Männer gefangen genommen und im Gefängnis gefoltert wurden…
Dasha: … ich denke, dass jede Frau, zumindest ich und viele meiner Freundinnen, die Kraft verspürten, sich zu wehren. Ich erinnere mich, wie wir Männer verteidigt haben, wie wir mit der Riot Police gekämpft haben, um einen Mann gehen zu lassen. Und irgendwann hat es wirklich funktioniert… Es geht auch um Feminismus. Darum, dass die Menschen ihre Stärke zeigen. Ein Symbol des Protests ist dieses sehr berühmte Gemälde von Soutine, einem belarussischen Maler, das eine Frau zeigt, die gerade steht und mit einem starken Gesicht nach vorne schaut.
Masha: Wie Zichanouskaja. Wir haben es als Symbol in unserem zweiten Film verwendet.
Richten sich eure Videos eher an Leute, die hier sein und es sich ansehen können, oder an Leute in Belarus?
Dasha: Leider geht es im Moment mehr darum, Wissen über die Situation zu verbreiten, als den Menschen in Belarus vor Ort zu helfen. Wir versuchen, Wege zu finden, wie wir es in Belarus zeigen können, aber das ist sehr schwierig. Mit einem Projektor bleibt man leicht stecken und kann festgenommen werden. Wir hoffen wirklich, dass uns bald etwas einfällt, wie wir uns mit der Regierung anlegen können, ohne das Leben und die Freiheit anderer Menschen zu riskieren.
Masha: Aber auch in Warschau gibt es eine große Gemeinschaft von Menschen aus Belarus, die unterdrückt werden. Es ist sogar eine internationale Gemeinschaft. Diese Menschen unterstützen uns. Unsere Postproduktion ist in Belarus, wir haben ein Team aus der Ukraine, eines aus Russland und Leute aus Polen. Es ist eine unserer Missionen, mit diesem Projekt, Menschen zu verbinden, die an Freiheit, Demokratie und Frieden glauben. Ich denke, wenn wir hier leben, sollten wir auch etwas für die Menschen tun, die hier leben. Das ist jetzt leichter möglich. Die Menschen, die in Belarus leben, haben Angst. Sie glauben nicht an etwas Besseres.
Dasha: Einige der anderen glauben wahrscheinlich schon daran, aber sie haben zu viel Angst, etwas zu unternehmen. Das Problem der Revolution ist, dass es entweder alle oder keiner ist. Am Anfang, im Jahr 2020, waren wir stark, weil wir sehr groß waren. Wenn wir alle zusammen waren, konnte die Riot Police nicht viel gegen uns ausrichten. Aber die Regierung hat natürlich versucht, uns Angst zu machen. Und mehr und mehr Leute beschlossen, zu Hause zu bleiben. Also wurden Leute, die sehr aktiv waren, verhaftet.
Sie wurden ein leichteres Ziel.
Masha: Es ist verrückt. Auch mein Anwalt. Er ist wirklich unglaublich, er hat die Freiheit in seinem Herzen und er ist so gut in seinem Fach. Und jetzt ist er selbst im Gefängnis. All die Menschen, die an die Freiheit glauben, sind jetzt im Gefängnis. Meiner Meinung nach ist das größte Problem unserer Revolution… Dasha übersetzt: „Zu Beginn der Revolution sind wir schon auf die Straße gegangen, um den Sieg zu feiern, weil wir wussten, dass Zichanouskaja gewonnen hat. Aber wir hätten wahrscheinlich hingehen sollen, um zu kämpfen. Wir sahen es nicht als Kampf, wir sahen es nicht als Krieg, wir sahen es schon als ein Fest.“
Dasha: Jetzt ist es schwer zu diskutieren, was wir hätten tun können, damit es funktioniert hätte. Vielleicht sind nicht alle Belaruss:innen bereit für die Freiheit. Vielleicht fürchten sich einige von ihnen zu sehr. Wenn man 27 Jahre lang etwas Stabiles hatte, etwas Schreckliches, aber Stabiles, könnte man Angst vor etwas Neuem haben. Selbst wenn es auf lange Sicht besser wäre. Ich bin 26 und habe Belarus noch nie ohne Lukashenka gesehen.
Und es ist ja nicht so, dass vor Lukashenka alles frei und demokratisch gewesen wäre. Wenn man also in dieser Welt aufgewachsen ist, braucht man viel mehr Kraft und Energie, um aus dieser Mentalität herauszukommen.
Masha: In unserer Generation sind wir sehr weltoffen. Wir wollen sehen, wie Belarus ohne Lukashenka aussehen würde. Wir wollen unsere eigene Realität, unser eigenes Land aufbauen. Vielleicht ist es ein wichtiger Prozess für uns, das über Freiheit zu verstehen: Es sind keine Blumen, es ist Krieg. Vielleicht war es richtig, wie es gelaufen ist. Es ist ein Teil unserer Geschichte. Am Anfang bin ich in einem weißen Kleid zu den Treffen gegangen. Ich dachte, dass ich mit meinen Blumen diese Menschen, die Leute umbringen, verändern könnte. Das ist sehr naiv, aber wir mögen die Menschen. Die Welt denkt jetzt, dass wir so friedlich sind, aber das spielt keine Rolle, denn wir haben verloren.
Als du 2020 bei diesen Treffen warst, hattest du etwas Neues, etwas Schönes im Sinn, aber du wusstest nicht, wie sehr es sich um einen Krieg handelte?
Masha: Ja, wir glaubten an etwas Besseres.
Dasha: Es war kein Krieg für die Belaruss:innen. Es war ein Krieg für die Riot Police, und so gab es zwei verschiedene Dynamiken. Von Anfang bis Ende gab es keine Aggression von Seiten der Bürger:innen. Aber es gab eine Menge Gewalt von Seiten der Riot Police. Verstehst du? Wir versuchten, nach dem Gesetz zu handeln, während die Regierung ständig das Gesetz brach. Wenn es ein Gericht gäbe, könnte man den Bürger:innen nicht vorwerfen, dass sie etwas gestartet hätten. Wir haben uns an die Regeln gehalten. Und du kannst sehen, wie die Riot Police und die Regierung sich geweigert haben, die von ihnen geschaffenen Regeln zu beachten. In einer Welt des Rechts haben sie verloren. Aber in der Welt der Revolution und unseres Weges zur Freiheit, in der Realität, haben sie gewonnen …diese Schlacht. Ich glaube immer noch, dass das nicht das Ende ist. Die Menschen haben sich verändert und viele sind gegangen. Auch durch den Krieg in der Ukraine haben viele Menschen das Problem erkannt. Selbst wenn sie im Jahr 2020 die Situation geleugnet haben, wird es jetzt immer schwieriger zu leugnen, was in diesem Land wirklich vor sich geht. Die Menschen haben ihre Meinung geändert und davon gibt es keinen Weg zurück.

Was würde passieren, wenn Lukashenka einfach weg wäre?
Dasha: Das Problem ist nicht nur Lukashenka. Es ist sehr einfach, ein Übel zu sehen und zu sagen: „Das ist deine Schuld. Wenn du weg wärst, wäre alles anders.“ Aber in Wirklichkeit ist es nicht so. Lukashenka ist ein Arschloch. Aber er ist nicht das einzige Problem. Als die Riot Police Belaruss:innen tötete, ermordete und vergewaltigte, stand Lukashenka nicht daneben und bat sie, das zu tun. Sie taten es einfach, weil sie es konnten. Mit den russischen Soldat:innen ist es das Gleiche. Putin hat die Kinder nicht vergewaltigt, Putin hat keine Häuser niedergebrannt. Es sind Menschen, die das getan haben. Es ist also leider nicht nur eine Person, sondern eine Menge Leute, und sie alle müssen dafür bestraft werden.
Es wirkt alles zusammen. Es gibt dieses ganze System, auch im Kopf, das man bekämpfen muss. Auf der einen Seite die brutalen Soldat:innen, die die Drecksarbeit machen, und auf der anderen Seite die Menschen, die sich nicht sicher genug sind oder zu viel Angst haben, um etwas dagegen zu unternehmen.
Dasha: Manche Leute halten das für falsch, aber ich glaube, dass wir für all die schlimmen Dinge, die passieren, irgendwie mitverantwortlich sind. Denn irgendwann haben wir es geschehen lassen. Ich sage nicht, dass wir nicht dagegen gekämpft haben, und ich sage auch nicht, dass wir nichts getan haben, vor allem in 2020. Aber wenn man sich das große Bild anschaut, dann hat es 27 Jahre lang stattgefunden. Im Grunde haben die Menschen das sehr lange zugelassen. Ich glaube nicht, dass man uns die Schuld dafür geben sollte, aber ich habe das Gefühl, dass das Problem darin besteht, dass einige Leute die Verantwortung leugnen und sie einfach Lukashenka in die Schuhe schieben wollen.
Weg von sich selbst…
Dasha: Aber ich glaube, genau das ist das Problem. Wenn man begreift, dass es auch einen Teil von einem gibt, der irgendwann etwas nicht getan hat, dann ist man motivierter, diesen Fehler zu korrigieren. Wenn auch nur mit kleinen Dingen. Ich finde, es ist sehr wichtig, die Tatsache zu akzeptieren, dass auch du irgendwann in der Geschichte Mist gebaut hast. Und etwas, das man nicht getan hat, hat auch zu der Katastrophe geführt.
Ich denke, der Moment, in dem man einen Teil der Verantwortung übernimmt, ist auch der Punkt, an dem man tatsächlich in das Feld eintritt, wo man auf das System einwirken kann, indem man sich daran beteiligt. Wie denkt ihr können eure Filme dazu beitragen?
Dasha: Wir arbeiten mit experimentellem Film. Unser Hauptziel ist es also, Emotionen zu vermitteln. Ich weiß, dass viele Leute in Belarus unsere Videos nicht sehen können, weil sie sagen, dass sie ihnen keine schönen Gefühle vermitteln. Dass sie sie noch mehr in dieses tiefe Loch der Traurigkeit und Leere stoßen. Dass es kein Licht, keine Hoffnung in unseren Filmen gibt. Normalerweise kommentieren die Leute den vierten Film, mit dem perfekten Bürger. Sie sagen uns, dass wir sie in eine sehr unangenehme Situation bringen. Mit all diesen Geräuschen, mit all diesen Bildern.
Woher kommen diese Emotionen?
Dasha: Als wir den ersten Film im Jahr 2020 drehten, hatte er ein anderes Ende. Damals glaubte ich an den Sieg. Ich dachte mir: „Nur noch ein paar Monate, ein paar Wochen und wir werden gewinnen.“ Aber später habe ich es geändert und zu Masha gesagt: „Ich kann kein Licht zeigen, wenn es kein Licht gibt. Ich kann keine Hoffnung zeigen, wenn es keine Hoffnung gibt. Ich werde diese Dinge zeigen, wenn wir diese Dinge haben.“ Wir zeigen die Gefühle, die wir gerade empfinden.
Ich hatte das Gefühl, dass eure Filme sehr ehrlich sind. Wenn ich ein Happy End gesehen hätte, hätte ich einen falschen Eindruck bekommen und besonders für die Menschen im Ausland ist es wichtig, diese Transparenz zu haben. Vielleicht kann man auf diese Weise am meisten erreichen, wenn man die ehrlichste Darstellung hat.
Dasha: Das ist es, was wir versuchen zu tun. Man sieht diese Verbindung zur Realität. Die Arbeiten von Künstler:innen, die in sehr schlechten Verhältnissen leben. Die unterdrückt werden, die aus ihrer Heimat fliehen mussten oder im Gefängnis sitzen.
Wie hat sich euer Leben und Eure Arbeit verändert, jetzt, wo ihr in Polen lebt?
Masha: Es hat sich viel verändert (seufzt). Jetzt bin ich enttäuscht, wirklich. Nach einem Jahr von Migration sehe ich die Welt, Belarus und die lokale Diaspora mit anderen Augen. Es war meine Entscheidung, gegen die Gewalt zu kämpfen. Und jetzt habe ich das Gefühl, dass wir unser Projekt, unsere Kunst darauf konzentrieren sollten. Für uns ist das die Wahrheit und wir haben viele Menschen, die uns unterstützen, die denselben Standpunkt vertreten. Wir wollen in dem, was wir tun, ehrlich bleiben. Wir wollen in der Revolution klarer sein.
Dasha: Ich weiß es nicht, für mich war es sehr schnell. Auf so etwas ist man nie vorbereitet. Normalerweise, wenn man in ein anderes Land zieht, ist man irgendwie vorbereitet. Man hat Geld, man hat einen Job in Aussicht… Als ich wegging, wusste ich nicht einmal, für wie lange. Ich hatte nur einen Koffer, der am Ende völlig nutzlos war (lacht). Und ich musste alles von Null an lernen – ich konnte kein Polnisch, ich hatte keinen Plan, ich war von allem getrennt, was ich hatte, ohne richtige Perspektive für die nahe Zukunft. Ich musste mir eine Wohnung suchen, als ich schon am Flughafen war. Also auf die Art eine nicht geplante Situation. Und das Schwierigste ist, dass man lernen muss, wie man lebt, wenn man keine Freund:innen hat, wenn man keine Unterstützung hat. Man muss lernen, unter diesen neuen Bedingungen zu leben, in die man gebracht wurde.
Wie fühlst du dich, wenn du an Belarus denkst?
Dasha: Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich die Menschen in Belarus verraten habe, obwohl ich weiß, dass ich alles getan habe, was in meiner Macht stand, um zu helfen. Ich tue das immer noch, ich habe nie aufgehört zu kämpfen, aber man hat trotzdem dieses Gefühl. Und wegen all dieser verrückten Dinge, die in Belarus passieren, habe ich manchmal das Gefühl, kein Zuhause mehr zu haben, keinen Ort, an den ich gehen kann. Selbst als ich in Deutschland war, war es sehr schön, zu wissen, dass ich nach Belarus zurückkehren kann, weißt du? Nur für drei Tage. Auch wenn ich dort nicht leben will, kann ich zurückkommen und mich irgendwie zu Hause fühlen. Jetzt habe ich dieses Gefühl nicht mehr. Weil ich die Gefahr spüre.
Masha: Der Krieg hat viele schlechte Emotionen und Veränderungen in der Psyche mit sich gebracht. Denn wir haben das globale Problem verstanden, und Belarus gehört dazu. Nach unserem großen Kampf [im Jahr 2020, Anm. d. Red.] wurden wir Teil des Aggressors. Das ist so verrückt.
Dasha: Jetzt sind wir näher denn je dran, Teil Russlands zu werden, was für mich keine Option ist. Wir könnten das Land im Grunde für immer verlieren (Mascha atmet ein). Und du weißt, dass du gelitten hast. Ich bereue keine meiner Entscheidungen, ich halte sie immer noch für richtig, aber manchmal ist es schwer. Manchmal habe ich das Gefühl, dass es einfacher wäre, dort zu bleiben und einfach das Leben zu leben.
Masha: Als ich im Gefängnis war, war spielte mein Kopf am zweiten Tag völlig verrückt. Man ist allein mit Fremden, vielleicht mit Leuten, die ein Problem mit Alkohol, mit Drogen, mit dem Gesetz haben, und du liegst auf dem Bett und fragst dich: „War es eine gute Entscheidung, an der Revolution teilzunehmen oder nicht?“ Dann sagte ich zu mir selbst: „Stopp. Stopp. Stopp. Kalesnikava ist nun schon seit einem Monat im Gefängnis. Masha, du musst wieder zu Verstand kommen. Es wird alles okay. Wir kämpfen für die richtigen Dinge. Du kämpfst gegen das Böse. Es spielt keine Rolle, ob es die Regierung ist, die Menschen, die Anwälte, es ist nicht wichtig. Du kämpfst gegen das Böse.“ Und danach fühlte ich mich besser.
Ist es das, was euch immer noch Kraft gibt?
Dasha: Manchmal muss man – wie Dumbledore einmal sagte (lacht) – wählen zwischen dem, was richtig ist, und dem, was einfach ist, und ich finde es gut, dass wir uns immer noch dafür entscheiden, für die richtigen Dinge zu kämpfen. Am Ende will ich mich als Person mögen. Es wäre das Schlimmste, wenn ich aufhören würde, mich selbst zu mögen. Ich würde nicht mehr mit mir selbst leben wollen.
Das ist genau, was Hannah Arendt gesagt hat. Letztendlich muss man mit sich selbst leben und diesem Anspruch sollte man gerecht werden.
Dasha: Für mich ist das eine größere Frage als Freiheit oder Belarus oder die Unabhängigkeit des Landes. Ich mag es, für Dinge zu kämpfen. Ich kämpfe gerne für mein Glück, für die Liebe, im Grunde für alles. Dies ist nur ein weiterer Kampf für mich. Und das ist das Leben nun einmal.
Die Videos von Art Project Revolution findet ihr auf YouTube und Instagram. Ihr könnt Dasha und Masha auch auf Instagram folgen.
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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Autor:innen
War bis November 2022 Redakteurin bei DIEVERPEILTE. Hat Wirtschafts- und
Sozialwissenschaften in Wien studiert und befindet sich aktuell im
Philosophiestudium. Themenschwerpunkte sind Gesellschaft, Wirtschaft und
Poltik.