«Mein Vater lehrte uns immer, wenn wir unsere eigenen Wurzeln nicht akzeptieren, kennen und lieben lernen, werden wir eine andere Kultur nie leben können», erzählt mir Aferdita, die ich am Tag zuvor am Strand kennenlernte. Sie lebt in der Schweiz, ihre Eltern stammen aus dem Kosovo, weshalb sie einmal jährlich zurück in ihre Heimat fahren und seit kurzem ihren Strandurlaub hier in Albanien verbringen. Es ist 15 Uhr. Meine Füße sind nackt und ich spüre den warmen Sand unter ihnen. Um mich herum ist überall türkisblaues Meerwasser am Strand von Rana e Hedhun. Mein Blick ist auf die albanischen Alpen gerichtet, während ich mir eine Zigarette drehe. Ich bin Musikjournalistin. Das UNUM-Festival in Shengjin buchte mich über meinen Arbeitgeber, damit ich über meine – selbstverständlich positiv ausfallenden – Erlebnisse berichte.

Mein Schädel dröhnt vom Abend zuvor. «Scheiße», erwidere ich auf Ditas Frage, wie es mir heute geht. Ich bin kurz davor, meinen Job an den Nagel zu hängen. Ich befinde mich in einer Welt, in der ich nicht sein möchte. Die vielen Technopartys hinterlassen ihre Spuren und ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Früher dachte ich, als Journalistin lebe ich meinen Traum von Freiheit. Mein letzter Funke von Naivität stirbt hier auf der Pressereise. Es ist die falsche Branche, in der ich mich bewege. Die Musik ist teilweise so grauenhaft, dass wir flüchten müssen. Als wir den Strand verlassen und uns auf den Weg zur nächsten Stage machen, suche ich eines der sparsam aufgestellten Dixi-Klos auf. «Ach du Scheiße!», kommt es mir wortwörtlich hoch. Alles vollgeschissen. Die anderen Kabinen sind ebenfalls unbenutzbar, ich müsste schon eine Akrobatin sein, um nichts zu berühren. Also beschließe ich einen abgelegenen Busch aufzusuchen.

Wir erreichen den Floor, der nun immerhin mit innovativer Musik bespielt wird. «Es war nicht immer so, dass so viel Zeit und Geld in albanische Künstler gesteckt wird, um sie zu fördern. Früher musste man einen Beruf ausüben, der Geld einbringt. Was bei Kunst sehr schwer einzuschätzen ist», antwortet die 29-Jährige auf meine Frage, wie es um die albanische Musikszene steht.

Mittlerweile ist es Mitternacht. Der Pinienwald, in dem wir uns befinden, erstrahlt nun in rotem Scheinwerferlicht. Ich fühle mich wie in einem Märchenwald. Neben den wenigen Locals stehen hauptsächlich kommerzielle Künstler auf dem Line-Up. «Hast du das gesehen?», frage ich sie fassungslos, als sich der Headliner eine Pille vor versammelter Menge von seinem Manager in den Mund schieben lässt. Sie nickt.

Realität ist hier leider ein unwillkommener Gast. Doch in Wahrheit wissen alle, was passiert, wenn wie hier rund 8000 Menschen im Rausch aufeinandertreffen. Dabei ist Alkohol nicht die einzige Droge, die umhergeht. Meine neugewonnene Freundin schaut mich mit ihren hellblauen Augen an, als sie schockiert von ihrer Begegnung am Morgen berichtet: «Beim Spazierengehen lernte ich den Gärtner kennen. Er war total verwirrt, als ich ihn nach seinem Tag fragte. Bei Tagesanbruch fand er eine nackte Frau alleine am Strand liegen. Bewusstlos». Ich bin nicht überrascht, als sie mir von der vermeintlichen Vergewaltigung erzählt. Bei Nacht bietet der Strand ausreichend Schutz, den Tiere nun mal brauchen, um ihr Fleisch auseinanderzureißen. Dabei scheuen die Securitys keine Mühe, eine Zigarette nach der anderen am Eingang zu rauchen.

Trotz der Umstände war meine Reise nach Albanien ein einzigartiges Erlebnis. Mit Aferditas Hilfe bekam ich einen realistischen und zugleich wundervollen Einblick in Albaniens Kultur und gewann eine vertrauenswürdige Seele fürs Leben. Das nächste Mal werde ich hier auch einen ganz normalen Strandurlaub verbringen.

Foto: romanianclubculture

 

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Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.

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