Normalerweise ist es ziemlich unspektakulär, wenn ich jemanden darum bitte, sich etwas vorzustellen. Wenn diese Person jedoch mit einem „kann ich nicht“ antwortet, sieht das Ganze wieder anders aus. Manchmal frage ich mich, wie es in anderen Köpfen aussieht – jetzt bin ich 28 Jahre und erfahre von meiner Freundin Lilly, dass manche Menschen kein Bild im Kopf haben. Hä?
Im Gespräch erzählt sie mir, wie das so ist, wenn man unter Aphantasie leidet.
Hey Lil! Was können wir uns unter der Krankheit vorstellen, die du da hast?
Aphantasie bedeutet, dass man, sobald man seine Augen schließt, nichts sehen kann – oder auch „Blind Inside“. Das Thema ist noch nicht lang im Umlauf, deshalb gibt es dazu auch nicht viele Studien, die das belegen. Man weiß nicht mal genau, wie viele Menschen darunter leiden, also über kein inneres Sehvermögen verfügen – weil man das Thema normalerweise nicht anspricht. Oder gehst willkürlich auf Menschen zu und fragst sie, was sie sehen, sobald sie ihre Augen zu machen?
Bisher nicht. Wie hast du das rausgefunden?
Das war im April, als mir ein Freund die Instagram-Story von Bonnie Strange zugeschickt hatte. Darin sprach sie das Thema an und erzählte, dass sie davon betroffen ist. Im Anschluss habe ich mir die Story angeschaut. Am Anfang klickte ich nur durch, doch bei einem Punkt wurde ich hellhörig, wo ich dachte, huch, das habe ich doch auch. Also spulte ich zurück, um die Story erneut anzuschauen. Danach recherchierte ich im Internet und kam zu dem Entschluss, dass ich auch eine Aphantasie habe.
Das ist alles?
Nein! Damals kursierten Bilder mit einem roten Stern im Netz, die man beispielsweise anderen Leuten zeigen konnte, um herauszufinden, was sie sehen, wenn sie die Augen schließen. Auf dem Bild sind sechs Formen eines Sterns zu sehen: Stark, von leuchtend rot bis hin zu einem schwarzen Bild. Als Nächstes sollte man auf der Skala angeben, welches Bild man selbst gesehen hat. Wenn ich meine Augen schließe, habe ich ein schwarzes Bild im Kopf, meine Eltern wiederum sahen den leuchtend roten Stern. Ich hielt das Ganze für einen schlechten Scherz. Ich meine, das kann doch nicht sein, dass man Bilder sieht, wenn man seine Augen schließt. Und so fand ich heraus, dass ich zu den Betroffenen gehöre.
Du hast also gar nichts gesehen – weder Form noch Farbe?
Nada. Wenn ich meine Augen zu mache, ist alles schwarz. Was nicht heißt, dass ich mir Dinge nicht vorstellen kann. Wenn mich jemand dazu auffordert, die Augen zu schließen und an einen Strand zu denken, weiß ich, wie der Strand aussieht, nur sehen kann ich ihn nicht.
Wie hast du dich in dem Moment gefühlt, als du davon erfahren hast?
Meine allererste Reaktion war, dass ich anfing zu weinen. Ich fühlte mich total schlecht, weil ich das Gefühl hatte, in meinem eigenen Kopf eingesperrt zu sein; dass mir etwas fehlt und ich zuvor noch nicht mal wusste, dass es das gibt. Und auch als ich mit anderen Menschen darüber gesprochen hatte, erzählten sie mir, dass sie dich bei Klassenarbeiten daran erinnern, auf welcher Seite die jeweilige Information stand, sie sehen es einfach bildlich vor sich. Ich dachte mir dann nur okay, das hätte mir auch weitergeholfen.
Das heißt, wenn du eine Prüfung schreibst und dir die Aufgaben anschaust, hast du keine Ahnung, wo du diese zuvor gesehen hast?
Ja. Es sind halt so Kleinigkeiten, die man dadurch erfährt. Natürlich behindert das nicht mein Leben, alleine die Tatsache, dass ich das erst mit 20 rausgefunden habe, zeigt, dass es sich dabei um keine überlebensnotwendige Fähigkeit handelt. Aber es wäre leichter gewesen, vor allem zu wissen, dass andere Menschen etwas sehen können und ich nicht.
Inwiefern leichter?
Ich denke, dass Lernen einfacher gewesen wäre; ich muss alles auswendig lernen.
Ja gut, aber andere Menschen müssen das ja auch.
Ich glaube nicht, dass sich jeder so schwertut damit wie jemand, der unter Aphantasie leidet.
Vielleicht …
Einfach so kleine Alltagshilfen. Auch Sprichwörter wie „mach die Augen zu und zähl die Schafe vor dem Einschlafen“ oder „“Ich habe so ein Kopfkino“. Ich dachte, dass das Redewendungen sind, ohne etwas dahinter. Oder wenn mir jemand zu mir sagt „Ich bekomm das Bild nicht mehr aus dem Kopf“, ich hätte nicht gedacht, dass Menschen dabei wirklich Bilder sehen.
Du hast die letzten drei Jahre in Wien gewohnt. Wie war das mit dem Terroranschlag, da waren einige verstörende Bilder im Umlauf – auf die Redewendung bezogen, wie ist das bei dir?
Ich erinnere mich an die Fotos, aber ich muss auch sagen, dass es für mich schwer zu beschreiben ist für Menschen, die nicht unter Aphantasie leiden. Ich sehe kein Bild dazu. Woran ich noch gemerkt habe, dass die Symptome auf mich zutreffen, ist, dass ich mir nie merken kann, welche Augenfarbe die Menschen haben. Ich habe kein Bild von den Personen im Kopf.
Ist bei mir auch so und an Augenfarben erinnere ich mich auch nicht.
Aber wenn du jetzt deine Augen schließt und ich frage dich, welche Augenfarbe hat Jonas? Denk an Jonas.
Keine Ahnung. Blau?
Ja.
Und wenn du jetzt an deinen Mitbewohner denkst, wie er oben ohne in der WG sitzt, siehst du ihn vor dir?
Ich stell ihn mir vor, also in Gedanken sehe ich ihn. Aber wirklich etwas sehen kann ich nicht, da ist einfach nichts.
Das ist bei mir nicht anders! Wie haben die Leute in deinem Umfeld darauf reagiert, kannten die Menschen das überhaupt?
Nein, niemand. Ich ruinierte einigen auch teilweise das Leben, weil sie durch mich darauf aufmerksam wurden (lacht). Ich weiß noch, mein bester Freund hat das auch und der war so sauer auf mich, weil wir uns beide so benachteiligt fühlten. Es kam uns vor, als ob andere Menschen Superkräfte besitzen würden. Wenn man einen schwarzen Bildschirm vor Augen hat, kann man sich nicht vorstellen, dass andere Menschen dazu in der Lage sind.
Von einem Arzt hast du dir das aber nicht bestätigen lassen, dh. alle Informationen hast du aus dem Internet?
Genau! Und aus Erfahrungsberichten von Betroffenen.
Hast du jemals darüber nachgedacht, zu einem Arzt zu gehen und das checken zu lassen? Ich meine, vielleicht ist das auch nur Einbildung, so wie ich mich gerade frage, ob ich ebenfalls darunter leider oder nicht?
Ich glaube nicht. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich Aphantasie habe.
Aber eigentlich weiß doch niemand, was das ist?
Irgendwie schon – man besitzt eben kein visuelles Vorstellungsvermögen.
Ich weiß, was du meinst. Aber kaum jemand ist sich im Klaren darüber, dass es dieses Defizit überhaupt gibt?
Ich glaube, das kam Anfang des 20. Jahrhunderts raus, weil ein Mann nach einer Operation zum Arzt ging und behauptete, dass er seine bildliche Vorstellungskraft verloren hätte. Daraufhin war der Doktor verunsichert, da er keine Ahnung hatte, wovon der Mann spricht. In einigen Berichten steht eben auch, dass man Aphantasie bekommen kann, wenn man unter einem Trauma leidet oder verstörende Bilder, das muss also nicht angeboren sein.
Und bei dir ist das angeboren?
Ja, ich konnte tatsächlich noch nie etwas sehen, wenn ich meine Augen schließe und bei meinem besten Freund wiederum war das genau andersrum. Als wir uns zum ersten Mal darüber unterhielten, meinte er, dass er sich daran erinnert, dass er früher Dinge sehen konnte und extreme Albträume nach Horrorfilmen hatte.
Er hat zu viele Horrorfilme geschaut und das hat ihn so geschädigt, dass er sein einstig funktionierendes bildliches Vorstellungsvermögen verloren hat?
Er glaubt, dass er dadurch eine seelische Verletzung zugesetzt bekommen hat. Und dass sein Körper das Trauma damit überwunden hat, indem er ihm die bildliche Vorstellungskraft nahm.
Ein bisschen logisch klingt das ja schon. Noch mal zurück zu deinem Outing, wie hat deine Familie darauf reagiert?
Meine Mama lacht mich immer noch aus.
Sie glaubt dir also nicht?
Sie hat mich sogar angeschrien: „Jetzt mach doch mal die Augen zu, du weißt doch, wie unser Hund aussieht. Stell ihn dir doch einfach mal vor!“.
Okay ich verstehe. Deine Mom konnte kein Verständnis dafür aufbringen, da es bei ihr anscheinend wirklich anders ist.
Genau. Für sie ist es unvorstellbar, dass es Aphantasie gibt und dass ich nichts sehen kann. Sie sagte immer wieder, „mach die Augen zu und stell dir unseren Hund vor“. Natürlich weiß ich, wie unser Hund aussieht, aber ich sehe ihn eben nicht und das ist der Unterschied zwischen uns. Und ich glaube, dass dadurch eben viele Menschen wie du verwirrt sind, gerade wenn man zwanghaft probiert, sich etwas vorzustellen. Aber wenn man sich erinnert, dann weiß man Dinge.
Ich glaube, man fängt schnell an, an der eigenen Realität zu zweifeln. Was entspricht denn nun der Wirklichkeit und was nicht? Vor unserem Gespräch habe ich mir diese Frage nie gestellt und jetzt ist das auf einmal ein Thema.
Ja, das denke ich auch. Vor allem, dass es bei jedem anders ausgeprägt ist. Meine Schwester sah beispielsweise nur einen leichten roten Stern von der Abbildung, meine Eltern den leuchtenden Stern und ich gar nichts. Das ist total individuell. Man sollte das nicht alles über einen Kamm scheren. Ich weiß aus einigen Berichten, dass zwei bis drei Prozent der Menschheit überhaupt keine bildliche Vorstellungskraft besitzen, so wie ich.
Denkst du, dass es Situationen in deinem Leben, in denen das von Vorteil für dich sein kann?
Ja, auf jeden Fall. Gerade was das Thema Angst angeht. Wenn ich gruselige Filme oder Ähnliches sehe, verfolgt mich das nicht weiter. Ich weiß zwar, dass ich den Film gesehen habe, ich weiß auch, dass ich ihn unheimlich fand, aber ich habe dazu kein Bild im Kopf.
Abschließende Frage: Was würdest du Menschen raten, die durch das Interview nun anfangen, an ihrem visuellen Vorstellungsvermögen zu zweifeln – wie kann man sich informieren?
Leider gibt es kaum Studien darüber. Es gibt eine aus England und eben eine Studie des Arztes, der aufgrund eines Patienten darauf aufmerksam wurde. Was ein erster Schritt in die richtige Richtung wäre, ist, das Bild mit den Sternen anzuschauen und es einfach mal auszuprobieren. Augen schließen, roten Stern vorstellen, danach Bild anschauen.
Illustration: Issam Sighaoui
Du bist jetzt genauso verwirrt wie ich? Hier geht‘ zum Selbsttest.
Schritt 1 : Mach deine Augen zu.
Schritt 2 : Stell dir einen roten Stern vor.
Schritt 3 : Mach die Augen auf.
Schritt 4 : Illustration anschauen und mit dem Bild in deinem Kopf vergleichen.
Hier gehts zum Bild.
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Autor:innen
Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.