„Khubz wama‘!“ (deutsch: „Brot und Wasser“) hallte der Ruf der Demonstrant:innen entlang der Avenue Habib Bourguiba in Tunis wider. Vor einem Jahrzehnt erhoben sich die Menschen in allen Winkeln des Landes und stürzten den Autokraten Zine el Abidine Ben Ali, nachdem der Gemüsehändler Bou Azizi aus Verzweiflung sich selbst angezündet hatte. Ihre Rufe nach Freiheit, Demokratie und einem Leben in Würde waren laut und unüberhörbar.

Aber was ist aus ihren ursprünglichen Forderungen geworden? Die Fotostrecke „Arabischer Winter“ von Mälek Sayadi wirft einen Blick auf tunesische Arbeiter aus Monastir, Douz, Tataouine und Nefta. Im Interview spricht Mälek über unterschiedliche Arbeitsauffassungen in Tunesien und Deutschland, Veränderungen seit der Jasmin-Revolution und die aktuelle politische Lage im Land.

DIEVERPEILTE: Mälek, in deinem Projekt ‚Arabischer Winter‘ hast du Männer bei ihrer Arbeit in Tunesien fotografiert. Wie kam es zu dieser Fotostrecke und was hat dich dazu inspiriert?
Mälek Sayadi: Ich besuche meine Familie mehrmals im Jahr und habe immer meine Kamera dabei. Da ich selbst aus einer Arbeiterfamilie komme und der tunesische Arbeitsmarkt hauptsächlich aus einfachen Arbeitern, Verkäufern und Dienstleistern besteht, habe ich mich dazu entschieden, sie zu porträtieren.

Was an der Arbeit fotografisch auffällt: Du hast ausschließlich Männer portraitiert.
In der Öffentlichkeit, auf den Märkten und Basars stehen hauptsächlich Männer im Vordergrund, weshalb ich auch ausschließlich Männer porträtiert habe. Diese Beobachtung deutet auf eine relativ klassische Rollenverteilung in diesen Berufen hin. Bisher habe ich noch nie eine Frau auf dem Fischmarkt oder den Basars als Verkäuferin gesehen. Das könnte daran liegen, dass Frauen in Tunesien möglicherweise eher höher gebildet sind als Männer und daher nicht den traditionellen Berufen nachgehen möchten. Tatsächlich schaffen in Tunesien mehr Frauen als Männer ihr Abitur, und viele entscheiden sich für ein Studium.

Du bist in Deutschland aufgewachsen, dein Vater aber stammt aus Tunesien. Unterscheiden sich die Wahrnehmungen von Arbeit zwischen den beiden Ländern?
In Tunesien steht Arbeit nicht unbedingt im Mittelpunkt. Vielmehr betrachtet man sie als ein Mittel zum Zweck. Es wird nicht den ganzen Tag gearbeitet, auch weil es im Sommer zu heiß ist. Die Schwerpunkte liegen hier eher auf dem Gemeinwohl, der Familie und dem Miteinander, wobei sich die Menschen nicht stark mit ihrer Arbeit identifizieren. In Deutschland hingegen beobachte ich das Gegenteil: Viele Menschen definieren sich hier über ihre Arbeit und widmen ihr den Großteil ihres Tages. Die Betonung liegt in Deutschland also mehr auf der Individualisierung als auf dem Gemeinwohl. Ebenso ist mir aufgefallen, dass in Deutschland nur einige im Niedriglohnbereich arbeiten möchten. Die meisten Jobs, die ich hier beobachtet habe, sind eher digital am PC ausgerichtet, während die meisten Menschen in Tunesien körperliche Arbeit verrichten, sei es als Frisör, Fischer, Gemüsehändler oder Kellner im Hotel.

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2017, Monastir, Stadt in Tunesien
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2023, Monastir, Stadt in Tunesien © alle Fotos: Mälek Sayadi
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2022, Monastir, Stadt in Tunesien
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2022, Monastir, Stadt in Tunesien
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2022, Monastir, Stadt in Tunesien

Welche Unterschiede in der Wahrnehmung von Arbeit hast du zwischen den städtischen Gebieten wie Tunis am Lac und den ländlichen Regionen im Süden oder Osten Tunesien beobachtet? Beeinflussen diese Unterschiede auch die Arbeitsbedingungen und das Selbstverständnis der Menschen in den jeweiligen Regionen?
Innerhalb Tunesiens gibt es deutliche Unterschiede in der Wahrnehmung von Arbeit, je nachdem, ob man sich in den Städten oder den Dörfern befindet. Besonders ist mir das aufgefallen, als ich die Menschen in Tunis am Lac und deren Berufe betrachtete und diese mit den Berufen der Menschen aus den Dörfern im Süden oder Osten verglich. Die großen Städte Tunesiens wurden leider stark von französischem Einfluss geprägt und sind daher sehr europäisiert worden. Dadurch setzt sich hier zunehmend die gleiche Vorstellung von Arbeit durch, wie man sie aus der europäischen Definition kennt: Nine-to-Five-Jobs am Schreibtisch vor dem Macbook. Im Gegensatz dazu sieht es im Süden eher so aus, dass die Menschen Datteln pflücken und schauen müssen, wie sie über die Runden kommen. Die soziale Schere ist hier sehr weit geöffnet.

Das klingt so, als ob dir diese Entwicklung nicht gefällt?
Ja, das ist eine Situation, die von Ben Ali entwickelt wurde und bis heute fortbesteht. Die Küstenstädte wurden immer mit großen Investitionen bereichert, während die Dörfer leer ausgingen. Meiner Meinung nach ist die soziale Ungleichheit ein großes Problem in Tunesien. Die Menschen in den Dörfern sind stark von Armut geprägt, während es dem Rest des Landes größtenteils gut geht.

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2021, Nefta, Stadt in Tunesien (Anmerkung des Fotografen: Nahe der algerischen Grenze liegt bei Nefta der Star Wars-Drehort Mos Espa)
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2019, Monastir, Stadt in Tunesien
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2019, Monastir, Stadt in Tunesien
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2021, Douz, Sahara, Tunesien
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2021, Tataouine, Stadt in Tunesien

Angesichts der aktuellen politischen Situation in Tunesien, wie siehst du die Zukunft des Landes und welche Wirkung erhoffst du dir von deinem Fotoprojekt auf das Bewusstsein der Menschen?
Der Name meines Projekts „Arabischer Winter“ bezieht sich auf die vorwiegend europäische Bezeichnung der Revolutionswellen in arabischen Ländern ab dem Jahr 2011, bekannt als „Arabischer Frühling“. In meiner Wahrnehmung war der „Frühling“, der die Hoffnung auf ein besseres Leben, mehr Würde, weniger Korruption und demokratische Verhältnisse in der arabischen Welt symbolisierte, generell nie präsent und in Tunesien nur von kurzer Dauer. Spätestens seit dem Amtsantritt des aktuellen Präsidenten Kais Saied befindet sich Tunesien wieder in einem sozialen, politischen und ökonomischen „Winter“. Die von mir erstellten Porträts der Arbeiter sollen die Resignation der Menschen über mehrere Jahre hinweg einfangen. Es waren vorwiegend die Arbeiter, die 2011 hoffnungsvoll gegen Ben Ali, die Diktatur und die miserablen, ärmlichen Verhältnisse auf die Straße gegangen sind. Nach meiner Meinung ist es heute hoffnungslos: Präsident Kais Saied hat alle Errungenschaften der Revolution zunichte gemacht und Tunesien wieder zu einer Diktatur gemacht. Die europäischen Staaten unterstützen ihn dabei, indem sie dafür bezahlen, Geflüchtete von den Grenzen Europas zurückzuweisen, was klassische Pushbacks sind und von der EU finanziert werden. Meiner Ansicht nach bleiben den Tunesiern nun nur noch zwei Möglichkeiten: Die miserable Situation hinzunehmen oder die lebensbedrohliche Flucht über das Mittelmeer anzutreten.

Die Jasmin-Revolution 2010/2011 soll den Frauen in Tunesien mehr Rechte verschafft haben. Wie hast du das als junger Mensch wahrgenommen und hast du seitdem weitere Veränderungen im Land beobachtet?
Die Jasmin-Revolution war meiner Ansicht nach nicht primär eine feministische Revolution, da Frauen in Tunesien bereits seit der politischen Unabhängigkeit von Frankreich rechtlich gleichgestellt waren. Der erste Staatspräsident Habib Bourguiba erließ als sozialistischer Politiker feministische Gesetze und prägte somit eine sehr feministische Gesellschaft. Dies ist auch heute noch einzigartig in der arabischen Welt: Im letzten tunesischen Parlament saßen deutlich mehr Frauen als im Deutschen Bundestag, die Premierministerin ist eine Frau, und in zahlreichen Berufen finden sich Frauen in Führungspositionen. Diese Errungenschaften haben sich rechtlich und gesellschaftlich nicht verändert.

Zusätzlich brachte die Revolution bis zum Jahr 2022 die erste arabische Demokratie hervor. Es wurden freie Wahlen abgehalten, eine demokratisch gewählte Kommission entwarf eine demokratische Verfassung, und die Presse sowie die Meinungsfreiheit wurden gewährleistet. Allerdings haben die Tunesier:innen bei der letzten Präsidentschaftswahl wieder einen Diktator gewählt, der die demokratische Verfassung durch eine eigens verfasste Konstitution ersetzt und alle Errungenschaften der Revolution rückgängig gemacht hat. Dies erinnert mich immer an das Ende der Weimarer Republik, als die Bevölkerung aus Resignation einen Präsidenten wählte und die Demokratie ablehnte.

Was hat sich deiner Meinung nach seit der Jasmin-Revolution noch in Tunesien verändert?
Die Presse- und Meinungsfreiheit wird laut Medienberichten eingeschränkt. Es gibt Berichte über restriktive Maßnahmen der Sicherheitskräfte gegenüber Demonstrant:innen. Aktuell empfinde ich die Lage als sehr unpolitisch. Viele Menschen haben sich von der Politik abgewandt, da die Demokratie ihnen kein besseres wirtschaftliches Leben gebracht hat und die neue Regierung ihnen die hart erkämpften Freiheiten wieder genommen hat. Als Folge davon ist die Beteiligung an Wahlen extrem zurückgegangen, da die Menschen das Gefühl haben, dass sich sowieso nichts verändert.

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2019, Monastir, Stadt in Tunesien
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2018, Monastir, Stadt in Tunesien

Wie hast du die Revolution damals mit 10 Jahren wahrgenommen, und wie denkst du heute darüber?
Mit 10 Jahren konnte ich die Revolution natürlich nicht so verstehen, wie ich es heute tue. Ich erinnere mich daran, dass ich damals in Deutschland war und tagelang vor dem Fernseher saß, um die Revolution live zu verfolgen. Der zensierte Fernsehsender von Ben Ali zeigte unerlaubter Weise alle Gewalttaten des Regimes in den Nachrichten. Außerdem hatten wir einige Tage bevor der Diktator das Internet und den Strom abstellte, die Möglichkeit, mit der Familie per Skype zu sprechen. Sie erzählten uns, dass sie gemeinsam mit anderen aus dem Stadtviertel die Straße mit großen Holzplatten abriegelten und mit Steinen bewaffnet die Häuser vor Plünderern und der Polizei schützten – quasi eine Bürgerwehr. Das Militär unterstützte sie dabei. Weitere Nachrichten erhielten wir über Facebook. In Gruppen verabredeten sich die Leute für die kommenden Demos und berichteten über Gewalttaten, die von der Polizei ausgingen. Ben Ali verließ das Land am 14. Januar 2011. Danach hat sich vieles verändert. Als wir das erste Mal im Sommer wieder dort waren, hingen nirgendwo mehr Bilder von ihm, die Farbe Lila (seine Lieblingsfarbe) war verschwunden, erstmalig wurden verschiedene kritische Bücher und Zeitungen verkauft, und es gab nicht mehr nur drei Fernsehsender. Obwohl es lange her ist und ich sehr jung war, kann ich mich sehr gut an die euphorische Stimmung erinnern.

Wie reagieren die Leute auf deine Bilder?
Viele Leute hier in Deutschland, die sich noch nie außerhalb von Europa bewegt haben, sagen mir, dass meine Bilder ihnen den Eindruck geben, als wären sie dort gewesen. Es freut mich, wenn ich mit meinen Bildern die Atmosphäre, in der ich mich an den verschiedenen Orten bewegt habe, erfolgreich transportieren kann.

Wann geht es für dich das nächste Mal nach Tunesien?
Schon bald: Am 30. Juni breche ich von Bonn aus mit dem Rennrad auf und fahre bis nach Monastir – natürlich ist meine Kamera auch im Gepäck. Ich werde die Rennradtour begleiten und mit einer Spendenaktion die Seenotrettung für geflüchtete Menschen im Mittelmeer unterstützen.

Das klingt nach einer aufregenden Reise! Vielen Dank für das Gespräch!

Transparenzhinweis: Dieses Interview wurde im Juni 2023 durchgeführt. Die darin enthaltenen Informationen und Aussagen beziehen sich auf den Stand dieses Zeitpunkts. Eventuelle Veränderungen oder Entwicklungen nach dem Interview sind in diesem Kontext nicht berücksichtigt.

Weitere Arbeiten von Mälek findest du auf seiner Homepage. Du kannst ihm auch auf Instagram folgen.

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Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.

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