WARNUNG: Dieser Text enthält Schilderungen von sexualisierter Gewalt.
In der Schweiz wird derzeit die Reform des Sexualstrafrechts diskutiert. In einer Medienmitteilung* von Amnesty Schweiz wird ein zeitgemässes Sexualstrafrecht gefordert, in dem nicht einvernehmlicher Geschlechtsverkehr als Vergewaltigung definiert wird.
Als feministische und politisch aktive Person verfolge ich die Diskussionen zum Sexualstrafrecht mit grossem Interesse. Ich mache mir Gedanken zu Geschlechterprivilegien, die vielerorts noch vorherrschen und sich in unterschiedlichen Ausführungen finden. Sei es bei der Rente, beim öffentlichen Umgang mit häuslicher Gewalt oder auch bei der Rollenverteilung in der Kinderbetreuung. Es erstaunt mich, dass Frauen auch heute noch um so viele Selbstverständlichkeiten kämpfen müssen. Durch die aktuelle Debatte um die Sexualstrafrechtsreform stelle ich mir immer wieder die folgende Frage: Was wird eigentlich gegen sexuelle Gewalt gemacht? Ich sitze in meiner neuen Wohnung in Bern, nicht sehr weit vom Zentrum der Hauptstadt entfernt, und überlege mir: Wo finden Übergriffe statt? Bin ich sicher, wenn ich Sonntag frühmorgens mit durchgetanzten Füßen und hohen Absätzen nach Hause laufe? Hartnäckig hält sich der Mythos, dass Sexualstrafdelikte bloß im Ausgang oder beim Nachhauseweg in der Nacht stattfinden. Dabei ist mittlerweile bekannt, dass die meisten Übergriffe im persönlichen Umfeld geschehen. Dort, wo sich die Betroffenen eigentlich sicher fühlen sollten: während der Heimfahrt mit dem Onkel, bei der Weihnachtsfeier im Büro oder auf irgendeiner Party mit Bekannten.
Im Grundverständnis der meisten Menschen wird eine Vergewaltigung als solche definiert, wenn ein Opfer gegen den eigenen Willen zum Geschlechtsverkehr gezwungen wird. Die Gesetzesrealität sieht in der Schweiz allerdings anders aus. Laut der Homepage stopp-sexuelle-gewalt.ch wird hierzulande derzeit eine sexuelle Handlung gegen den Willen der betroffenen Person nur dann als Vergewaltigung anerkannt, wenn das Opfer durch Gewalt oder Drohung dazu gezwungen wird. Das Opfer muss sich also in einer solchen Situation aktiv zur Wehr setzen, damit die Handlung als Gewalttat anerkannt wird. Das «Nein» alleine genügt nicht und die Tat bleibt daher meistens straflos. Die Realität zeigt aber, dass bei Betroffenen von sexueller Gewalt oftmals eine „Schockstarre“ einsetzt und es somit kaum möglich ist, sich aktiv zur Wehr zu setzen. Ein Zusammenschluss an feministischen Verbänden, Menschenrechtsorganisationen und Politiker:innen will das nun ändern: Sie fordern ein zeitgemässes Sexualstrafrecht, das auf dem „Ja-heißt-Ja“ Grundsatz basiert. Das würde bedeuten, dass sexuelle Handlungen konsensbasiert sind und es ein gegenseitiges Einverständnis braucht.
Ich möchte mehr erfahren und treffe mich mit Anna-Béatrice Schmaltz, der Programmverantwortlichen Prävention geschlechtsspezifische Gewalt beim Christlichen Friedensdienst (cfd), einer feministischen Friedensorganisation mit Sitz in Bern. Sie ist Teil des Netzwerkes Istanbul Konvention, ein Zusammenschluss aus NGOs und Fachstellen, das eine wichtige Rolle beim Monitoring und der Umsetzung der Istanbuler Konvention in der Schweiz spielt. Als ich sie für ein Gespräch anfrage, zögert sie nicht lange und vereinbart einen Termin mit mir.
Ich besuche sie in ihrem Büro, zentral gelegen, nicht weit vom Bahnhof entfernt. Es ist schon wieder kalt, die im Sommer bereits eher spärlich auftretende sonnige Wärme hat sich nun komplett verabschiedet. So laufe ich mit verschränkten Armen bis zum Gebäude, ein Altbau in einem der beliebtesten Quartiere der Stadt Bern. Vor dem Eingang stehen zwei junge Frauen, die gerade Zigarettenpause machen. Sie lächeln und öffnen mir die Tür zum Gebäude, wo mich Anna-Béatrice pünktlich in ihrem Büro empfängt. Die 29-Jährige hat derzeit allerhand zu tun. Überall liegen Flyer, Plakate und Pins für die internationale Kampagne „16 Tage gegen Gewalt an Frauen“, die der cfd in der Schweiz 2007 das erste Mal lancierte und bei der sie die Kampagnenarbeit übernimmt. Ich will von ihr wissen, ob es bei der Reform um rein juristische Aspekte geht oder ob da nicht auch ein gesellschaftlicher Impact dahinterstecken könnte. Welche Fragen werden in der Diskussion genau angesprochen?
Darauf antwortet sie: „Bei der Reform gibt es sowohl juristische, aber auch ganz grundsätzliche und feministische Aspekte. Wenn man Menschen fragt, ob sie der Meinung sind, dass Sex Konsens braucht, sagen normalerweise die meisten: „Ja, das ist doch logisch. Auch aus feministischer Sicht ist das völlig logisch. Es ist extrem stoßend, dass Sex gegen den Willen in unserem Gesetz kein Gewaltakt ist.“

Sie wählt ihre Worte mit Bedacht, mir wird schnell klar, dass sie die Thematik souverän beherrscht. Häufig werde diskutiert, ob es nun eine „Ja-heißt-Ja“ oder „Nein-heißt-Nein“ Formulierung brauche. Sie erklärt: „Momentan ist es ja so, dass falls die betroffene Person „Nein“ sagen würde, dass ja auch nicht genug wäre, um den Vorfall juristisch als Vergewaltigung zu bezeichnen. Häufig wird damit argumentiert, dass es ein Nötigungsmittel benötigt, wie eben beispielsweise Gewalt, dass es überhaupt als eine Vergewaltigung akzeptiert wird. Das kann dann je nach Richter:in auch subjektiv ausgelegt werden. Wir sind also noch sehr weit von einem Sexualstrafrecht entfernt, das auf Konsens basiert. Das soll die Reform nun ändern. Eine Entscheidung für das „Ja-heißt-Ja“ würde zudem auch ein wichtiges Zeichen setzen, wo wir als Gesellschaft hinwollen, wo unsere gesellschaftlichen Werte liegen. Es soll eine Selbstverständlichkeit sein, dass, wenn zwei Menschen miteinander Sex haben, beide die Verantwortung zum gemeinsamen Konsens tragen. Das ist aus feministischer Sicht essenziell. Zudem können derzeit laut Gesetz nur Menschen mit einer Vagina vergewaltigt werden. Nun soll das aber geändert werden.“
Obwohl die Reform aus feministischer Perspektive für viele eine Selbstverständlichkeit darstellt, gibt es auch kritische Stimmen. Es wurde bereits von einer „Umkehr der Beweislast“ gesprochen und davon, dass nun während des Liebesakts permanent die Zustimmung eingeholt werden müsse (siehe WOZ-Artikel 2019). Schmaltz widerspricht: „Vergewaltigung bleibt nach wie vor ein Vier-Augen-Delikt, es findet keine Beweislastumkehrung statt. Die Annahme, dass ab sofort ein schriftlicher Vertrag vor dem Sex aufgesetzt werden muss, stimmt nicht. Es geht um gegenseitige Verantwortung.“
Ich erzähle ihr von dem Ereignis, das mich politisiert hat. Ich war ungefähr neunzehn oder zwanzig Jahre alt und traf mich mit sechs Frauen aus meinem persönlichen Umfeld auf ein Bier. Wir saßen am See und kamen nach Sonnenuntergang früher oder später auf dieses Thema zu sprechen. Was mich schockierte, war, dass jede der anwesenden Frauen ihre eigene Geschichte zu erzählen hatte. Jede der Frauen konnte von einem Erlebnis erzählen, bei dem sie sexualisierte Gewalt selbst erlebt hatte, sei es eine unangenehme Situation im Ausgang, die leicht hätte bedrohlich werden können oder andere Fälle, bei denen eine persönliche Grenze überschritten wurde. Oft werden diese Themen verschwiegen und nur wenige Frauen treten bei einem Gewaltverbrechen tatsächlich mit der Polizei in Kontakt.
Eine Studie der Gesellschaft für Sozialforschung Bern (gfs.bern) aus dem Jahr 2019 spricht von gerade einmal 8 Prozent von sexueller Gewalt betroffenen Frauen, die eine Strafanzeige einreichen. Hätte eine Reform des Sexualstrafrechtes einen Einfluss auf den öffentlichen Diskurs? Laut Schmaltz wäre dies gut möglich: „Bei Sexualstraftaten fällt häufig der Begriff der Mitschuld, viele Betroffene müssen einen ganzen Katalog an Fragen über sich ergehen lassen: Hattest du einen Minirock an? Warst du etwa spätabends noch unterwegs? Das „Ja-heißt-Ja“ könnte eine Diskussion über Konsens anstoßen, wir würden uns als Gesellschaft mehr damit auseinandersetzen, was sexualisierte Gewalt ist und vor allem auch die sogenannten Vergewaltigungsmythen thematisieren. Es stößt möglicherweise eine Grundsatzdiskussion an zum Thema „Prävention, Sexismus und Frauenfeindlichkeit“.
Sexuelle Übergriffe sind keine Einzelfälle. Laut der Studie des Gfs.bern haben in der Schweiz bereits mehr als die Hälfte aller Frauen ab 16 Jahren unerwünschte Berührungen, Küsse und Umarmungen erlebt, 22 Prozent wurden mit unerwünschten sexuellen Handlungen konfrontiert, 12 Prozent hatten Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen.

Mit einer Änderung des Gesetzes wäre die Thematik „Gewalt an Frauen“ nicht einfach so abgeschlossen. Es braucht präventive Maßnahmen, Bildung und einen selbstreflektierten Umgang der männlichen Bevölkerung zu diesem Thema. Auch wenn nicht alle Männer gleich Täter sind, gibt es Mittel, wie sie zum Sicherheitsgefühl der Frauen beitragen können – beispielsweise in dem sie bei heiklen Situationen hinschauen, die Lage ernst nehmen und unterstützen, indem sie selber eingreifen oder die Polizei informieren. Es braucht ein Gesetz, dass die Lebensrealität widerspiegelt, die wissenschaftlichen Fakten abdeckt und den Betroffenen immerhin ein Gefühl der Fairness vermittelt, da sie wissen, dass sie juristisch gesehen eine Form von Gerechtigkeit erhalten.
Auf die Frage, was sie als Teil der Lösung für diese Probleme sieht, antwortet Schmaltz: „Bei sexualisierter Gewalt geht es häufig um Macht. Die Täter denken oft, die wird ja wohl nichts sagen, ich kann mir das erlauben. Es braucht Gleichstellung der Geschlechter, um das zu ändern. Es gibt in der Gewaltprävention einen Satz, der lautet: Die beste Prävention ist Gleichstellung, und das stimmt wirklich. Die Machtverhältnisse unter den Geschlechtern müssen ausgeglichen sein. Die sexistischen Stereotypen, die auch in der Flirt- und Datingwelt noch vorherrschen, das Narrativ vom jagenden Mann und der Frau, die erobert werden soll, bringen uns da nicht weiter.“
*schweizerisch für Pressemitteilung
*Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Rufnummer 0800-116 016 und via Online-Beratung können sich neben Betroffenen auch Angehörige, Nahestehende und Fachkräfte Unterstützung holen.
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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