Der Wohnzimmertisch, auf dem B. die Dokumente stapelt, ist niedrig und quadratisch. Der weiße Ordner liegt auf dem Sofa. Sie hat ihn gut organisiert. B. und F. sind allein daheim. F.s Geschwister sind mit dem Vater außer Haus. Der kleine Hund wartet in einem anderen Zimmer. Er soll nicht auf das Sofa springen, wenn dort die Dokumente liegen. B. möchte die Geschichte ihrer Tochter erzählen. Die Geschichte, wie F. zu ihrem Führerschein gekommen ist. Für das Erzählen braucht sie die Dokumente, denn die Geschichte ist kompliziert. Und bis hierhin: Open End.
B. ist Mutter von drei Kindern. Sie arbeitet in der Pflege, hat oft Nachtschicht. Sie sagt von sich selbst, dass sie wahrscheinlich Augenringe hat. Meistens. Später wird sie sagen, eigentlich hatte sie bestimmt schon einen Burnout.
F., ihre älteste Tochter, ist neunzehn Jahre alt. Sie geht in die zwölfte Klasse eines bayerischen Gymnasiums. Sie lernt viel für das Abitur, vielleicht mehr als die meisten. Sie kommt von der Realschule, davor von der Mittelschule. „Eine Textanalyse zu schreiben – das haben wir davor einfach nie so gemacht“, sagt sie. Am Gymnasium wird von ihr erwartet, dass sie trotzdem weiß, wie es geht. Also bringt sie es sich selbst bei. In der Freizeit versorgt sie ein Pferd und geht reiten.
Wie ihre Mitschülerinnen auch, möchte F. den Führerschein machen. Könnte sie Auto fahren, hätte das große Vorteile: Momentan muss sie zur Schule gebracht werden, per Auto. Sie kann die öffentlichen Verkehrsmittel nicht nutzen. Das liegt an dem, was als Autismusspektrumsstörung im psychiatrischen Gutachten steht. Deswegen, und wegen einer Hemiparese, also einer Art unvollständigen Lähmung, kann sie den Führerschein nicht einfach anfangen. Sie muss erst an die Bürokratie ran. Sie muss, aber praktisch bedeutet das: B. macht es. Denn F. kann fremden Leuten nicht gut gegenübertreten, nicht einfach kommunizieren. Für sie ist das mit großen Ängsten verbunden. So großen Ängsten, dass es einfach nicht geht. Die Autismusspektrumsstörung äußert sich auch in social anxiety. Diese Ängste sind der Grund dafür, warum sie nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren kann.
Mitte April beantragt also B. bei der Verkehrsbehörde eine Fahrerlaubnis für F. Die Verkehrsbehörde antwortet, dass sie ein hausärztliches Attest brauche, weil F. ihre Einschränkungen bei der Beantragung angegeben hat. Die Verkehrsbehörde brauche das Attest, um angemessene Maßnahmen beurteilen zu können. B. hat handschriftlich vermerkt, wann sie das Attest abgeschickt hat. Das ist ihr wichtig, damit sie sich nichts zu Schulden kommen lassen kann. Die Verkehrsbehörde schreibt, dass hohe Kosten auf sie zukommen könnten. B. liest es, jetzt, als sie anhand der Dokumente ihre Geschichte durchgeht, und sagt: „Damals habe ich mir ja noch nichts gedacht.“

Es stellt sich einen Monat später heraus: F. darf den Führerschein nicht direkt beginnen. Erst muss sie begutachtet werden. Die Verkehrsbehörde ordnet zwei Gutachten an: eins für die Hemiparese, eins für die Autismusspektrumsstörung. Die Behörde wird die Ärzt:innen dafür bestimmen. Die finanziellen Aufwendungen seien verhältnismäßig. Wer die Gutachten zahlen muss? F. und ihre Familie selbst. Wie viel das kosten soll – das wird an dieser Stelle nicht erklärt. Der Brief endet mit einer Rechtsbehelfsbelehrung und welche Möglichkeiten es für eine Klage gäbe. Als sie das zum ersten Mal liest, sagt B., wundert sie sich auch darüber. Das Gutachten muss der Verkehrsbehörde bis Ende Juli vorliegen.
April bis Juli – in dieser Zeit können andere schon einen großen Teil ihres Führerscheins absolvieren. Ich weiß noch, als ich von einer Fahrschule nach Hause kam, wartete meine Familie mit vielen Fragen auf mich: Wie lief es? Welche Fortschritte mache ich? Was war heute schwierig? Bei B. und F. ist das nicht so. Sie erzählen einander von neu eingegangenen Briefen.
Am 19. Mai werden die Rechnungen vom TÜV SÜD ausgestellt. Hier musste F. das Gutachten machen. Der Betrag: 650 Euro und 290 Euro. Insgesamt knapp tausend Euro, viel Geld. Und sehr viel Geld, wenn man nicht viel hat. B. sagt, dass sie froh ist, dass sich ihre jüngere Tochter jetzt für Second-Hand-Läden interessiert, von sich aus. Dort ist die Kleidung nicht so teuer. Eine Rechnung über fast tausend Euro – das ist keine Kleinigkeit. B. denkt, dass sie das Geld irgendwoher wieder bekommen wird. Irgendjemand wird diese Kosten mit Sicherheit übernehmen. F. darf in Deutschland doch keine Nachteile haben, aufgrund ihrer körperlichen oder psychischen Umstände. Sie hat es ja auch im Alltag schon schwieriger:
F. sagt, die Hemiparese verwandelt eine ihrer Körperhälften in eine „Stütz-Seite”. Wenn sie steht, beispielsweise, steht sie lediglich auf einem Bein; das andere stützt nur. Das macht das Stehen auf Dauer natürlich anstrengend und schmerzhaft. In der Hand wiederum hat sie kaum Muskelkraft und wenig Koordination. Das zeigt sich bei den ganz normalen Dingen im Alltag – Haare waschen zum Beispiel. Sie braucht ein bisschen länger. Daran ist sie gewöhnt.
Schwieriger ist es aber, wenn sie etwa auf der Straße angerempelt wird. Wenn sie hinfällt. Durch die fehlende Muskulatur fällt es ihr schwer, wieder aufzustehen, nach so einer Situation. Die Autismusspektrumsstörung erschwert ihr das erst recht – schließlich geht es in diesem Szenario um Kontakt mit fremden Menschen.
Zurück zu den offenen Beträgen. B. bezahlt sie also erst einmal selbst und vermerkt auch das handschriftlich auf der Rechnung. Das Geld hat sie sich geliehen, bei einer Verwandten. Ende Juni hat F. den Termin für das Gutachten. Sie soll ärztliche Befunde und Laborberichte mitbringen und drei bis vier Stunden einplanen. Für F. sind neuartige Situationen und Kontakte mit fremden Menschen große Herausforderungen. B. sagt, F. mache Fortschritte, aber sie könne zum Beispiel noch nicht allein mit dem Aufzug fahren. Nicht aus Platzangst, nein, sondern aus Angst davor, den Aufzug mit fremden Menschen zu teilen. Ihr Kopf bekommt dann Panik. F. kann nichts dafür, genauso wenig wie für die Hemiparese.
Den Termin für das Gutachten hat F. sich nicht ausgesucht – er wurde ihr zugewiesen. Das Gutachten wird von fremden Menschen durchgeführt. Dabei ist jeder neuartige menschliche Kontakt für F. eine große Herausforderung, sagt B.
Das Gutachten fällt gut aus: F. darf den Führerschein machen. Aber diese Erkenntnis kostet ihre Familie knapp tausend Euro. Ich frage, was tausend Euro für ihre Familie bedeuten, für was sie dieses Geld sonst ausgegeben hätten. Die Antwort: nicht. Wenn B. sich das Geld nicht hätte leihen können, hätte sie einen Kredit aufgenommen, sagt sie.
Im Juni möchte B. anfangen, sich Unterstützung zu suchen. Sie denkt: Irgendjemand wird die Kosten bestimmt übernehmen. Sie telefoniert mit einem Herrn J. vom Bezirk Schwaben und schreibt ihm daraufhin einen Brief. Sie schreibt von den angeordneten Gutachten und F.s Diagnosen und stellt einen Antrag auf Kostenübernahme. Sie beruft sich auf das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz.
Die Antwort: Als Sozialleistungsbehörde sei der Bezirk nur nachrangig zuständig. Aber er hat einen wichtigen Hinweis: Laut Sozialgesetzbuch I muss eine Behörde, die eine Untersuchung anordnet, die anfallenden Kosten bezahlen. Aber schon der nächste Satz klingt weniger optimistisch: Herr J. wisse nicht, ob das für den Führerschein auch gelte. So oder so: Das Landratsamt – zum Landratsamt gehört die Verkehrsbehörde – solle das doch prüfen. Der Bezirk prüft erst dann, wenn das Landratsamt den Antrag ablehnt.
Was bedeutet das für die Familie? Mehr Aufwand. Einen Antrag stellen, nur damit er abgelehnt wird, sodass man an anderer Stelle einen Antrag stellen kann. Passierschein A38.
„Ich reg’ mich total auf, die Behörden“, sagt B., als sie die Dokumente nacheinander auf den niedrigen Holztisch legt, „Das sind Sachen, die mich völlig zermürben.“ Sie sagt, für ein Burnout habe sie gar keine Zeit. Denn wenn sie eine Pause macht, wenn sie sich eine Auszeit nimmt, wer kümmert sich dann?
B. macht weiter. Sie stellt den Antrag telefonisch, das Landratsamt lehnt im August ab, sie stellt den gleichen Antrag direkt danach erneut beim Bezirk Schwaben. Von jetzt an schreibt sie auf die Briefe, bis wann sie eine Antwort möchte. Sie sagt, das habe sie dazu gelernt. Sonst würden die sich alle Zeit lassen, mit der Antwort. Herr J. antwortet in der gleichen Woche, er wolle die Situation „nach der sog. KFZ-Hilfe (§83 SGB IX und der KFZ-Hilfeverordnung)“ prüfen – denn das Sozialleistungsgesetz sieht nicht vor, dass der Bezirk das übernehmen muss. „Herr J., immer sehr nett, netter Mann, der Herr J.“, sagt B. und setzt ein Grinsen auf. Denn helfen kann er nicht, der Herr J.
Dazu kommt: Herr J. sagt, eine Kostenübernahme käme sowieso nur in Frage, wenn es belegt wäre, dass F. keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen kann. Sie muss auf das Auto angewiesen sein. Zu diesem Zeitpunkt, sagt B., liege ihm F.s Pflegegutachten schon vor. Das belege genau das.
Am 30. August schreibt Herr J.: Der Antrag wird abgelehnt. Die Begründung: Der Bezirk habe das Gutachten nicht angeordnet und müsse es daher auch nicht bezahlen. Und sie hätten nicht angegeben, wofür F. ein Auto braucht. B. widerspricht dem. Auch dieses Schreiben endet mit einer Rechtsbehelfsbelehrung: Es bliebe ein Monat Zeit, um Widerspruch einzureichen.
Am 3. September legt B. handschriftlich Widerspruch ein. Sie begründet, warum F. keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen könne. Sie schreibt, dass das aus dem HDK-Gutachten, das ihm vorliegt, hervorgehe. Zusätzlich schickt sie einen Teil eines psychiatrischen Befundberichts. Sie schreibt, wie oft sie F. fahren muss. Und er solle ihr doch mitteilen, bei welchem Gericht sie Klage einreichen kann. Als sie das erzählt, lacht sie kurz auf. Am 27. September schreibt Herr J., dass der Widerspruch eingegangen ist. Sie werden ihm nicht nachgeben, sondern alles an die Regierung Schwaben weiterleiten. Die Regierung Schwaben soll das prüfen.
Am vorläufigen Ende dieser Geschichte liegen viele Dokumente mit vielen handschriftlichen Notizen auf dem niedrigen Tisch. B. weiß nicht, wohin mit ihren Händen, auf welche Dokumente sie nochmal zeigen kann. Wo ist die Hilfe?
F. hat den Führerschein. Sie sagt: „Ich habe ein bisschen gebraucht, mit meinem Fuß. Ich spüre nicht direkt, wo die Bremse ist, und wie fest ich drücken muss. Aber ich gewöhne mich daran, wenn ich das übe.“ Sie konnte den Führerschein machen – aber die tausend Euro für das Gutachten, die haben sie bezahlt. B. sagt: „Man braucht ganz schön Durchhaltevermögen.“ Sie fragt: „Was machen die, die das nicht haben? Und was machen die, die sich nicht durch all die Paragraphen und bürokratischen Formulierungen arbeiten können? Denn keiner dieser Briefe ist in leicht verständlichem Deutsch geschrieben. Sie sieht sich als Repräsentantin für die Mütter und Väter, die in ähnlichen Situationen sind. Sie möchte, dass ihre Geschichte gehört wird.
F. geht noch spazieren, als die Geschichte zu Ende erzählt ist, und B. die Dokumente wieder in der richtigen Reihenfolge in den Ordner packt. „Mach das“, sagt B. zu F., „Ein bisschen frische Luft ist gut. Du sitzt ja auch den ganzen Tag in deinem Zimmer.“ „Ich nehm den Hund mit“, sagt F.
Autorin: Julia Huber, Illustrationen: Laura Sistig
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