Angeblich sieht man Menschen mit Behinderung überall. Das sehe ich ein bisschen anders.
Anas Alhakim lebt seit sechs Jahren in Berlin, vor sieben Jahren verließ er Damaskus, weil er in Deutschland studieren wollte. Für ihn war das ein wichtiger Schritt in Richtung Selbstständigkeit. Ob man Menschen mit Behinderung wirklich inkludieren kann? Wir müssen! Seit 2003 ist Anas querschnittgelähmt und sitzt im Rollstuhl. Als er sieben Jahre alt war, entdeckten die Ärtz:innen eine seltene Krankheit bei ihm: Kleidokraniale Dysplasie. Das bedeutet, dass seine Knochen nicht gleichmäßig wachsen. Anas hat keine Schlüsselbeine, dafür Skoliose, also eine Art von Wirbelsäulenverkrümmung. Das hindert ihn jedoch nicht daran, seine Träume zu verwirklichen und das Leben so zu genießen, wie er es für richtig hält. Der 29-Jährige hat gerade seinen Master in Medieninformatik begonnen und wie man sieht, macht er einen zufriedenen Eindruck. Doch mit diesem Interview möchte Anas nicht nur mich zum Nachdenken bewegen, sondern auch dich. Aus diesem Grund stellen wir dir zu Beginn eine Frage: Hast du eigentlich Menschen in deinem Umfeld, die eine Behinderung haben?
DIEVERPEILTE: Ist man, wenn man im Rollstuhl sitzt eigentlich auch ein Mensch oder ist man Rollstuhlfahrer:in?
Anas Alhakim: Keine einfache Frage. Also man ist schon ein Mensch, aber der erste Eindruck hängt immer von Situation und Umgebung ab. Deshalb kann ich das nicht mit Ja oder Nein beantworten. Es gibt keine Antwort darauf.
Wie wäre es mit einem Beispiel?
Okay. Der erste Eindruck, wenn ich zum Beispiel einen Raum betrete, ist immer der, dass ich der große Elefant im Zimmer bin. Unbewusst, wir denken darüber nicht nach. Geht mir auch so. Wenn ich in einem Raum bin und ein Rollstuhlfahrer:in kommt herein, dann merke ich, na gut, da fangen die Gedanken an. Ich glaube, das ist eine sehr menschliche Reaktion. Wie wir jedoch damit umgehen, ist der entscheidende Punkt. Und das macht es ein bisschen kompliziert.
Das überrascht mich, dass du sagst, dass du selbst andere Rollstuhlfahrer:innen auch als Elefanten wahrnimmst. Gibt es Situationen, in denen das nicht so ist?
Ja klar! Wenn man die Leute ein bisschen besser kennenlernt, entwickelt sich vielleicht eine Freundschaft oder eine Bekanntschaft und dann realisieren die anderen, dass Anas ist nicht nur der Rollstuhlfahrer, sondern auch der Ingenieur, der seine eigene Geschichte hat, ist.
Aber auf den ersten Blick bist du immer der Rollstuhlfahrer?
Ja, das sehe ich auch nicht böse, sondern es ist so. Wir sind so geprägt, dass wir unbemerkt zuerst die Unterschiede wahrnehmen. Um das zu ändern, müssen wir unser Bewusstsein nutzen. Ich denke, das ist ganz normal. Und zwar nicht nur, wenn man es mit einer Behinderung zu tun hat, sondern auch bei anderen Merkmalen. Die Frage ist, wie gehen wir damit um?
Absolut, da kommen wir auch noch drauf zurück. Vorher würde ich gern noch wissen, wie es dir damals nach deiner Skoliose Operation im Jahr 2003 ergangen ist.
Das war schon ein Schock. Nach der OP wurde ich in ein künstliches Koma versetzt. Als ich aufwachte, war meine Wahrnehmung nicht dieselbe. Ich merkte beispielsweise erst viel später, dass schon drei Wochen vergangen waren, als mir meine Mutter von der Lähmung erzählt hatte. Das dauerte schon, bis ich meine Situation realisiert hatte und damit leben konnte.
Warst du sauer auf die Ärzt:innen?
Naja, Risiken gibt es immer. Besonders bei Skoliose Operationen, da sie sehr spezifisch sind und immer ein Risiko mit sich tragen. Aber dass es so weit kommen konnte, damit hatten wir nicht gerechnet. Man sagt immer, die Chancen stehen gut, dass man die Operation übersteht. Dann denkt man automatisch, dass es bei 90 Prozent Erfolgswert schon sehr unwahrscheinlich wäre, zu den 10 Prozent Risiko zu gehören. Damit muss man erst mal leben.
Wie hast du das geschafft?
Das kann ich dir nicht sagen. Im Grunde ist es ein Prozess, den man durchleben muss, welcher sich im Laufe der Zeit entwickelt. Man kann nicht einfach aufstehen und sagen, dass man jetzt positiv denkt. Alles vergessen. Das braucht Zeit.

Gibt es Menschen in deinem Umfeld, die ein ähnliches Schicksal wie du mit sich tragen, es aber nicht geschafft haben, ihre Gedanken ins Positive zu formen und im Loch verweilen?
In Deutschland ist das anders, muss ich sagen, hier habe ich einige kennengelernt, die großes Potenzial haben und Positivität ausstrahlen. Natürlich waren auch welche dabei, die noch immer in ihrer Blase leben und Hilfe brauchen, um daraus zu kommen. Jedoch kann man ihnen nicht direkt helfen, denn es muss von ihnen selbst kommen, aus dem Inneren heraus.
Und dann gibt es diese Menschen, die das Beste daraus machen. In Barcelona lernte ich einen Mann kennen, der seine Beine bei einem Suizidversuch verlor. Er fiel mir auf, weil er täglich vor der Sagrada Familia in seinem Rollstuhl vor Publikum tanzt. Da hab ich schon mitgewippt.
Das kann ich nachvollziehen, wenn mir die Frage gestellt wird, wenn ich die Möglichkeit hätte, eine Zeitreise vorzunehmen, um meine Situation zu ändern, würde ich immer mit Nein antworten. Ich habe mich für den Rollstuhl entschieden. Aufgrund meiner Krankheit habe ich die Möglichkeit, die Welt aus einer anderen Perspektive zu sehen, was für mich sehr beeindruckend ist. Ich sehe die Menschen anders, besitze mehr Mitgefühl und Empathie.
Es wäre ja auch eine Art der Selbstverleugnung, würdest du dir dein altes Leben zurückwünschen.
Ja, es ist eine andere Wahrnehmung. Ich meine klar, der Rollstuhl ist da und er ist ein Teil meines Lebens, das kann ich nicht ignorieren. Aber die Frage ist, was mache ich daraus?
Vermutlich hast du die Frage, wie du Dinge im Alltag bewältigst, schon öfters gestellt bekommen. So was wie: Wie kriegst du eigentlich dein Leben auf die Reihe, das kann ich mir gar nicht vorstellen. Fragst du dich dasselbe auch manchmal bei Menschen ohne Behinderung?
Nein, diese Frage habe ich mir selbst noch nie gestellt. Weil ich weiß, dass jede Person ihr Leben anders gestaltet, im Vergleich zu jenen, die eine Behinderung haben.
Wie geht es dir damit, wenn dich die Leute so was fragen?
Ah, jetzt. Ok (lacht). Ja das kommt darauf an, wer das fragt, was will man mit dieser Frage erreichen. Wenn sie easy gestellt wird, dann antworte ich einfach nur: Genauso wie du nur anders. Aber die Kleinigkeiten, also z. B. wohne ich in einer normalen barrierefreien Wohnung, in welcher alles tiefgestellt ist, außer der Kühlschrank ist etwas hoch, aber sonst ist alles cool. Ich mache meine Einkäufe alleine, unabhängig von Corona. Und ich kann mit meiner Situation selbst umgehen.
Könntest du dir vorstellen, mal mit einer Gegenfrage zu reagieren?
Ja das kann ich. Als ich nach Deutschland kam, war das der erste Schritt meiner Selbstständigkeit. Ich hatte gute Freunde um mich herum, die mir geholfen haben, aber den Alltag habe ich selbst gestaltet. Und immer wenn ich diese Frage gestellt bekommen habe, konnte ich nicht verstehen, was die Leute damit meinen. Warum sollte mein Leben anders sein, ich sehe es nicht so. Aber dann realisiert man im Laufe der Zeit, dass es nicht normal ist. Denn ich kenne ja nur meine Perspektive und um eine andere zu begreifen, muss ich mich erst einmal in diese hineinversetzen. Und dann denke ich, okay, sie haben schon recht. Also die Frage nervt mich nicht immer, aber es ist mir nicht neu. Ich höre sie ständig.
Wäre die Welt schöner für dich ohne diese Frage?
Ja ein bisschen schon. Weil immer dann, sobald ich sie höre, merke ich, dass ich anders bin. Und dieses Gefühl von Andersein ist nicht das, was man fühlen möchte. Klar, sie ist vermutlich nicht böse gemeint, aber das muss auch nicht heißen, dass sie gut gemeint ist.
Nun möchtest du ja, dass sich die Menschen mit dem Thema Behinderung mehr auseinandersetzen, damit sie realisieren, dass Beeinträchtigung nicht immer gleich „schwach“ bedeutet. In letzter Zeit frage ich mich, warum ich weder in meinem Bekannten noch in meinem Freundeskreis Menschen um mich herum habe, die eine Behinderung haben. Ich glaube, das ist der Knackpunkt. Ich verbinde damit Schwäche. Meine Frage ist, wie kann ich damit umgehen und mein Unterbewusstsein zum Umdenken bewegen?
Eine sehr gute Frage lass uns ein kleines Fallbeispiel machen. Wenn du in einen Raum kommst, und du siehst einen Menschen im Rollstuhl sitzen, klar der Rollstuhl ist da, aber versuche diesen erst mal aus dem Bild rauszulassen. Und dann probiere damit umzugehen. Das Auge spielt dabei eben auch eine kleine Rolle, alleine von der Psychologie her. Wenn du jedoch versucht, den Rollstuhl auszublenden, wirst du erst den Menschen sehen.

Das kann ich nicht. In Barcelona nahm ich mit besagten Mann an einem Tanzkurs teil, wo es um verspielte Achtsamkeit ging. Obwohl der Kurs zur Hälfte von Rollstuhlfahrer:innen besucht war, war der Rollstuhl immer im Fokus.
Vielleicht nicht visuell, aber mental. Dazu fällt mir eine Erfahrung ein, die ich mit einem Kumpel von mir hatte. Wir hatten einen Ausflug unternommen und saßen in seinem Auto. Beim Aussteigen wartete er auf mich und meinte dann zu mir, wir steigen aus. Er hatte einfach vergessen, dass ich von ihm abhängig bin und Hilfe beim Aussteigen brauche. Also so kann sich das entwickeln. Das war gut. Weil er in diesem Moment versäumt hatte, dass ich Anas der Rollstuhlfahrer bin, ich war einfach nur Anas sein Kumpel. Das braucht seine Zeit, aber behandle die Menschen, wie sie sind. Frage an dich, wie würdest du ein Gespräch mit einem Rollstuhlfahrer:in führen?
Wie ich das führen würde?
Genau, was würdest du sagen.
Vermutlich so wie mit jedem anderen und mit Smalltalk beginnen. Trotzdem habe ich bei Menschen mit Behinderung immer diese Frage im Kopf: Woher hast du deine Behinderung? Ich weiß nicht, wieso, aber sie ist immer da.
Warum ist dir diese Frage so wichtig?
Ich denke, weil sie sich im Raum versteckt. Und ich unterbewusst Mitleid für Menschen mit Behinderung empfinde.
Genau das ist es. Das Gefühl von Mitleid ist in diesem Fall nicht erwünscht. Aber du kannst dieses Wort gegen Verständnis eintauschen. Denn Menschen mit Behinderung brauchen kein Mitleid und sie schaffen ihr Leben auch ohne. Aber sie brauchen Verständnis, jede Person benötigt das. Ich weiß auch, dass das nicht einfach ist zu realisieren, aber meine Frage wäre dann: Hast du eigentlich in deinem Umfeld Menschen mit Behinderung?
Nein.
Das ist der Grund dafür. Es ist nichts, was man erzwingen kann. Du kannst nicht sagen, dass du jetzt Freund:innen mit Behinderung haben möchtest.
Absolut. Wenn ich so zurückdenke, wird mir bewusst, dass ich mit dem Thema weder in der Schule noch auf Arbeit konfrontiert wurde.
Ja wie gesagt, dass ist nicht einfach. Meine Kumpels sagten mir auch, dass ich die einzige Person in ihrem Leben bin, die eine Behinderung hat. Und das ist ganz normal.
Das sollte es aber nicht, wie soll sich unsere Gesellschaft denn dann verändern?
Ja das stimmt. Aber zurück zu deiner Frage, glaubst du, dass du ohne diese Frage „Woher hast du deine Behinderung“ weiterkommen kannst?
Manchmal fühle ich mich sehr blockiert, weil diese Frage in meinem Kopf herumschwirrt und ich sie ohne die dazugehörige Antwort nicht wegbekomme. Ich weiß es nicht.
Ist die Blockade denn weg, wenn du die Antwort darauf bekommst? Also wie geht es weiter?
Nein, denn dann habe ich diesen „Behindertenstempel“ vor Augen.
Kann ich mir vorstellen. Ich finde das auch ganz wichtig, dass wir darüber sprechen, denn wir wollen ja herausfinden, wie man damit umgehen kann. Es gibt dafür nun mal keine Anleitung, die man befolgen kann. Das erfordert Zeit und ist immer abhängig von der Umgebung, die man um sich herum hat. Mein Vorschlag wäre: Wenn ich eine Frage stelle, habe ich oft Angst, dass ich blockiert werde. Vielleicht gehe ich zu weit. Mein Vorschlag, meine Meinung, wenn du diese Person kennst, frag doch einfach. Vielleicht möchte diese darüber sprechen, das merkt man auch anhand der Signale.
Das Problem ist, ich frag ja. Doch ich möchte diese Frage aus meinem Kopf haben.
Aber wie kannst du das überwinden? Unser Gehirn arbeitet so, wenn wir keine Antworten bekommen, dann vervollständigt es ein Bild von unserer Vorstellung, das mit der Realität nichts zu tun hat. Wir wollen diese Information ja unbedingt wissen. Versuche, eine Balance für dich zu finden.
Ich denke, wir müssen Menschen mit Behinderung in unseren Alltag inkludieren. Sobald etwas „normal“ ist, nimmt man es auch als solches wahr. Und aktuell ist dies einfach weit davon entfernt, weshalb sich mein Kopf quer stellt.
Ganz genau. Aus diesem Grund mag ich das Wort Integration nicht, denn Integration wird meiner Meinung nach nur von einer Seite betrachtet. Im Gegensatz zu Inklusion, was immer noch fehlt. Doch das hängt von vielen Faktoren ab, wie Barrierefreiheit, Mentalität und gesellschaftlichen Dingen. So lange wir nicht genug Barrierefreiheit haben, wird dies schwierig sein umzusetzen. Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg, doch es wird noch eine Weile dauern.
Nun aber mal ein Themenswitch. Du hattest einen TEDx Talk. Was mir sehr gut gefallen hat, war dein letzter Satz. Du sagtest, behindert ist nur der, der keine Träume und Ziele hat. Das ist mir ja schon das Herz aufgegangen. Wie war der Talk für dich und wie bist du überhaupt dazu gekommen?
TEDx kontaktierte mich. Sie wollten mich sehen, ich glaube, mein Migrationshintergrund war nicht unschuldig daran.

War dein Vortrag freigesprochen?
Ja, also mit Vorbereitung. Mit TEDx muss man sehr viel trainieren, unter anderem auch mit Psycholog:innen. Da war schon viel los. Ich glaube, sie hatten mich im März oder April kontaktiert und die Rede war im November geplant. Wir arbeiteten viel mit Skript und Körpersprache. Immer und immer wieder wiederholt. Vor der Rede hatte ich dann zwei Tage Probe. Das war ein richtig schönes Gefühl und das erste Mal, wo ich merkte, ich werde geachtet.
Das klingt hammer gut.
Das war ein neuer Paragraph in meinem Leben, an dem ich merkte, in welche Richtung ich mich nun entwickle. Das war wirklich eine tolle Erfahrung. Aufgeregt war ich nur am Anfang, während der Rede gar nicht, obwohl 800 Leute im Publikum saßen, doch ich habe niemanden davon gesehen, es war ganz dunkel. Allgemein war ich richtig entspannt und gespannt.
Hat sich danach etwas für dich verändert?
Ja, ich wurde selbstbewusster!
Mein lieber Anas, ich befürchte, wir haben uns verquatscht. Abschließend würde ich dir jedoch noch gerne etwas Raum geben. Hast du noch eine Frage an mich?
Nein, aber ich wollte mal etwas zu eurer Arbeit sagen. Ich finde das richtig … also wir brauchen so was! Im Bereich Feminismus, Aktivismus und gesellschaftliches Engagement, das ist mega spannend. Vielen vielen Dank, dass ihr da seid.
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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Autor:innen
Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.