“Das war das letzte Mal!” Wie oft hast du dir dieses Märchen schon selbst erzählt? Ich kann dir zumindest keine Zahl nennen, denn die vielen Male, in denen ich mir selbst schon geschworen habe, gewisse Dinge nicht mehr zu tun, sind unzählig. Fast so wie die bundesweiten Lockdowns. Immer wieder steige ich in den Ring, mein Gegenüber: ich selbst. Diese Seite von mir ist stark, meistens leider zu stark. Ich denke, ich kann sie besiegen, weil ich ganz schön clever bin. Doch lass ich sie auch nur für einen Augenblick aus den Augen, schlägt sie zu. Volle Kanone. Ich gehe zu Boden und gebe mich geschlagen. Zum 34534698sten Mal.
Ich bin süchtig. Vermutlich denkst du jetzt an Alkohol oder härtere Drogen. Doch so einfach ist das nicht. Auch wenn es Kaffee, Zigaretten oder andere Dinge sind, die wir schnell unter Abhängigkeiten einordnen, gibt es da auch noch weitere Süchte. Toxische Beziehungen, Stress, Dramen und daraus resultierende selbstzerstörerische Verhaltensmuster. Vielleicht findest auch du dich immer wieder in denselben verletzenden Situationen wieder und fragst dich, hatten wir das nicht schon? Möglicherweise hast du so wie ich in deiner Kindheit oder Jugend ein Trauma erlebt und solange du dich dem nicht stellst, werden deine Süchte weiterhin deine Sinne sezieren.
Falls du jedoch so wie ich die Schnauze voll davon hast, tust du was dagegen. Jemand, der dabei helfen kann? Rose Romain. Die sympathische Wahlpariserin ist selbst seit acht Jahren frei von Süchten und hat es sich zum Ziel gemacht, andere Menschen auf ihrem Weg zur Nüchternheit zu unterstützen. Wie hat sie den Weg aus der Sucht heraus geschafft? Was ist eigentlich Sucht? Warum sind wir alle abhängig von etwas? Wie schaffe ich es in der Gesellschaft anderer keinen Ausrutscher zu machen? Mit all diesen Fragen und noch einigen mehr bin ich zu Rose in den Ring gestiegen. Ready to rumble.
DIEVERPEILTE: Hallo Rose, ich habe viel über dich gelesen und mir auch deinen Podcast “Sober Sex” angehört. Es wirkt auf mich, als wärst du eine sehr komplexe Person, natürlich auf die beste Art und Weise. Kannst du mir helfen, ein besseres Verständnis dafür zu bekommen, wer Rose wirklich ist?
Rose Romain: Haha… Klar! Ich liebe diese Frage. Sind wir nicht alle superkomplex? Aber in der Tat, ich bin so vielschichtig wie alle meine Mitmenschen, nur eben auf meine eigene spezielle Art. Im Herzen bin ich ein Mädchen vom Lande. Aufgewachsen in einer böhmischen und künstlerischen Familie hatte ich das Privileg, in philosophische und reflektierende spirituelle Praktiken eingeführt zu werden. Diese haben sich von Anfang an mit meiner Kreativität ergänzt. Die Natur, das Judentum und der Buddhismus haben mich zu dem gemacht, was ich bin, aber vor allem meine Genesung von Drogen und Alkohol, die vor neun Jahren begann, hat mich dazu gebracht, Raum für all die nuancierten Schichten von Rose zu schaffen und mich ihnen zu öffnen. Seitdem lebe ich in Integrität und Liebe und unterstütze andere auf ihrer Reise zur Akzeptanz.
Woher kommst du und wo lebst du jetzt?
Aufgewachsen bin ich im Südwesten Englands und vor fast zehn Jahren bin ich nach Paris gezogen.
Du arbeitest als zertifizierte Trauma-Informed Recovery Coachin. Kannst du das unseren Leser:innen erklären?
Die wichtigsten Voraussetzungen, um trauma-informed arbeiten zu können, sind Transparenz und Zustimmung. In meinen geführten Sitzungen beziehe ich den Klienten aktiv in den Prozess mit ein. Ich kommuniziere, führe und suche nach nuancierten Traumata. Dabei achte ich auf meine verwendete Sprache, um kein sekundäres Trauma zu verursachen. Es ist wichtig, dem Klienten ein Mitspracherecht über seinen Genesungsprozess zu geben, anstatt irgendetwas anzunehmen oder eine Pauschallösung zu erzwingen. Weil ich trauma-informed bin, heißt das nicht, dass ich eine Therapeutin bin. Es bedeutet vielmehr, dass der Raum geschützt ist und besondere Aufmerksamkeit darauf verwendet wird, keine weiteren Schäden zu verursachen.
Was definierst du unter Trauma und würdest du sagen, dass Trauma ein Teil des Lebens ist?
Trauma ist in der Tat ein Teil des Lebens. Ein Trauma ist ein destabilisierendes und erschütterndes Ereignis, das entweder physisch, emotional oder spirituell sein kann und dem Individuum Schaden zufügt.
Manchmal können kleinere, andauernde Traumata schädlicher sein als die großen Lebenstraumata, auf die man sich oft bezieht.
Warum hast du dich entschieden, dich dafür einzusetzen, anderen auf ihrem Weg zur Nüchternheit zu helfen?
Aufgrund meiner 20-jährigen Erfahrung als professioneller Schauspielerin, Bewegungs- und Stimmkünstlerin habe ich mich ungewollt dabei ertappt, wie ich andere Künstler:innen, die auf ihrem Lebensweg zu kämpfen hatten, als Mentorin unterstützte. So entschied ich mich, einen neuen Weg einzuschlagen, als ich meine letzte Verbeugung vor einem ausverkauften Opernhaus in ‚The Importance of Being Earnest‘ machte. Seitdem nutze ich meine Dynamik, mein Einfühlungsvermögen und meine kreativen Werkzeuge, um anderen als Mentorin zu helfen, sie anzuleiten und professionell zu unterstützen.
Auf deiner Website sagst du, dass du „die echte“ Version von mir herausbringen möchtest? Wie genau?Durch eine liebevolle und bewusste Unterstützung. Durch das Einstimmen auf deine innere Stimme. Durch das Eintauchen in deine blockierenden Glaubenssätze und das Betrachten deiner Denkweise. Dazu verwende ich Ziele und Aktionen, um eine neugierige, ermächtigende und manchmal auch schwierige Reise anzutreiben. Das Ziel: die beste Version von dir herauszubringen. Es geht NICHT darum, die „perfekte“ Version zu sein, sondern das “Echte Du”. Ein Mensch, der fähig ist, sein persönliches und berufliches Potenzial zu erfüllen.
Warum sind wir alle süchtig nach bestimmten Dingen und wo beginnt Abhängigkeit?
Für Sucht und Genesung gibt es keine Patentlösungen. Das ist auch ein Punkt, an dem viele Menschen scheitern. Sucht ist definiert als die fehlende Kontrolle darüber, etwas zu tun, zu nehmen oder zu benutzen, bis zu dem Punkt, an dem es schädlich für einen sein könnte. Wenn man an Süchtige denkt, tauchen vermutlich extreme Bilder wie z. B. die des tabuisierten Problemtrinkers vor dem inneren Auge auf. Wir Menschen neigen dazu, uns einzureden, dass wir “nicht krank genug” sind. “So schlimm ist es ja noch nicht.” Die Gedanken, welche unser Kopf hierbei heraufbeschwört, halten uns jedoch von unserer Reise ab, unser bestes Selbst zu sein. Diese innere Selbstsabotage funktioniert leider ziemlich gut.
Du sprichst offen über die Tatsache, dass du seit 8 Jahren nüchtern bist. Wonach warst du süchtig und was bedeutet Nüchternheit für dich?
Zu Beginn war ich süchtig nach Drama. Chaos war mein Vertrauter und Drogen sowie Alkohol waren der perfekte Sturm. Ich habe Uppers den Downers meistens vorgezogen, aber am Ende meiner Trink- und Drogenkarriere habe ich alles genommen, das mich betäubte. Ich spreche offen über meine Erfahrungen in der Hoffnung, dass sie jemand anderem helfen und das Stigma und die Scham rund um das Thema mit der Zeit abnehmen.
Gab es für dich einen entscheidenden Wendepunkt, an dem du dich dazu entschieden hast, nüchtern zu werden?
Ja, absolut. Ich habe nach einem traumatischen Ereignis versucht aufzuhören. Doch ich konnte es nicht. Obwohl ich sowohl den Drogen als auch dem Alkohol abgeschworen hatte, fand ich mich einige Tage später in derselben Situation wieder. An diesem Punkt wurde mir klar, dass ich eine unsichtbare Grenze überschritten hatte. So schlau und klug wie ich mich auch gehalten hatte, ich konnte einfach keinen Weg zurückfinden. Freunde hatten aufgehört, mir zu vertrauen und ich begann, mich selbst nicht mehr zu erkennen.
Hast du eine spezielle Methode verwendet, um clean zu werden?
Nein, da gab es keine besondere Strategie. Ich habe einfach immer wieder um Hilfe gebeten und die Hilfe angenommen, die kam. Das erschien mir damals wirklich schwierig, vor allem, weil ich in einem fremden Land lebte und das alles ohne ein Zuhause oder Ressourcen bewältigen musste. Doch ich wusste, dass ich nicht zurückgehen konnte. Ich konnte nur nicht sehen, wie die Zukunft aussehen würde.
Was war der schwierigste Teil auf deiner Reise?
Die Suche nach Anerkennung von Menschen, von denen ich zu der Zeit dachte, dass sie auf meiner Seite stehen, die aber nicht unbedingt dazu beitrugen, dass ich die beste Version von mir selbst sein konnte. Es war sehr schwierig, einige dieser Beziehungen loszulassen und darauf zu Vertrauen, dass das Universum neue und positive Verbindungen schaffen wird. Das ist dann auch tatsächlich geschehen, aber mein absoluter Mangel an Vertrauen zu dem Zeitpunkt, als ich nüchtern wurde, war phänomenal. Mit der Zeit wuchs das, aber an meinem Tiefpunkt musste ich tatsächlich eine Menge mutiger Maßnahmen ergreifen, um mein Leben zu retten. Es fühlte sich unfassbar erschreckend an, nicht die Gewissheit zu haben, dass die Dinge so laufen würden, wie ich sie mir erhoffte. Nach und nach hat sich mein Leben jedoch zu einem Leben entwickelt, von dem ich nie hätte träumen können.
Ich bin selbst abhängig. Kaffee, Zigaretten, manchmal auch härteres Zeug. Ich arbeite an mir selbst, um clean zu werden, was solange funktioniert, bis ich mich in der Gesellschaft anderer Menschen wiederfinde. Was würdest du vorschlagen, was in solchen Situationen helfen würde?
Sanft mit dir selbst zu sein, ist in diesen Situationen superwichtig. Außerdem kann es hilfreich sein, Alternativen zu finden, wenn man sich in Gesellschaft befindet. Am Anfang fand ich es wirklich schwer, so sozial zu sein, wie ich es von früher gewohnt war. Also fand ich heraus, dass Treffen tagsüber für den Beginn meiner Genesungsreise besser geeignet waren. Außerdem sollte man eine Sache nach der anderen tun und nicht versuchen, alles auf einmal zu beenden, was ein häufiger Fehler ist. Sei nicht so streng mit dir selbst und frage dich, was würdest du einem Freund sagen, der damit kämpft, aufzuhören? Ich denke, dass es sehr wichtig ist, sich über sein WARUM klar zu werden. Wenn man kein Ziel oder kein WARUM vor Augen hat, wird man nachgeben, wenn ein Verlangen aufkommt. Das Abspielen des Bandes vorwärts kann auch hilfreich sein: Wie willst du dich fühlen, wenn du am nächsten Tag aufwachst? Das Ampelsystem hilft zu sehen, wer sicher ist (grün), bei wem du wachsam sein muss (gelb) und von wem es vielleicht eine gute Idee wäre, am Anfang einen großen Bogen zu machen (rot).
Du bist ein Mitglied des MITC (Music Industry Therapists and Coaches Collective). Woran liegt es, dass gerade Künstler eher Substanzen missbrauchen, um kreativer sein zu können? Was könnte ein anderer Ansatz sein, um unsere kreative Seite zu entfesseln?
Meine Mission ist es, das Stigma zu beseitigen und das Narrativ zu ändern, dass man, um ein erfolgreicher Künstler zu sein, übergeschnappt oder in irgendeiner Weise einzigartig fucked up sein muss. Es ist eine veraltete, fehlerhafte Geschichte, die die Wahl des Lebensstils innerhalb der Musikindustrie und darüber hinaus umgibt. Mit dem ständig wachsenden Interesse an der Umstellung zu Nüchternheit, vor allem in der Generation Z, möchte ich die Menschen dazu ermutigen, sich gegen die fragile „Lad und Ladette“-Kultur zu erheben, die der Gesellschaft seit so vielen Jahren verkauft wird. Ich bin mir des unerwarteten Drucks im Jahr 2020 bewusst, der vielen Karrieren in der Musikindustrie geschadet und die psychische Gesundheit und Süchte vieler Menschen beeinträchtigt hat. Ich hoffe, dass ich durch das Teilen der Berichte anderer, einschließlich meiner eigener, Menschen bei ihren Schritten zur Nüchternheit stärken.
Du bist auch Co-Moderatorin des Sober-Sex-Podcasts? Was ist “Sober Sex”?
Bei „Sober Sex“ geht es nicht nur um penetrativen Sex. Es geht um die Reise zur Intimität. Diese beginnt bei einem selbst und kann entweder einen oder mehrere Partner:innen einschließen. Der Podcast, den ich gemeinsam mit Dj Louisahhh! leite, konzentriert sich darauf, wie Selbst-Integrität, Spiritualität und persönliche Entwicklung für verschiedene Menschen aussieht, während wir lernen, uns selbst sexuell und intim zu akzeptieren.
Stell dir vor, alle Inhalte, die du jemals in die Welt gesetzt haben, wären verschwunden. Was wären deine drei Wahrheiten, von denen du dir wünschen würdest, dass die Welt sie von dir in Erinnerung behält?
Ich liebe diese Frage. Drei Wahrheiten, von denen ich möchte, dass man sich an sie erinnert? Eine sichere, nährende Präsenz mit Integrität und kreativer Begeisterung zu sein.
Hast du Bock mehr über Rose zu erfahren? Dann pronto auf ihre Homepage!

Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.
Foto: Rose Romain

Jetzt DIEVERPEILTE supporten und mit dieser geilen Autorin anstoßen!
Folgt uns auf Facebook, Instagram und Spotify.
Autor:innen
War bis April 2022 Redakteurin bei DIEVERPEILTE. Hat Information, Medien und Kommunikation mit der Vertiefung Journalistik in Österreich studiert. Ihre Themenschwerpunkte sind Gesellschaftpolitik und feministische Themen.