Im September 2019 erfüllte sich mein Traum, nach Berlin zu ziehen. Ich darf meinen Master in der Stadt, die niemals schläft, verbringen und gleichzeitig interessante Menschen aus der ganzen Welt kennenlernen. Ich habe alles genau vor Augen: Mit Freunden vor Spätis sitzen, von Bar zu Bar ziehen oder in den Clubs der Hauptstadt die Nächte durchtanzen. Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass das ab März 2020 nicht mehr möglich sein wird. Das ganze gesellschaftliche Leben steht auf Pause oder findet im virtuellen Räumen statt. Die eigenen Freund:innen oder die Familie zu sehen, ist beinahe unmöglich. Für junge Menschen, die gerade die letzten Jahre ihrer Ausbildung beginnen, ist die Situation ziemlich frustrierend. «Die Studienjahre sind die besten Jahre deines Lebens, genieß die Zeit!», einfacher gesagt als getan, wenn es nichts zum Genießen gibt. 

Noch härter war es für meine Kommiliton:innen, welche aus aller Welt kommen, um in Berlin zu studieren. In einem neuen Land zu sein, in welchem man die Sprache kaum versteht und niemanden kennt, ist schon beängstigend genug. Wenn eine Pandemie die ganze Welt in Atem hält und man nicht weiß, wann und ob man seine Familie wiedersehen kann, wird aus Angst schnell Hoffnungslosigkeit. Viele meiner Kommiliton:innen haben ihre Familien nicht gesehen und wissen auch nicht, wann dies wieder möglich sein wird. Wiederum andere sitzen in ihren Heimatländern fest und wissen nicht, wann sie wieder zurück nach Deutschland kommen können. Aus diesem Grund habe ich meine Kommilitonin Alejandra Santamaría gebeten, ihre Geschichte zu erzählen.

Alejandra Santamaría, 28 (Kolumbien)

Zufällig und viele Jahre lang habe ich an meiner Wand in Bogotá eine Postkarte mit Nofretete, dem Fernsehturm und dem Pantheon, auf der steht: „Berlin is a bitch and then you marry“. Ich ahnte nicht, dass die Postkarte Jahre später Sinn machen wird und wie sich mein Leben durch meine Entscheidung, nach Deutschland zu ziehen, enorm verändert. Berlin war an meinem ersten Tag hier eine absolute Bitch. Ich kam verkatert, mit Jetlag und ein paar Stunden vor dem Einchecken in meinem Airbnb an. Gemietet war es für eine Woche. Ich dachte naiverweise, dass das ausreichen würde, um ein festes Zimmer zu finden. Stunden vergingen, und meine Gastgeberin antwortete nicht auf meine Nachrichten. Als ich sie anrief, nahm ein Mann ab, der sagte, dass er in Chile sei und keine Ahnung habe, wovon ich sprach. Es war viel zu früh in Kolumbien, um meine Familie anzurufen. Es war aber nicht früh genug, mich zu fragen, ob ich einen großen Fehler gemacht habe.

Obendrein zahlte ich meine erste U-Bahn-Strafe, welche sich für mich wie ein kleines Vermögen anfühlte. 5 Stunden in Berlin, 60 Euro weniger und obdachlos waren der Start meines Lebens hier. Aber um fair zu sein, ich bekam viel Hilfe von Leuten aus der Heimat, die mich mit Bekannten vernetzt haben. Auf diese Weise gelang es mir, ein Hotel und zwei Nächte später einen Schlafplatz für drei Wochen zu finden. Schließlich fand ich dann ein Zimmer, von dem ich dachte, dass es mein dauerhaftes Zuhause sein würde. Auf das Zimmer folgten noch ein paar weitere. 

Berlin zeigte mir ein freundlicheres Gesicht, als die Uni begann. Ich würde zwei Jahre lang mit einer sehr unterschiedlichen Gruppe von Leuten studieren, die so gut wie keine ähnlichen Lebenserfahrungen hatten. Das machte das Kennenlernen spannend und öffnete meinen Geist für völlig andere Sichtweisen des Lebens. Der Unterricht war interessant und im ersten Semester hatte ich auch noch relativ viel Freizeit. Zu Hause war ich immer von Menschen umgeben, egal ob es meine Kolleg:innen oder Freund:innen, die nur einen Anruf entfernt sind, waren. Das lenkte mich davon ab, mit mir selbst zu sein und herauszufinden, wer ich bin, wenn ich alleine war. Die Einsamkeit, wenn man auf einem neuen Kontinent ankommt, auf dem man niemanden kennt und die Sprache nicht versteht, ist tief greifend.

Ich erinnere mich an das erste Semester als die Zeit der Anpassung. Meine völlige Unkenntnis der deutschen Sprache verstärkte das Gefühl, ein Neugeborenes zu sein. Ich musste das Leben von Grund auf lernen. Die Zeit verging, Freundschaften wurden geschlossen, einige Clubs wurden besucht und dann wollte ich aufhören, mich anzupassen und anfangen, voll und ganz zu leben. Ich wollte dafür sorgen, dass sich Berlin wie ein Zuhause anfühlt. Als ich mich bereit fühlte, hinauszugehen und die Stadt zu erobern, entschied COVID, dass es nicht der richtige Zeitpunkt dafür war. Ich dachte darüber nach, die Uni auf Eis zu legen und zurück nach Hause zu gehen, bis die Pandemie vorüber ist. Ein Grund in Europa zu leben, war das Studium. Der andere war, reisen zu können. Beides war nur noch bedingt möglich. Meine Eltern schlugen vor, dass ich bleibe. Niemand wusste, wie lange die Krise andauern wird und wie sehr eine Rückkehr mein Leben beeinflussen könnte.

Ich bin mir nicht sicher, ob es Berlin war oder das Leben, das beschloss, eine Bitch zu sein. Als ich mich am glücklichsten und erfülltesten fühlte und meinen ersten Sommer in der Stadt begann, starb mein Vater sehr plötzlich. Das erschütterte die Welt, wie ich sie kannte, in ihren Grundfesten. Der Tod kam so unerwartet und abrupt, dass er dem Leben jeden Sinn raubte. Es war nicht Berlins Schuld, aber es ist schwer, die Abwesenheit meines Vaters davon zu trennen, dass ich hier bin. Ich habe das Gefühl, dass ich dunkle Gefühle gegenüber allem mit mir herumtrage – auch gegenüber der Stadt. Ich habe jetzt viele Dinge, nach denen ich mich eine Weile gesehnt habe: eine stabile Beziehung zu einem Menschen, bei dem ich mich überall zu Hause fühle, eine tolle Gruppe von Freunden, die sich um mich kümmern, eine festere Beziehung zu mir selbst und das Gefühl, dass sich viele Möglichkeiten auf meinem Weg auftun. Aber die Trauer ist ein schwer zu bekämpfendes Monster und die Traurigkeit kann überwältigend werden. Vielleicht wird Berlin jetzt netter zu mir und wir verlieben uns zur gleichen Zeit, in der ich mein gebrochenes Herz heile. Vielleicht werden wir am Ende wirklich heiraten.

Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

BILD: Sofia

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Seit 2020 Redakteurin bei DIEVERPEILTE. Hat Kommunikationswissenschaften studiert und machte 2022 ihren Master in Journalismus. Themenschwerpunkte sind Gesellschaftspolitik, Mental Health und Musik.

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