Als ich im Januar 2021 den Begriff Binge Eating kennenlernte – eine Essstörung, die durch wiederkehrende Essanfälle, allerdings ohne bulimisches Erbrechen, gekennzeichnet ist –, wurde ich stutzig. Ich möchte euch – meinen Leser:innen – gegenüber ehrlich sein und meine Schattenseiten nicht verschweigen: Ja, es stimmt, ich habe ein Problem mit Süßigkeiten. Jahrelang habe ich mir so manche Fressattacke nicht verkneifen können, die schlimmsten gingen sogar über mehrere Wochen und hinterließen Bauchkrämpfe und ein schlechtes Gewissen. Wie ich bei anderer Gelegenheit schon gestanden habe, bin ich ein Suchtmensch. Wenn ich einmal angefangen habe, kenne ich kein Ende. Davon schließe ich Zucker nicht aus. Bereits im Kindesalter habe ich über meinen Hunger hinaus gegessen– aus purer Lust – und dabei alles, was der Kühlschrank hergab. Dass mein Essverhalten ein bisschen anders ist als das anderer Menschen, war mir damals schon bewusst. Ich bin jetzt 29 und frage mich: Was steckt wirklich hinter diesem Verhalten und sind meine Fressattacken eigentlich „gefährlich“?

Darüber spreche ich mit der Sozialpädagogin und systemischen Paar- und Familientherapeutin Nicola Hümpfner. Seit 2018 leitet sie den Bereich Kinder und Jugendliche bei ANAD e.V. – einem Versorgungszentrum für Menschen mit Essstörung in München. Zu ihren Klient:innen gehören Jugendliche zwischen 12 und 21 Jahren mit verschiedenen Arten von Essstörungen wie Magersucht, Bulimie und dazugehörigen Mischbereichen sowie atypischen Essstörungen  – oder eben Binge Eating.

Frau Hümpfner, mal angenommen, ich hätte die letzte Woche damit verbracht, Süßigkeiten in mich hineinzustopfen – so lange, bis der Bauch schmerzt. Was würden Sie mir raten?
Raten würde ich Ihnen erst mal gar nichts. Mich würde zunächst interessieren, ob das etwas ist, was einmal vorgekommen ist oder etwas, das häufiger vorkommt. Was ich sehr wichtig finde, zu unterscheiden. Und dann würde ich fragen, war da etwas besonderes los, als das passiert ist? Also war es ein sehr stressiger Tag? Weil grundsätzlich ist das ja kein Problem, wenn man mal viele Süßigkeiten zu sich nimmt. Die Frage ist nur, warum ist es dazu gekommen und ob es häufiger vorkommt. So könnte man sich da langsam herantasten, um zu verstehen, ob ein Problem zugrunde liegt.

Seit ich denken kann, verfalle ich in unregelmäßigen Abständen unkontrollierten Essanfällen. Eine schlechte Angewohnheit, die ich im Teenageralter entwickelte. Gründe für meinen Kontrollverlust sind zum Beispiel Stress oder Zeiten, in denen ich mich einsam fühle.
Das müsste man sich natürlich näher anschauen. Diese Essanfälle, wie sie beim Binge Eating vorkommen, die dienen ja meistens dazu, unangenehme Gefühle zu überdecken. Das kann Einsamkeit oder Langeweile sein, das kann aber auch zu viel Stress sein. Man muss es vielleicht so verstehen: Gesunde Menschen haben verschiedene Methoden, um mit unangenehmen Gefühlen umzugehen. Das kann mal die Tafel Schokolade sein und in einem anderen Moment ist es vielleicht die Hose beim Shoppen, die man nicht gebraucht hat. Kann aber auch sein, dass man sich einfach mal in die Badewanne legt, um Stress loszuwerden oder zum Sport geht oder mit einer Freundin telefoniert. Wenn man quasi über so eine Art Blumenstrauß von verschiedenen Methoden verfügt, um mit Stress umzugehen und eine davon ist, dass man mal viel isst, dann ist das aus meiner Sicht okay.

Aber?
Wenn man ein Essproblem hat, dann neigt man dazu, auf unangenehme Gefühle immer wieder mit dem Thema Essen zu reagieren. Und wenn man etwas ständig wiederholt, wie in diesem Beispiel, dass man Süßigkeiten isst, bis der Bauch wehtut und dieses Verhalten sozusagen einübt, dann ist das eine Methode, die man sehr schnell anwendet und die dann auch effektiv zum gewünschten Effekt führt. Nämlich, dass man sich erst mal besser fühlt – und danach schlecht.

Nach der Trennung meiner Eltern beobachtete ich immer wieder, dass meine Mutter zu unkontrollierter Nahrungsaufnahme neigte, was sie vermutlich auch auf mich und meinen Bruder übertrug. Wir hatten in unserer Jugend beide mit Gewichtsproblemen zu kämpfen. Wie viel Einfluss haben Eltern auf ihre Kinder, wenn es um einen gesunden Umgang mit dem Thema Ernährung geht? Und wie beeinflusst das Essverhalten der Eltern das ihrer Kinder?
Da haben die Eltern natürlich einen sehr großen Einfluss und zwar auf zwei Ebenen. Das eine ist, wir essen natürlich viel von dem, was wir von zu Hause kennen. Also wenn Eltern sehr viel Fast Food oder viel Gemüse und Obst essen, sind das die Lebensmittel, die wir kennen. Wir essen bis zu sechsmal am Tag und das unsere ganze Kindheit durch, das sind einfach Gewohnheiten: Was wird mir angeboten oder auch, wie wird es mir angeboten? Essen wir zusammen am Tisch, ist es ein angenehmes Gefühl für mich, mit der Familie zusammen zu sitzen oder kommt jeder heim und isst dann, wie es ihm passt – nebenbei oder vor dem Fernseher?

Also greifen Dinge, die wir aus der Kindheit kennen und die wir dann vielleicht auch so übernehmen. Genau. Deswegen hat das allein schon einen großen Einfluss. Aber darüber hinaus hat man als Elternteil auch enormen Einfluss auf sein:e Kind:er und wie man mit dem großen Thema umgeht. Vorhin sagte ich zum Beispiel: Wie verarbeite ich Stress? Was kann ich meinen Kindern für ein Vorbild sein? Oder was habe ich für ein Frauen- und Männerbild? Besonders die Töchter gucken sich da viel von ihren Müttern ab und die Söhne von den Vätern. Wenn ich als Tochter erlebe, dass sich meine Mutter zu Beginn des Frühlings schon Gedanken um die „richtige“ Bikinifigur macht und dadurch ins Diäthalten kommt oder ich erlebe, dass meine Mutter von einem anstrengenden Tag nach Hause kommt und vorm Fernseher isst, dann ahme ich das natürlich viel eher nach.

Wie kann man sich als Erwachsener die negativen Verhaltensmuster der Eltern abtrainieren?
Abtrainieren finde ich, ist der falsche Begriff. Wenn es jetzt eben, wie Sie auch sagen, mit unangenehmen Gefühlen wie Einsamkeit oder Stress einhergeht, dann sollte man meiner Meinung nach an den Ursachen arbeiten, zum Beispiel: Wie schaffe ich es, in meinem Job besser mit Stress umzugehen oder bestenfalls ganz zu verhindern, dass ich gestresst bin. Oft ist es so, dass Menschen, die unter Binge Eating leiden, vielleicht auch nicht gut „Stopp“ sagen können.

Haben Sie ein Beispiel dafür?
Sie bemerken möglicherweise im Job, dass der Chef oder die Chefin immer mehr Arbeit abgibt, sie es aber nicht schaffen, ausreichende Pausen einzuplanen oder eben „Stopp“ zu sagen. Dies führt dazu, dass man den ganzen Tag über die eigenen Grenzen geht und dann am Abend mit den gewohnten Essanfällen reagiert. Diese Ursachen gilt es zu beheben.

Wie macht man das?
Indem man sich fragt, warum man sich gestresst oder einsam fühlt. Es empfiehlt sich auch, gezielt therapeutische Unterstützung zu suchen. Im zweiten Schritt geht es darum, den Blumenstrauß – Sie erinnern sich?– wieder breiter aufzufächern, aber auch das sollte therapeutisch angeleitet erfolgen. Also kann ich vielleicht auch mal in die Badewanne gehen, oder rufe ich das nächste Mal eine Freundin an, um mich abzulenken, wenn es mir schlecht geht oder mache ich einen Spaziergang. Man greift also auf die Methodenvielfalt zurück und lernt dadurch neue Skills.

Wie sieht die Therapie dahinter aus?
In der Therapie von Binge Eating geht es darum, Essanfälle bewusst hinauszuzögern. Dieser Automatismus „Ich bin gestresst zu Hause und fange sofort mit dem Essen an“ wird verhindert und stattdessen versucht, dem Drang zu widerstehen. Dabei wird die Zeit immer mehr hinausgezögert. Bis zu dem Punkt, an dem man sie gar nicht mehr braucht.

Helfen regelmäßige Essenszeiten, um unerwünschten Essanfällen entgegenzuwirken?
Das auf jeden Fall. Denn ein Grund für Essanfälle könnte sein, dass man den ganzen Tag Diät gehalten hat – entweder absichtlich oder im Stress –, sodass man gar nicht zum Essen gekommen ist. Das kennt jeder gesunde Mensch, der schon mal hungrig in den Supermarkt gegangen ist. Da steht man plötzlich vor dem Regal und denkt sich: Ich möchte mir eine Suppe machen, ich habe aber auch Lust auf Brot und dann mache ich mir einen Salat und dann will ich noch ein Schnitzel und dann kaufe ich mir noch Süßigkeiten. Der Körper funktioniert eben einfach noch wie in der Steinzeit. Wenn man lange Zeit nichts bekommen hat, geht man auf Nahrungssuche. So funktionieren wir auch heute noch.

Die Szene aus dem Supermarkt kenne ich zu gut.
Diesbezüglich ist regelmäßiges Essen ein guter Schutz gegen Essanfälle. Dies nehmen viele Betroffene nicht wahr oder sie wollen es nicht machen, weil sie der Meinung sind, dass sie am Abend bereits so viele Kalorien bei einem Essanfall zu sich genommen haben und dadurch bedingt am nächsten Morgen das Frühstück weglassen. Und der Teufelskreis aus Diäthalten und Heißhunger beginnt von vorne.

Wenn wir noch mal zu meinem Fall zurückgehen: Ich sorge mich mehr um das Verhaltensmuster, das hinter den unkontrollierten Essanfällen steckt und weniger darum, ob ich zugenommen habe. Das glaube ich zumindest.
Das ist ja schon mal eine gute Voraussetzung, den Mechanismus zu durchbrechen.

Sie hatten angesprochen, dass wir das Essverhalten unserer Eltern übernehmen. Wenn diese zum Beispiel gestresst nach Hause kommen, was können Eltern in diesem Fall anders machen? Gerade dann, wenn sie gezielt nicht möchten, dass die Kinder in die gleichen Muster fallen.
Was ich immer gut finde, ist, wenn Eltern gestresst sind, dass sie versuchen, für sich selbst etwas zu verändern. Wenn wir nur etwas verändern, damit die Kinder etwas nicht übernehmen, dann führt das vielleicht eher dazu, dass die Eltern heimlich essen, damit die Kinder nicht sehen, dass sie stressbedingt essen oder so. Natürlich ist es eine Möglichkeit, damit es sich nicht auf die Kinder überträgt. Es ist nur die Frage, ob das auch glaubhaft rüberkommt.

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Alle Illustrationen: Laura Sistig

Zudem ist dies ein typisches Merkmal für einen ungesunden Umgang mit sich selbst, also das heimliche Essen.
Eben. Es ist ein guter Ansatz, wenn man nicht möchte, dass sich schlechte Gewohnheiten auf die Kinder übertragen, wenn man sich selbst überprüft und herausfindet, ob es nicht für einen selbst besser wäre, schlechte Gewohnheiten abzulegen. Und da geht es – wie gesagt – genau darum, die Ursachen zu beleuchten: Warum bin ich so gestresst? Gibt es andere Wege, dem vorzubeugen, wie Meditation, Achtsamkeitsübungen oder eine Reduktion der Arbeitsstunden. Vielleicht hilft es, mit dem/der Arbeitgeber:in zu sprechen und offen anzusprechen, dass ich dieses Pensum nicht leisten kann, um damit besser umzugehen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, an den Ursachen zu arbeiten.

Gilt das ebenfalls im Umgang mit Kindern?
Es ist natürlich schön, den Kindern zu Hause ein Vorbild zu sein mit genau diesem Thema: Wie gehe ich mit Stress um? Man kann seinen kleineren Kindern ehrlich sagen: Ich gehe jetzt in die Badewanne und brauche mal eine halbe Stunde für mich, weil ich einen anstrengenden Tag hatte. Danach bin ich wieder für euch da. Das sind Aspekte, bei denen man sich selbst und gleichzeitig auch den Kindern etwas Gutes tun kann. Weil man den Kindern Methoden an die Hand gibt, wie Erwachsene mit Stress umgehen.

Kommt es häufig vor, dass sich die Essstörung der Eltern auf die Kinder überträgt? Wie ist das bei den Jugendlichen, die sie betreuen?
Wir haben schon Jugendliche, deren Eltern Essstörungen haben oder hatten. Aber man kann jetzt nicht pauschal sagen, dass jede:r Jugendliche, die/der eine Essstörung hat, auch Eltern hat, die unter einer Essstörung leiden. Natürlich ist es jedoch schwer, wenn Eltern selbst unter einer Essstörung leiden, das Kind optimal zu versorgen.

Wie äußert sich das?
Darin, dass Eltern unsicher sind, wie viel sie ihrem Kind zu essen geben sollen. Ist es okay, wenn mein Kind zum Beispiel jeden Tag eine Banane essen will oder sind das dann zu viele Kalorien für mein Kind? Dadurch wird es schwieriger für das Kind, ein bedarfs- und bedürfnisgerechtes Essverhalten zu erlernen. Wenn dies bereits von den Eltern kontrolliert wird oder wenn Eltern selbst sehr unkontrolliert essen, ahmen Kinder dieses Verhalten oftmals nach. Tatsächlich ist es so, dass es ein Risikofaktor für eine Essstörung ist, wenn die eigenen Eltern eine Essstörung haben, Diät halten oder ein ungesundes Essverhalten haben.

Gibt es einen Unterschied zwischen Mädchen und Jungen?
Bei Essstörungen sagt man, jeder zehnte Betroffene ist ein Junge oder ein Mann. Die restlichen neun sind dann Mädchen oder Frauen. Wobei man davon ausgeht, dass die Dunkelziffer bei Männern deutlich höher ist, weil Männer sich zu einer „Frauenkrankheit“ wie Essstörungen nicht bekennen und sich erst viel später Hilfe holen. Während der Pubertät ist es so, dass mehr Mädchen ein gestörtes Essverhalten haben als Jungs. Es ist nicht genau bekannt, warum das so ist, doch es gibt dazu ein paar Hypothesen: Sicherlich ist es so, dass Mädchen sich entgegen einem Schönheitsideal entwickeln, weil Mädchen Busen kriegen, der Popo breiter wird und insgesamt die Rundungen weiblicher und runder werden.

Sie meinen also, dass die eigenen körperlichen Veränderungen von den Mädchen in der Pubertät weniger akzeptiert werden?
Ja, weil das verzerrte Schönheitsideal von heute eben vorgibt, dass Frauen schlank, durchtrainiert und sportlich sind. Deshalb müssen Mädchen erst lernen, damit umzugehen. Jungs entwickeln in der Pubertät mehr Muskeln, was dem Schönheitsideal eher entspricht. Für Mädchen ist es eine große Aufgabe, mit diesem – durch die Pubertät – veränderten Körper umzugehen.

Woher kommen diese Schönheitsideale?
Da kann man sicherlich drüber streiten, aber ich denke, dass medial ein größerer Druck auf Frauen ausgeübt wird. Es gibt eine enorm große Industrie an Kosmetikprodukten für Frauen. Sie haben mehr Empfänglichkeit für Modemagazine und Einflüsse durch soziale Medien wie Instagram. Von daher glaube ich, dass da ein stärkerer Druck auf Mädchen liegt als auf Jungs. Die haben ihn zwar auch und sicher gibt es für Jungs genauso muskulöse Schönheitsvorbilder, doch ich denke, für Mädchen ist der Druck noch mal größer.

Welche Langzeitfolgen kann es mit sich bringen, wenn junge Menschen früh mit dem negativen Ernährungsverhalten ihrer Eltern konfrontiert werden?
Es kann zu einem negativen Ernährungsverhalten führen – bis hin zur Essstörung. Wir sind Gewohnheitsmenschen. Das heißt, je öfter wir etwas üben, desto eher machen wir es später immer noch so. Ich hatte mal eine Mutter in der Beratung, die mich fragte, ob es für ihre vierjährige Tochter zu viel Zucker wäre, wenn sie nach jedem Essen ein Stück Schokolade bekommt.

Was haben sie geantwortet?
Ich sagte ihr, dass sie mit einer Ernährungsexpertin besprechen könne, wie viel Zucker dies über den Tag verteilt ausmacht. Doch etwas anderes macht mir da Sorgen.

Und zwar?
Wenn ich nach dem Frühstück nach jedem Apfel und nach allem, was ich esse, ein Stückchen Schokolade esse, werde ich mir das als Erwachsener nicht so einfach abgewöhnen. Dann werde ich sagen: Immer wenn ich etwas gegessen habe, habe ich so Lust auf was Süßes.

Quasi als Belohnung.
Resultierend aus der erlernten Verbindung. Wir Erwachsenen ticken leider oft nicht mehr so, dass wir auf diese Fragen achten: Was sagt mir mein eigener Körper? Was brauche ich jetzt? Sondern wir gehen mehr nachdem, was die Rahmenbedingungen so hergeben. Wenn die Kantine um zwölf Uhr aufmacht, dann sind irgendwann alle konditioniert darauf, um zwölf Uhr Hunger zu haben, weil sie es gewohnt sind, um diese Zeit zu essen. Und deswegen schauen sich die Kinder das Ernährungsverhalten der Eltern ab. Das kann vielleicht ein ungesundes Ernährungsverhalten fördern, aber auch – je nachdem wie stark das Essverhalten gestört ist – zu einer erheblichen Essstörung führen.

Wie viele Menschen in Deutschland sind von einer Essstörung betroffen?
Das kann ich Ihnen so nicht sagen, zumal die Zahlen während der Corona-Pandemie ganz massiv nach oben gegangen sind. Wir erleben eine Stagnation der Zahlen vor der Pandemie; in den letzten zehn bis fünfzehn Jahre haben sich Essstörungen nicht mehr verbreitet als in den Jahren davor. Doch seit der Corona-Pandemie erleben wir einen massiven Zulauf in Kliniken, in Psychiatrien und in Beratungsstellen. Zunehmend von Jugendlichen, die beschreiben, dass sie durch den Lockdown und die verunsichernde Zeit zu Hause sowie den vergrößerten Fokus auf sich selbst in eine Essstörung gerutscht sind.

Was kann man als Elternteil tun, wenn man merkt, dass das Kind ein negatives Essverhalten übernimmt? Kann man sich bei Ihnen Hilfe holen?
Jederzeit. Es gibt ANAD e.V. oder andere Beratungsstellen für Essstörungen, in denen man sich beraten lassen kann. Manchmal reichen bereits zwei bis drei Gespräche, um ein Verhalten zu ändern. Wenn Eltern tatsächlich selbst unter einer Essstörung leiden, dann reicht das nicht aus. In dem Fall macht es Sinn, sich selbst an das Thema heranzutasten, zum Beispiel online oder mittels telefonischer Beratung. Hilfreiche Fragen, die man sich vorab stellen könnte, wären: Komme ich da alleine raus? Kann ich das Verhalten allein verändern? Oder brauche ich eine längerfristige Begleitung und wo bekomme ich die her?

Und wie geht man damit um, wenn man merkt, dass eine Person im eigenen Umfeld zu einer Essstörung neigt?
Das Wichtigste ist, es anzusprechen. Ich werde immer wieder gefragt, ob man etwas falsch machen kann, wenn man jemanden mit dem Verdacht auf eine Essstörung anspricht. Ich sage immer Nein. Das Schlimmste, was man machen kann, ist nichts zu sagen.

Wie kann man ein solches Gespräch einleiten?
Wichtig ist immer, Ich-Botschaften zu senden. Also von eigenen Sorgen oder Beobachtungen zu sprechen. Schwierig ist es, wenn man mit dem Kopf durch die Wand will und die betreffende Person zu streng konfrontiert. Gut wäre: „Du, ich habe da etwas beobachtet und das bereitet mir aus den und den Gründen Sorge“. Es ist immer wichtig, dass man es anspricht. Es kann passieren, dass Betroffene versuchen, die beobachtete Situation zu widerlegen, indem sie sagen „Ja ja, da habe ich aber nur so schlecht gefrühstückt, weil …“ oder „Als du gesehen hast, dass ich nach dem Essen aufs Klo gegangen bin, hatte ich Bauchprobleme“. Es ist wichtig, dass man sich auf das Detektivspiel nicht einlässt. Es ist wenig sinnvoll, dagegen zu kontern, indem man sagt  „Das stimmt doch gar nicht, in der Woche hattest du deine Tage doch gar nicht“. Sondern dass man authentisch sagt: “Ich höre, dass du alles widerlegst. Und trotzdem bleibt bei mir das Gefühl, dass ich mir Sorgen um dich mache.”

Liebe Frau Hümpfner, ich danke ihnen für dieses informative Gespräch. Ich habe das Gefühl, dass ich meine Situation viel besser einschätzen kann. Ich werde versuchen, die Methode mit dem Blumenstrauß anzuwenden, wenn ich merke, dass es mir schlecht geht. Möchten Sie unseren Leser:innen etwas mit auf den Weg geben?
Ich danke ihnen ebenfalls. Meine Empfehlung an die Eltern ist, sich regelmäßig selbst zu reflektieren: Was bin ich für ein Vorbild? Was kann ich für mich selbst verändern? Kinder lernen durch Nachahmung. Das bedeutet, wenn ich selbst gut auf mich aufpasse, wenn ich selbst sagen kann, was ich brauche und was ich nicht brauche, lernen das die Kinder automatisch. Das ist eine absolute Win-Win-Situation für Eltern und Kinder. Und man kann sich jederzeit – auch mit Unterstützung – auf den Weg machen.

ANAD bietet dir in München ein qualitativ hochwertiges und erfolgsversprechendes Therapieprogramm an, damit du deine Essstörung dauerhaft hinter dir lassen kannst. Hier kannst du mehr darüber erfahren.

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Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.

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