Liebe Body Positivity,

du kennst mich.

Vielleicht nicht persönlich, vielleicht nicht ganz so gut wie ich dich, aber trotz all dem kennst du mich. Lass mich dich erinnern. 

Ich bin keine dünne Frau über dreißig, ich habe noch nie in Größe 42 gepasst und ich nehme stark an, dass man mich in einem Brandy-Melville-Geschäft erschlagen würde. Kurzum, ich bin fett. Ich war schon immer fett. Ich werde immer fett sein. Und dass ich diese Hauptsätze überhaupt aneinanderreihen kann, ohne aus der Nase zu bluten, verdanke ich einer zufälligen Entdeckung von vor acht Jahren: Dir. 

Ich war 16 gewesen und konnte mich nicht erinnern, wann ich zum letzten Mal kurze Ärmel im Sommer getragen hatte. Aus irgendeinem Grund schien YouTube Mitleid zu haben und empfahl mir ein Video über Bikinis. Aber etwas war anders. Die Frau in dem Video sah aus wie ich. Sie war nicht ein wenig breiter als andere, sie war fett. Sie war wunderschön. Und sie trug Bikinis, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Als ich ihr zusah, verknüpften sich ein paar Nervenbahnen in meinem Gehirn neu und ich wünschte, das wäre das Ende meiner Reise gewesen. Es war der Tag, an dem ich dich traf, Body Positivity. Und du warst so wunderbar, mit deinen ausgebreiteten Armen und dem Lächeln auf den Lippen.

Aber so gut es sich auch anfühlte, etwas gezeigt zu bekommen, was weder TV noch Film für sehenswert hielten, umso leerer scheint es mit Abstand. Body Positivity, das ist leider der Moment, in dem ich dir den wahren Zweck meines Briefes offenbaren muss. Wir sind Freundinnen, du und ich. Aber Freundschaften leben sich manchmal auseinander. Und das hier ist unser Abschied.

Du bist zwar eine nette, weiße Frau mit Kurven an den richtigen Stellen, langen Haaren und roten Lippen, aber das macht dich nicht zur Erlöserin der Fetten. Du halfst mir nicht, als meine Kinderärztin mir zur Gewichtsabnahme gratulierte, ohne je zu fragen, ob ich nicht schon auf einem guten Weg in die Essstörung war. Du hieltst nicht meine Hand, als eine Arzthelferin auf meinen Teenager-Körper zeigte und abschätzig über meine Dehnungsstreifen sprach. Du stelltest dich nicht vor mich, als mein Großvater meiner Mutter anbot, für eine Fettabsaugung zu sparen, während ich auf der Rückbank saß. Body Positivity, du kannst mir nur immer im Nachhinein versichern, dass es in Ordnung ist, meinen Körper zu mögen. Aber ich will einfach nur existieren. 

Es ist ein einfacher Appell, der bei den meisten Menschen auf taube Ohren stößt. Sie sagen, ich soll auf meine Gesundheit achten, aber ich bin nicht krank. Als ich 14 war, bezahlte meine Krankenkasse sechs Termine bei einer Ernährungsberaterin, die zum Erstaunen aller feststellte, dass mein Essverhalten ziemlich unspektakulär sei. Sie empfahl mir, nur zu essen, wenn ich hungrig bin. Früher konnte ich vor der Schule nie wirklich essen. Aber ich bin kein Teenager mehr, wann verstehe ich das endlich? Zehn Jahre später nehme ich immer noch kein Frühstück zu mir, obwohl ich genau um meinen Hunger weiß. Obwohl es in Ordnung ist, sich zu ändern. Zehn Jahre Hunger. Was soll ich dir sagen? Es ist ein ewiger Kampf.

Seit der Schönheitsoperationsidee meines Großvaters sind ein paar Jahre vergangen. Immer mal wieder machte er sich in der Zwischenzeit einen Spaß daraus, mich nach meinem Gewicht zu fragen – meistens am gefüllten Esstisch vor der ganzen Familie. Heute fragt er meine Mutter manchmal, warum ich nicht gerne Zeit mit ihm verbringe und es ist wirklich schwer in Worte zu fassen, wie unmöglich es mir noch immer scheint, ihm in die Augen zu sehen. Es sind dieselben Augen, die ein kleines Kind für nicht ästhetisch genug empfanden. Sie sind der Grund, aus dem ich mich oft gefragt habe, ob ein schlankerer Körper ein besseres Leben bedeutet hätte. Sogar mehr Freunde, eine unschuldige Teenager-Liebe oder ein angenehmeres Gefühl für meine eigene Identität? Ich sage dir eins: Die Tatsache, mit 10 Jahren herausgefunden zu haben, dass Liebe vielleicht doch Konditionen hat, würde ich lieber wieder vergessen. Es ist schwer zu ergründen, wer man ist, wenn man sich am liebsten vor der eigenen Familie verstecken will. 

Es ist seltsam, weißt du, denn so viele Geschichten – von Mädchen wie mir – handeln in der Schule, erzählen von fiesen Jungs und dem Status der ausgegrenzten Fetten. Ich fühle mich fast schuldig, dass es mir nie so ging. Vielleicht hätte ich in der Not noch eher zu dir gefunden und auch längere Zeit mit dir verbracht. Doch meine Freundin hat in unserem Leben noch nie meinen Körper erwähnt, weil ich für sie mehr bin als das. Stell dir vor: Für sie bin ich mehr als mein Körper, als der anscheinend größte Fehler meiner Existenz. Du und sie, ihr habt mich beide so genommen wie ich bin.

Aber die schlimmsten Dinge passierten nur hinter verschlossenen Türen: Worte, die sich in meinem Kopf für immer festgesetzt haben. Mein Großvater, ja, aber auch Ärzte, Menschen die es besser wissen müssten. Fuck, Body Positivity, ich erinnere mich noch so gut an den Mann, der meine Wirbelsäule untersuchen sollte und stattessen einen Vortrag über Diabetes hielt. Ich war 14 und habe die gesamte Rückfahrt leise gegen die Fensterscheibe geweint. Wer macht sowas? Ach ja, medizinisches Fachpersonal. Wer braucht stereotypische Klassentyrannen, wenn es da draußen unzählige Erwachsene gibt, die den Job viel besser machen? Es ist ja beinahe lustig, zu denken, dass manche von ihnen es unter dem Deckmantel der Besorgnis tun. Schön zu wissen, dass ein fettes Mädchen so viel hasserfülltes Mitgefühl entfacht, während Rauchen, Trinken und psychische Gesundheit gerne abgetan werden. Waffe gegen meine Stirn, ich vermute fast, es könnte daran liegen, dass man diese anderen Dinge nicht ganz so gut mit einem Blick erkennen kann. Nein, nichts wiegt so schwer (ha!) wie der Fehler eines rebellischen Körpers.

Aber bei dir habe ich später immer Zuflucht gefunden, und das werde ich nie vergessen.  Weißt du noch das erste Mal, als ich im Sommer wieder ohne Strickjacke rausging? Ich weiß, es ist ein lahmes Standard-Ritual unter deinen Anhängern, aber es zählt. Genau wie der Strandurlaub letztes Jahr, mein Körper im Badeanzug und die Welt hat sich weitergedreht. Am Ende ist es nur ein Körper, weich und wertvoll genug, Platz einzunehmen.

Aber: Wo warst du davor, Body Positivity? Ich hätte dich gebraucht. Können wir zusammen in der Zeit zurückreisen und dem ganzen Mist ins Gesicht lachen? Würdest du dieses Mal zu mir kommen, wenn ich allein auf der Toilette eines Restaurants Tränen unterdrücke, weil mein Großvater spontan nach meinem Gewicht fragt? Vermutlich nicht. Ich weiß, du bist heutzutage sehr beschäftigt. Deine Kapazitäten sind ausgelastet von immer neuen Hilfsbedürftigen, auch denen, die dich vielleicht nicht wirklich brauchen. Auch denen, die nicht ganz verstehen, dass fett genannt zu werden und fett zu sein zwei verschiedene Dinge sind. Ich heiße sie willkommen, aber sie erinnern mich an die Mädchen in der Sportumkleide, die sich ihre nicht existenten Fettpolster zeigen, während ich mein XXL-T-Shirt ausziehe. Ist man überhaupt ein Mädchen, wenn man seinen Körper nicht hasst? Ist man eine Frau, wenn nicht alles außer dem Aussehen die zweite Geige spielt?

Ach, Body Positivity, du kannst Fatphobia letztendlich nicht alleine die Stirn bieten. In meinem Urlaub sagte ich es mir immer wieder: Es ist egal, was andere denken. Das hast du mir beigebracht und es hilft ungemein. Egal. Egal. Egal. Aber wo liegt die Grenze zu dieser Apathie? Nur, weil es mir dank dir besser geht, ändert sich die Welt nicht. Neulich saß ich in der Straßenbahn und eine ebenfalls unübersehbare Person stieg ein. Eine alte Dame lehnte sich zu ihrem Enkelkind und flüsterte: „Diese Frau ist krank.“ Ich wollte schreien. Vielleicht stimmt es ja sogar, aber gibt es irgendjemandem das Recht, so zu urteilen? Seit ich ein kleines, fettes Kind war, liegt mir die Wahrheit in den Knochen: Ich bin für manche Personen weniger ein Mensch; mehr ein Ding zum Anstarren. 

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Anne Stiefler, Mitte März in Leipzig © Max Schlag

Ich bin ehrlich zu dir, Body Positivity: Du machst uns nicht menschlicher gegenüber denen, die uns unattraktiv finden. Du machst Kleidung nicht inklusiver. Du machst Ärzt:innen nicht vorurteilsfrei. Du kannst Fatsuits in Filmen nicht unbrauchbar machen oder dafür sorgen, dass ich mich nur einmal in einer Schauspielerin erkennen kann, die mir nicht sofort den Rücken kehrt, um mit Lachs und Ozempic ihren Körper zu schmälern.

Du kannst der Geschichte kein Happy End geben. Nur ich kann das. Glaub mir, wenn ich sage, dass ich dich vermissen werde. Du warst eine gute Weggefährtin, hast mich deinen Freunden Body Neutrality und Fat Liberation ohne Widersprüche vorgestellt. Du hast mir geholfen zu werden, wie die Frau im Video. Ein Landwal wie ich, im Bikini und mit Eistüte in der Hand, kannst du dir das vorstellen? Das warst du. Du und ich.

Also, bitte sei mir nicht böse, aber dies ist das Ende unseres gemeinsamen Weges. Ich muss aus der Bequemlichkeit der Selbstliebe heraus und härter werden. Nicht für mich selbst, sondern für andere. Für die Person in der Straßenbahn. Für meine kleine Schwester, die sich zu Weihnachten im Spiegel ansah und für zu fett erklärte. Für Menschen wie meine beste Freundin, die sich allein fühlen. Deine anderen Freund:innen nehmen mich bei der Hand, um neue Dinge zu erschaffen und Wände einzureißen. Wir lassen dich nicht zurück, wir verabschieden uns nur vorerst. Und irgendwann treffen wir uns dann wieder. Vielleicht am Strand, wo du uns neue Mitstreiter:innen vorstellst. Ich kann es kaum erwarten.

Du hast mir so viel bedeutet, aber irgendwo zwischen dem ersten Video und gestern bin ich dir entwachsen; unsere gemeinsame Zeit war von Anfang an gemacht, um zu enden. Body Positivity, du kennst das Ende vom Lied – nichts, was Gold ist, bleibt, und du warst nie golden, aber du warst sanft und einfach und nett. Ja, es ist leicht, sich mit seinem Körper zufrieden zu geben, ein Sommerkleid anzuziehen und so zu tun, als hätte man das Schlimmste überwunden. Für eine Weile habe ich genau das auch getan und es war gut. Es war richtig gut. Aber ich sehe jetzt, dass es nicht ausreicht, nur für sich selbst zu sein. Wenn ich jetzt nicht gehe, dann gehe ich nie, dann bleiben wir zusammen stecken, in dieser einfachen Nettigkeit. Aber ich will wütend sein, und das bedeutet, eine andere Richtung einzuschlagen.

In Liebe, 

Anne.

AUTORIN: ANNE STIEFLER, ALLE FOTOS: MAX SCHLAG

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One Comment on “Bye Bye Body Positivity”

  1. Wollte nur mal der Autorin das Feedback dalassen, dass ich ihren Text nicht nur inhaltlich sehr berührend fand
    (und ihren Blick auf das Thema teile),
    sondern auch ihren Stil sehr mochte (ich weiß, subjektive Wertung, aber ich fand den Text wirklich ausdrucksstark und kraftvoll geschrieben und hab ihn echt gern gelesen).

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