Meine Mutter hat mich davor gewarnt nach Barcelona zu ziehen. Mein Großvater auch. Meine Tante war ebenfalls nicht begeistert und mein Bruder hält mich für bescheuert. Wie man sieht habe ich es trotzdem gemacht. Ich habe mich in den Flieger gesetzt und bin in das Corona-Risikogebiet gezogen. Dort habe ich Benik getroffen, er arbeitet seit fünf Jahren als Kellner in der Bar Rodrigo. Normalerweise wird Barcelona zu dieser Jahreszeit von Touristen überrannt, nun ist Ruhe. Was Benik belastet, habe ich mir lange ersehnt.

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Foto: Tomas Russi 

Am späten Nachmittag scheint Barcelonas Altstadt beinahe stillzustehen. Normalerweise wäre es unmöglich, zu dieser Jahreszeit mit dem Fahrrad durch die engen Fußgängerpassagen zu fahren. Ich bin gerade auf dem Heimweg vom Strand und beschließe, mein Abendessen vorzuziehen, indem ich eine Paella in der Bar Rodrigo zu mir nehme. Das Lokal erinnert mich an einen begehbaren Kleiderschrank, nur eben ohne Kleider. Kein einziger Gast sitzt darin. Benik lebt schon sein Leben lang in Barcelona, seine Familie stammt aus Armenien. Wir sind uns schnell einig: So einen Sommer gab es noch nie. Sein Gesichtsausdruck lässt mich erkennen, dass er die Situation nicht so genießen kann wie ich. „Die letzten fünf Jahre habe ich in dieser Bar hier gearbeitet. In den vergangenen Monaten hat sich meine Arbeitssituation stark verändert. Weniger Stunden zum Arbeiten und kein Trinkgeld.“ Schuld daran sind die ausbleibenden Touristen. Barcelona ist nicht wiederzuerkennen.

Wir haben Mitte September und ich hätte mir die erste Woche in meinem neuen Zuhause nicht schöner vorstellen können. Ich komme aus dem überfüllten Wien, wo Corona zwar anwesend war, mich jedoch nicht weiter störte. Hier in Barcelona treffe ich auf leer gefegte Straßen, glasklares Meerwasser, gelangweilte Gastronomen und viele andere Verkäufer, die vor ihren Lokalen stehen. Viel zu tun gibt es nicht. Ein Spaziergang durch die Altstadt und ich werde nicht einmal angerempelt – wow, für mich persönlich könnte das für immer so bleiben.

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Foto: Tomas Russi 

„Normalerweise arbeiten hier zehn Leute, aktuell sind wir nur zu zweit“, erzählt Benik. Für seinen Arbeitgeber ist es günstiger, den Großteil des Personals in Kurzarbeit zu schicken. Sie bekommen aktuell nur 70 Prozent ihres Lohnes ausbezahlt. Um über die Runden zu kommen, reicht das nicht. Es sind nicht nur die Angestellten, die betroffen sind, auch die Betriebe kämpfen während der Pandemie ums Überleben. Die Spanier bekommen ähnlich wie die Deutschen Zuschüsse vom Staat, doch keine Steuersenkung. Die Zahlungen dürfen nur aufgeschoben werden. Sobald die Mitarbeiter zurückkommen, müssen die Inhaber alle Kosten tragen – egal, ob sie die finanziellen Mittel dafür haben oder nicht. „Um zehn Mitarbeiter bezahlen zu können, benötigen wir ein Mindesteinkommen von 1200 Euro pro Tag. Im Moment müssen wir 500 Euro am Tag verdienen, da wir nur noch zu zweit sind. Wir schaffen gerade einmal 300. Früher hatte ich ca. 200 Kunden am Tag, jetzt sind es 40“, sagt Benik. Eine Besserung ist nicht in Sicht, aus diesem Grund wurde die staatliche Hilfe zur Zahlung der Löhne und Gehälter der Arbeiter zum 31. Januar verlängert.

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Foto: Tomas Russi 

Viele Menschen hier machen sich Sorgen um die Folgen der Pandemie. Zurecht. Keiner weiß, wann Corona gehen wird: „Der Staat musste sich bereits Milliarden von der Europäischen Union leihen und ich habe keine Ahnung, wie sie das jemals zurückzahlen wollen.“

Einige der angrenzenden Gastrobetriebe überlebten den Lockdown nicht. Alles fing mit dem 13. März an, als die Alarmglocken läuteten. Restaurants durften bis zum 1. Juni keine Gäste bewirten, auch das, in dem Benik arbeitet. „Wir hatten nur einen Take-away-Service. Im Juni konnten wir dann mit Einschränkungen öffnen. Juli und Anfang August verbesserte sich die Situation, aber jetzt gerade wird es wieder schlimmer.“ Benik zeigt mir mit seinem Finger einige Läden in der Nähe, die pandemiebedingt schließen mussten. „Kleine Geschäfte hatten keine Chance und haben aufgegeben. Betroffen sind vor allem die, die sich dem Verkauf von Eiscreme, Souvenirs, Bekleidungsgeschäften und Bars widmeten. Sie haben keine Terrasse und aus Angst vor dem Virus möchte niemand drinnen sitzen. Auch viele Hotels und Restaurants sind weg. Nebenbei hören die Fluggesellschaften nicht auf, die Preise für Flugtickets zu senken. Erst gestern Abend erzählten mir Kunden aus Irland, dass sie für den Hin- und Rückflug mit Ryanair nur 10 Euro bezahlt hätten. Sobald sie zurückkehren, müssen sie in Quarantäne und einen Test ablegen. Heute gibt es weltweit Beschränkungen für Reisen nach Spanien, deshalb kommt niemand.“ Er schaut traurig aus, wie könnte er nicht, seine Zukunft ist ungewiss.

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Foto: Tomas Russi 

Dabei lief das Geschäft vor einigen Monaten ziemlich gut. 1933 wurde die Rodrigo Bar von Rodrigos Vater gegründet, an einem Ort, wo man sich sicher sein konnte, dass die Gäste nie fehlen werden. „Damals bediente Rodrigos Vater die Nachbarn mit Speisen und Getränken. Die Leute unterhielten sich oder kamen, um eine Runde Parcheesi oder Domino zu spielen. Später in den 60er Jahren erbte Rodrigo die Bar, wo er Gäste aus allen Teilen Barcelonas bewirtete. Mit der Olympiade 92 wuchs der Tourismus, wodurch Gäste aus der ganzen Welt anreisten. Als Rodrigo in Rente ging, hinterließ er das Restaurant seinem Sohn“, sagt Ben. Damals kamen die Leute, um den hausgemachten Wermut zu trinken, die Spezialität des Hauses. Heute ist der Familienbetrieb kurz vor dem Scheiterhaufen. Und keiner weiß, wie lange das Feuer noch brennt.

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Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.

One Comment on “Corona in Barcelona: Touristen wir vermissen euch – ein bisschen!”

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