Ich war 27 und Musikredakteurin, als ich Anne kennenlernte und die DIEVERPEILTE-Redaktion gründete. Mit meiner Reihe Das Magazin möchte ich meinen Leser:innen einen ehrlichen Blick hinter die Kulissen gewähren.

Ich sitze gerade in der Straßenbahn auf dem Weg zum Kanal, wo ich mit einer Bekannten verabredet bin. Es ist August 2020 und ich lebe in Wien. Neben dem Faze gibt es nun auch DIEVERPEILTE in meinem Leben. Die ersten Monate seit der Gründung waren vergangen und ich stecke viel Zeit in mein Magazin. Ich schreibe jeden Tag und meistens auch nachts. Meine Freund:innen genießen den Sommer und schlürfen Weinschorle an der Donau. Für mich ist das zweitrangig, auch deshalb, weil ich mit der VERPEILTEN erfolgreich sein möchte. Also stoße ich erst dazu, bis ich das Gefühl habe, genug für mein Projekt getan zu haben. Ich dachte vor ein paar Monaten noch, dass es ausschließlich Spaß machen würde, ein Magazin zu haben. Doch jetzt wird mir klar, dass das viel Arbeit ist. Jeden Tag ein Beitrag. Das ist der Anspruch, den ich an mich selbst habe. Das Faze macht das auch. Aber auch die Zeit, der Spiegel oder die FAZ. Da meine Redaktion bis zu diesem Zeitpunkt nur aus mir besteht, ist das natürlich wahnsinnig. Das ist auch der Grund, warum ich es nicht immer schaffe. Zudem bin ich nicht besonders gut darin, Beiträge im Voraus zu planen und schreibe meine Texte meist noch am selben Tag. Das läuft super chaotisch und ist zudem ganz schön anstrengend für mich. Dafür habe ich zum Glück kein Problem damit, Themen zu finden. Die kommen aus meinem Leben oder den Gesprächen mit Freund:innen zu mir. Doch mich überfordert die Situation, dass ich alleine mit all dem bin. Denn neben der Homepage gibt es nun auch den Social-Media-Auftritt, den ich mittlerweile beinahe minütlich checke.

Wie jetzt, nur 57 Likes auf meinen Musiktipp des Monats? Scheiße, ist das wenig. Egal. Dann dauert es halt etwas länger, bis ich mit dem Magazin durchstarten kann. Ich setze mich hin und schaue mir den Account noch mal genau an. Es ist offensichtlich, dass die Leute auf Tabuthemen abfahren. Mein Post über das Pickel ausdrücken hat 532 Likes und ganze 26 Kommentare bekommen. Toll! Themen, über die niemand sprechen will, können nur erfolgreich sein, alleine schon deshalb, weil niemand darüber spricht. Ich habe das Gefühl, dass ich die einzige Person bin, die dieses Rätsel gelüftet hat und denke darüber nach, welche Themen noch gut laufen könnten. Depression? 430 Likes. Periode? 207 Likes. Die Arbeit als Kassiererin? 87 Likes. Zwischendurch poste ich Bilder von mir aus meinem Alltag, das zieht immer! Ich beim Surfen, 321 Likes. Ein Foto von mir im BH, 186 Likes. Ich auf einem Skateboard, 315 Likes. Mein neues Tattoo, 245 Likes. Ich, auf einem Stuhl sitzend, während ich meinen Hals mit einem Bondage-Seil stranguliere: 311 Likes. Eine weitere Stunde vergeht und ich habe keine weiteren Follower:innen dazu bekommen. Was ist los mit den Leuten, was soll der Scheiß? Ich will berühmt werden, versteht ihr nicht, dass das nur geht, wenn ihr mir alle folgt?

Jedenfalls verstehe ich jetzt, wie Instagram so erfolgreich werden konnte. Content machen und Konsumieren macht verdammt süchtig. Das stresst mich und frisst meine Zeit. Ich brauche meine Zeit aber für die Umsetzung weiterer Ideen. Und außerdem braucht man für ein Magazin mehr als eine Person. Deshalb werde ich Leute finden, die hier mitmachen wollen, beschließe ich. Das macht jetzt schon Spaß, die DIEVERPEILTE-Redaktion wird gegründet! Ich brauche nur ein paar Menschen, die authentisch sind und sich für meine Arbeit begeistern. Das kann ja nicht so schwer sein. Am Kanal angekommen begrüße ich L., meine Bekannte und ihre Freund:innen. Wir sitzen auf einer Decke, trinken Wein und sprechen über mein Magazin. Motiviert von meinem Vorhaben frage ich L., die gleichzeitig auch mein größter Fan ist, ob sie sich vorstellen könnte, meine Partnerin zu werden. Ich weiß nicht, ob sie gut ist, ich habe noch nie mit ihr gearbeitet und schreiben kann sie auch nur ein bisschen, aber mir ist aufgefallen, dass sie viel Zeit auf Instagram verbringt und sonst fällt mir ehrlich gesagt niemand ein. Solche Leute brauche ich – die gerne Sachen posten und wissen, was cool ist. L. ist ein nettes Mädchen, hat viele Freund:innen und weiß immer, wo die nächste Party stattfindet. Es läuft wie erwartet: Sie sagt begeistert zu und kurz darauf gebe ich ihr die Zugangsdaten für den Account.

Wow, das war ja einfach, denke ich.

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Alle Illustrationen: Teresa Vollmuth

Wir probieren es und ich fühle mich direkt besser, da ich nun eine Person habe, mit der ich mich austauschen kann. Ich gebe ihr ein paar kleine Aufgaben, um zu sehen, was sie kann. Zum Beispiel Follower:innen – die ich abonniert habe, damit sie mich abonnieren – zu entfolgen. Ich weiß, das ist mega nervig und auch ein bisschen gemein. Aber es klappt! Ich habe gerade um die 4.000 Abonnent:innen. Das reicht aber nicht, um groß rauszukommen. L. meint, dass wir mindestens 10.000 benötigen, um auf Instagram ernst genommen zu werden. Ich sage L., dass es gut wäre, wenn sie erst mal den Leuten entfolgt und wir uns danach Gedanken darüber machen, wie es weiter geht. Am nächsten Tag ist der Account für eine Woche von jeglicher Handlung gesperrt. SCHEIßE!!! L. ist zu vielen Personen auf einmal entfolgt, das mag Instagram nicht. Fuck, denke ich, das wars. Es wird einem dann vorgeworfen, man hätte den Account an Dritte weitergegeben, um die Reichweite zu erhöhen. Stimmt ja auch irgendwie. Ich bin L. aber nicht böse, schon alleine deshalb, weil ich das Problem selbst schon einige Male verursacht habe. Wir warten die Woche ab und ich nutze die freie Zeit zum Schreiben.

Nach einer Woche Zusammenarbeit fällt mir auf, dass L. eigentlich gar nichts macht. Seit der Sperrung des Accounts ist nichts passiert. Keine weiteren Ideen, kein Austausch, einfach nichts. Außerdem ist mir aufgefallen, dass sie, dadurch, dass sie ihre Wochenenden mit Partys totschlägt, meist erst gegen Dienstag oder Mittwoch wieder einsatzbereit ist. Eine verlässliche Arbeitskraft ist sie nicht gerade. Ich teile ihr schweren Herzens mit, dass ich sie entlassen muss und bin fortan wieder allein.

Ein paar Tage später frage ich einen Freund von mir, J., der schon mal einen Artikel bei mir veröffentlicht hat und neben dem Schreiben, auch fotografieren und Videos produzieren kann, ob er Lust hätte, mitzumachen. Er sagt, er denkt mal darüber nach. Nach ein paar Tagen frage ich nach, wie denn so der Stand ist. J. antwortet: „Also ich glaube, jetzt gerade passt es nicht so.“ Ah okay, kein Problem, sage ich, kannst es dir ja noch mal überlegen. Kein Stress, hat keine Eile. Alles cool. Jetzt bin ich enttäuscht. Kapiert der nicht, dass ich hier gerade dabei bin, etwas ganz großes aufzuziehen? Während ich das denke lächle ihn an und nippe frustriert von meinem Spritzer. Später verstehe ich, dass er mein Magazin zwar cool findet, er seine Zeit aber lieber in andere Dinge stecken möchte und bin froh darüber, dass er ehrlich war.

Wenig später, ich bin gerade auf dem Nachhauseweg von einem Frauenarzttermin, da kommt mir eine geniale Idee. Ich könnte ja einen Post machen, indem ich bekannt gebe, dass ich nach Teammitgliedern suche. Ich überlege, was ich dazu brauche. Auf Instagram habe ich mal einen ähnlichen Post dazu gesehen und das erste, was ich dafür benötige, ist ein starkes Bild. Auf einem Fotografie-Account, dem ich schon länger folge, entdecke ich ein analoges Foto von einer Frau, die eine Kamera vor dem Gesicht hält. Das ist perfekt, denke ich! Ich schreibe den Fotografen an und frage, ob ich das Foto für meinen Post verwenden könne. Ich bekomme seine Zusage, unter der Bedingung, dass ich seine Credits darunter setze. Er schickt mir das Bild per E-Mail. In meinem Zimmer angekommen, setze ich mich an den Laptop und schreibe einen Text dazu. So etwas wie: „Ich biete euch die Chance, von Anfang an bei der Gründung meines Magazins dabei zu sein. Dafür suche ich nach Unterstützung in der Redaktion, mit Videocreation, Illustration, Fotoreportagen, Social Media, sowie Leute für Web und Marketing.“ Kurz darauf erhalte ich eine Nachricht von Anne. Sie erzählt, dass sie in Berlin lebt und einen Master in Journalismus macht. Obendrauf hat sie einen persönlichen Text über ihre Erfahrung mit Akne als Leseprobe mitgeschickt. Hehe, das finde ich gut. Außerdem finde sie ganz toll, was ich mache und wäre interessiert an einer Zusammenarbeit mit mir. Ich lade Anne für den nächsten Tag zum Telefonieren ein. Wir müssen das alles richtig besprechen. Mir wird klar, dass ich mit ihr mein erstes Bewerbungsgespräch als Redaktionsleitung haben werde: Wie macht man das eigentlich?

Ich stehe vor meinem Lieblingscafé und rauche eine Zigarette, während ich Anne pünktlich um 14 Uhr anrufe. Wenige Minuten zuvor habe ich mir einen Bericht aus dem Internet durchgelesen mit einer Anleitung, wie man Bewerbungsgespräche führt. Das muss reichen! Im Hintergrund höre ich die Gespräche von fremden Menschen, die sich hier zum Kaffeetrinken verabredet haben. Am Telefon tue ich auf seriös, als ob ich das schon total oft gemacht hätte. Annes Stimme klingt total nett und sie macht den Eindruck, als hätte sie Ahnung. Von ihr weiß ich, dass sie damals extrem nervös war und keine Ahnung hatte. Das Gespräch läuft gut. Wir unterhalten uns über ihr Studium, außerdem hätte sie mal bei einem Radiosender gearbeitet und bringe schon ein wenig Erfahrung mit. Toll!, denke ich.

Dann ist das Gespräch aus dem Nichts beendet.

Anne ist nicht mehr erreichbar. Ich versuche, sie zurückzurufen. Die Frau am Telefon schwafelt mir ihre übliche Leier ins Ohr: „The person you have called is temporary not available please call again later“. Ich bin sicher, dass sich die Sache gleich klären lässt. Fünf Minuten später. Anne ruft an, sie sagt, ihr Akku sei leer gewesen und sie hätte das Handy erst an die Steckdose anschließen müssen. Nachdem sie sich auffällig oft dafür bei mir entschuldigte, sage ich ihr, dass das kein Problem für mich sei und wir machen weiter. Später erzählte sie mir, dass ihr die Situation damals so unfassbar unangenehm war, weil sie keinen unprofessionellen Eindruck bei mir hinterlassen wollte. Das finde ich süß und bestätigt mich in dem Glauben, dass wir uns damals eigentlich nur gegenseitig verarschten. Immerhin hatten wir beide keinen Plan, was wir da eigentlich machen. Außerdem erzählte sie, dass sie sogar auf dem Boden neben der Steckdose gesessen hätte, um darauf zu warten, dass das Handy wieder angeht. Als sie mir das erzählt hat und ich mir daraufhin vorstellte, wie Anne schweißgebadet am Boden saß, kann ich nicht anders, als vor Lachen zu weinen.

Weiter gehts. Ich erzähle ihr davon, wie ich dazu gekommen bin, ein Magazin zu gründen und dass ich nebenbei für das Faze arbeite. Es stellt sich heraus, dass sie die Zeitschrift kennt und cool findet, weil sie auch auf elektronische Musik steht. Außerdem hätte sie Lust, mal ein Interview mit einer befreundeten Künstlerin zu machen. Ich bin sprachlos und wir tauschen uns über weitere Ideen aus. Nach einer Stunde sind wir uns einig, dass das mit uns gut passen könnte und ich stelle sie als Redakteurin ein.

Wir sind jetzt zu zweit. Anne und ich. Sie schreibt gerade an ihrem ersten Interview über die Anfänge als DJ während einer weltweiten Pandemie. Pius, das ist die Künstlerin, von der sie mir bei unserem Bewerbungsgespräch erzählt hatte. Ich sage Anne, dass es wichtig ist, dass sie den Text persönlich schreibt – das ist unser Markenzeichen – und wir dafür gute Fotos von Pius brauchen. Außerdem setze ich ihr dafür eine Frist von sieben Tagen.

Zwischendurch habe ich einen Notfall. Ein Beitrag von einer Gastperson ist ausgefallen und wir haben für den Tag nun nichts zum posten. Ich selbst noch alle Hände voll zu tun mit den Beiträgen, die ich fertig machen muss und daher keine Zeit, etwas neues zu schreiben. Ich frage Anne, ob sie sich vorstellen könne, dass wir ihren Akne-Text posten können. Daraufhin ist sie sich erst nicht sicher, ob sie sich damit wohlfühlen würde, der Text sei ja so persönlich und dann die Scham über die Hauterkrankung und sie weiß nicht, ob sie bereit dazu wäre. Ich sage ihr, dass ich den Beitrag total toll finde und wie mutig es sei, über ein so stigmatisiertes Thema, wie die eigene Akne zu schreiben. Es funktioniert! Anne fühlt sich geehrt und ist nun doch damit einverstanden. Super! Der Beitrag läuft auch gut auf Instagram: 165 Likes und 6 Kommentare. Das ist gar nicht so schlecht! Neulich, als ich sie danach fragte, wie das damals alles für sie war, erzählte sie mir, dass ihr der Post dazu verhalf, offener mit diesem, aber auch anderen persönlichen Themen umgehen zu können. Wenige Tage später erhalte ich dann auch das fertige Interview mit Bildern. Als ich ihre E-Mail erhalte, bin ich unfassbar glücklich, dass ich eine Kollegin wie Anne gefunden habe. Ich bedanke mich und sage ihr, dass ich mich unheimlich darüber freue, dass sie da ist und außerdem, dass sie die Deadline eingehalten hat! Jetzt bin ich mir sicher: Das wird groß, RICHTIG groß.

Wie gründet man eine Redaktion? Mit dieser Frage beschäftige ich mich im nächsten Teil von Das Magazin.

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Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.

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