Aggressiv schreien irgendwelche Selbstoptimierungstrainer:innen ins Mikro: „You gotta learn to say
NO! You want to love yourself? Learn – to – say – NO!“

Ich stehe auf, hoch motiviert, und schreie ins Leere: „Ja! Ich sage Nein! Ich kann das, ich sage Nein!“

Tja, was soll ich sagen, am Ende ruft eine Freundin an, fragt, ob ich Zeit habe, etwas Trinken zu
gehen. Eigentlich habe ich sie nicht, aber ich kann nicht Nein sagen.

Jemand fragt nach einem Date, die Person ist nicht wirklich passend, aber was soll ich machen? Ich
kann nicht Nein sagen.

Nein sagen – Freund:innen schildern mir den gleichen Struggle. Alle, die ich kenne, haben es lernen
müssen, auch ich. Mittlerweile bin ich zwar schon viel besser geworden im Nein-Sag-Game – habe
mich selbstoptimiert sozusagen, aber Motivationstrainerin kann ich noch nicht werden.

Nein sagen ist frustrierend, es macht nicht immer Spaß, aber wenn ich den schwierigen Moment
überwunden habe, ist es ein wunderbares Gefühl, ein Gefühl nicht gegen sich, sondern für sich
gehandelt zu haben. Denn, wie es auf den Selbstoptimierungsseiten immer wieder geschrieben steht:
Wenn du zu anderen ja sagst, dann sagst du Nein zu dir selbst.

Shit! Das ist so ein pseudoesoterischer Satz, aber er macht Sinn.

Trotzdem ist und bleibt es schwierig. Egal, ob ich nun weiß, dass es besser für mich ist oder nicht.
Elton John sang einst (dann coverte es die Boyband Blue, wer sich erinnert):

„Sorry seems to be the hardest word“ – „No seems to be the hardest word“, sollte es heißen. 

Woran liegt es, dass wir so schlecht Nein sagen können? Für mich ist es ein Mix aus: Menschen nicht
verletzen wollen, Angst davor haben, sie zu verlieren und der Angst, etwas verpassen zu können. Bei
der Fülle, die ich im Internet zu diesem Thema finde, merke ich schnell, dass es ein weitverbreitetes
Problem ist. Ich finde Artikel und Tipps, wie wir am besten zu Neinsager:innen werden. Ich lese, dass
die Unfähigkeit Nein zu sagen, mit mangelndem Selbstbewusstsein zu tun haben soll – dem Gefühl,
dass Ja sagen Anerkennung bringt und Nein sagen Ablehnung. Auch meine Angst, Menschen
verlieren zu können, finde ich wieder.

Selbstbewusste Menschen hätten keine übertriebene Angst vor Beziehungsabbruch, lese ich.
Natürlich soll auch ein Großteil der Unfähigkeit Nein zu sagen damit zu tun haben, wie unsere Eltern
reagierten, wenn wir Nein gesagt haben. Reagierten sie beispielsweise ablehnend oder wurden sogar
wütend, wenn wir ihnen etwas abschlugen, haben wir gelernt Ja zu sagen, um Anerkennung oder
sogar die Zuneigung unserer Eltern zu gewinnen. Unser Selbstbewusstsein sank also und wir
internalisierten, dass äußere Bestätigung wichtig sei.

Das Ergebnis: Wir sagen Ja – zu anderen. Diese freuen sich dann und wir freuen uns, dass sie sich
freuen. Aber innerlich sind wir irgendwann leer. Letztendlich erlangen wir nur ein leeres
Selbstbewusstsein, weil es immer wieder von außen gefüllt werden muss.

Echtes Selbstbewusstsein können wir nur erreichen, wenn wir in den Momenten, in denen wir Nein
fühlen, auch Nein sagen.

„Nein, ich will nicht zur Party kommen.“

„Nein, ich kann mich heute nicht mit dir treffen.“

„Nein, ich kann leider kein Date mit dir haben.“

Auch ich musste hart erfahren, dass immer Ja sagen definitiv nicht die Lösung ist. Und irgendwie
fühle ich, dass das mit dem Selbstbewusstsein und der Unfähigkeit Nein zu sagen stimmt. Seit sich
mein Selbstbewusstsein gesteigert hat, kann ich viel besser Nein sagen (und umgekehrt hat es sich
wahrscheinlich gesteigert, weil ich Nein sage). Klar, unmittelbare Anerkennung ist natürlich super.

Aber wie alles, was schnell geht, hält das gute Gefühl nicht lang. Und je mehr wir nach Anerkennung
im Außen suchen, desto weniger schenken wir uns selbst Anerkennung. Wir missachten unsere
eigenen Bedürfnisse. Das Bedürfnis, zu Hause bleiben zu wollen, wenn wir keinen Bock auf eine Party
haben. Das Bedürfnis nach echter Verbundenheit, wenn wir zum hundertsten Mal mit einem
Menschen ausgehen, der nicht zu uns passt oder das Bedürfnis, etwas für uns zu erreichen, während
wir die ganze Zeit den Plänen anderer folgen.

Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich immer total gut Nein sagen kann, aber ich kann es immer
öfter und das fühlt sich gut an, weil ich mich wieder wahrnehme. Dadurch habe ich auch erfahren,
dass meine Ängste unberechtigt sind. Dass meine Freund:innen sich nicht von mir abwenden, wenn
ich Nein sage. Meistens haben sie Verständnis dafür.

Im Dating hat es mir ein gutes Gefühl gegeben, wenn ich nicht aus Höflichkeit weiter mit der Person
ausgegangen bin, sondern gleich Nein gesagt habe. Um ehrlich zu sein, ist das auch respektvoll der
anderen Person gegenüber, die sich vielleicht Hoffnungen macht. Nein sagen zeigt einem auch, was
für einen selbst wirklich wichtig ist. Denn die Menschen, die sich abwenden oder Situationen, die
nicht zustande kommen, weil wir Nein sagen, sollen vielleicht auch einfach nicht sein.

So abgedroschen es auch klingt: „Ich sage Ja zu mir!“ Und das ist doch am wichtigsten und am
schönsten.

Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

Illustration © @bruelife

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War bis Juli 2022 Redakteurin bei DIEVERPEILTE. Hat Geisteswissenschaften mit Fokus auf Indien an der Universität Hamburg studiert. Themenschwerpunkte sind Gesellschaftspolitik und feministische Themen.

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