Ab Herbst 1989 fanden in Leipzig und anderen Städten der DDR regelmäßige Massendemonstrationen mit Hunderttausenden DDR-Bürgern gegen den SED-Staat und seine Willkür – verkörpert durch das Ministerium für Staatssicherheit und dessen außer Kontrolle geratenen Überwachungsapparat – statt. Nicht nur Reisebeschränkungen und die Absurdität des antifaschistischen Schutzwalls erregten Empörung zu dieser Zeit. Auch die eingeschränkte Versorgungslage der eigenen Bevölkerung durch Missmanagement und Planwirtschaft sorgten für Unmut. Nicht alle Teilnehmenden dieser sogenannten „Montagsdemos“ waren lupenreine DemokratInnen.
Manche BesucherInnen der Montagsdemos traten für eine Reformation des DDR-Sozialismus ein; wollten allerdings nicht unbedingt die Wiedervereinigung bzw. Teil der BRD werden. Andere wiederum wollten die DDR tatsächlich schnellstmöglich abwickeln und sahen sich schon auf der ersten Neckarmann-Kreuzfahrt durch das westliche Mittelmeer cruisen.
Allerdings hatten Ende der 80er-Jahre auch Anti-Antifaschismus, Fremdenfeindlichkeit und Neonazismus auf dem Gebiet der damaligen DDR bereits treue Anhänger gefunden. Support kam von westdeutschen Nazigrößen. Offiziell gab es diese Menschen oder fremdenfeindliche Aktivitäten allgemein dank Stasi und der Kontrolle aller Medienorgane in der DDR natürlich nicht. Schließlich waren Antifaschismus und internationale Solidarität identitätsstiftende Staatsdoktrinen.
Im Herbst 2020 fanden wieder Demonstrationen mit über 10.000 TeilnehmerInnen in Leipzig statt. Der neue Endgegner ist jetzt nicht mehr ein kränkelnder Vasall der Sowjetunion samt Staatsapparat. Nein! 2020 ist Covid-19 die Wurzel allen Übels. Dass sich eine weltweite gesundheitspolitische Katastrophe dieses Jahr vor unseren Augen abgespielt hat und weiter abspielt, wurde von vielen BesucherInnen der Demonstrationen in Zweifel gezogen. Bereits die Anerkennung der Existenz einer ansteckenden Infektionskrankheit namens Covid-19 schien für so manchen Demogast ein Sinnbild medialer Manipulation im Sinne der New World Order durch wahlweise Medien, Bill Gates oder die US-Demokraten zu sein. Erstaunlich wenige kritische Stimmen hörte man daher auch zu Donald Trump oder Vladimir Putin. Die zwei Machtpolitiker der alten Schule passen auch nur allzu gut in alte Schwarz-/Weiß- Muster aus Zeiten des Kalten Krieges. Diese schien man zumindest in Leipzig an diesen zwei Samstagen im November 2020 noch gut zu kennen. Interessanterweise kommen die Organisatoren der in den Medien als „Schwurbeldemos“ bekannt gewordenen Veranstaltungen jedoch nicht aus Ostdeutschland, sondern aus dem Stuttgarter Raum. Nachdem der Sturm auf den Berliner Reichstag im August noch nicht so ganz erfolgreich war, hatte man kurzerhand beschlossen „Leipzig – Die Stadt des Widerstands von 89“ zum neuen Anticorona-Schauplatz zu machen. So liefen an diesen Samstagen im November (wut-)bürgerliche Normalos mit Kerzen in der Hand neben Anhängern spiritueller Praktiken samt PACE/Regenbogenflaggen und strammen Rechten – alle vereint unter der Reichsflagge – durch Leipzigs Straßen.
Was sich wie ein lustiger Zirkus anhört, wurde für so manchen Menschen mit abweichender Meinung teilweise so richtig unlustig. Schon in den Tagen vor der ersten Demo am 7.11. hatten Übergriffe und Provokationen gegenüber optisch als links zu erkennenden Menschen stattgefunden. Der Leipziger Stadtteil Connewitz, der für Antifaschismus, Diversität und Toleranz steht, ist den Rechten dabei ein besonderer Dorn im Auge. Auch ich selbst wurde am 7.11 in der Stadt mehrmals verbal bedroht und vor der Polizeiwache am Wilhelm-Leuschner-Platz von einem 4-köpfigen Faschotrupp auf der Straße grundlos angespuckt und als „linke Ratte“ beschimpft.
Was von diesen Samstagen im November 2020 in Leipzig bleibt, ist mehr als nur „ein braunes Geschmäckle“. Dank geht raus an Ken Jebsen, Jürgen Elsässer und meine Jungs von der Identitären Bewegung…not.

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3 Comments on “Demo in Leipzig: Friedenskerzen unter der Reichsflagge”