Meine Familie war nie sehr gut darin, miteinander zu reden. Zumindest nicht über unsere
Gefühle oder über das, was wirklich vorging. Über Schuld wurde bei uns hingegen
stundenlang diskutiert. Ich habe viele Abende in meinem Zimmer gesessen, die Tür einen
Spalt offen – und belauschte meine Eltern dabei, wie sie darüber diskutierten, wer Schuld
daran hat, dass ich zum Beispiel eine schlechte Note mitgebracht hatte oder wegen
irgendetwas Widerworte gab. Erst haben sie sich gegenseitig Vorwürfe gemacht, bis sie sich
schließlich darüber einig waren, dass es an den vielen Umzügen, die wir berufsbedingt
wegen meinem Vater machen mussten oder an den falschen Freund:innen lag. Auch mit mir
haben sie über Schuld geredet, vor allem meine Mutter, die mir die Schuld gab, wenn das
Essen verbrannt war. Oder wenn sie den Radiosender verstellt hatte und sich nicht mehr
daran erinnerte. Schuld war allgegenwärtig, vor allem weil wir dann nicht über das
eigentliche Problem in unserer Familie sprechen mussten: Den Alkoholismus meiner Mutter.

Ich habe schon sehr früh geahnt, dass etwas nicht stimmte. Meine Mutter war oft lauter als
andere Mütter, sie hatte ständig Kreislaufprobleme und schwankte manchmal beim Laufen.
Warum das so war, habe ich als Kind allerdings nicht verstanden. Weil niemand darüber
geredet hat, habe ich es auch nie hinterfragt. Nicht einmal, als die Polizei meine Mutter nach
Hause brachte, weil sie unter Alkoholeinfluss Auto gefahren war.

Ich war elf Jahre alt und saß in der Küche und machte Hausaufgaben. Es war Wochenende
und noch vor dem Mittagessen kam meine Mutter in die Küche, hinter ihr zwei Polizist:innen.
Mein Vater eilte ihr entgegen, sprach aber nicht mit ihr. Meine Mutter ging an mir vorbei,
sagte, dass sie letzte Nacht schlecht geschlafen und deswegen einen Schnaps getrunken
hatte. Dann verschwand sie für den Rest des Tages im Schlafzimmer. Mein Vater sprach vor
der Tür mit den Polizist:innen, dann kam auch er rein und zog sich ins Wohnzimmer zurück. Ich versuchte meinen Vater später zu fragen, was los war, aber er sagte, es ginge mich nichts an. Meine Mutter sagt nur, dass alle übertreiben würden und alles in Ordnung sei. Ich wusste
nichts von der Existenz von Alkoholismus. Ich dachte, dass meine Mutter wohl recht hatte,
dass alles normal sei und ich zu Unrecht das Gefühl hatte, dass etwas mit unserer Familie
nicht stimmt.

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ALLE FOTOS: LEA MAY

Erst später ist der Groschen gefallen. Zum einen habe ich angefangen, Teenie-Serien zu
schauen, in denen Alkoholismus thematisiert wurde, zum anderen gab es Ereignisse, die ich
mir nicht anders erklären konnte, wie zum Beispiel die „Flaschenfunde“. Wir sind gerade in
eine andere Stadt gezogen. Ich war vierzehn Jahre alt, als ich zum ersten Mal eine Flasche
Mariacron hinter den Kissen meiner neuen Couch fand. Ich wusste in dem Moment nicht,
was ich tun sollte, also ging ich zu meinem Vater und fragte ihn, ob er kurz in mein Zimmer
kommen würde. Ich zeigte auf das Kissen und die Flasche. Mein Vater sprach kein Wort,
nahm die Flasche und ging. Ich weiß noch, wie ich dastand und überlegte, ob ich
hinterhergehen und mit ihm reden sollte. Aber mein Vater hatte mir mittlerweile oft genug
klargemacht, dass mich das Thema nichts anging, also machte ich den Fernseher an und sah
das Vorabendprogramm. Statt darüber zu reden, reihte ich mich in das Schweigen ein.

Irgendwann brach meine Oma das Schweigen. Wir waren gerade dabei, in der Küche
Sauerkraut herzustellen, als meine Mutter sagte, sie müsse kurz in den Keller. Meine Oma erwiderte, dass sie auch hier oben ihren Alkohol trinken könne. Sie erzählte, dass meine
Mutter wohl schon kurz nach meiner Geburt angefangen hatte zu trinken, dass dies aber
etwas sei, um das sich mein Vater Sorgen machen müsse und nicht ich. Ich nahm kurz darauf
auch allen Mut zusammen und fragte meinen Onkel, der zum ersten Mal den Begriff
„Pegeltrinkerin“ fallen ließ. Laut dem deutschen Suchtportal ist ein:e Pegeltrinker:in, oder
ein:e Delta-Trinker:in, eine Person, die permanent trinkt, um einen gewissen Alkoholpegel
aufrechtzuerhalten. Meine Mutter trank also immer wieder über den Tag verteilt so viel
Alkohol, dass sie sich damit gut fühlte. Warum meine Mutter angefangen hatte, wusste mein
Onkel nicht genau, er vermutete, dass es an meinem Vater lag, was wohl naheliegend für ihn
war, da sich die beiden nicht leiden konnten. Auch er meinte, es sei nicht mein Problem und
ich solle mich nicht damit beschäftigen. Sowohl mein Vater als auch der Rest der Familie
gaben mir das Gefühl, nicht darüber reden zu dürfen. Es war Thema der Erwachsenen.

Ein paar Mal versuchte ich mit meiner Mutter zu sprechen, meist, wenn sie sich mit meinem
Vater gestritten hatte. Danach kam sie immer zu mir und klagte ihr Leid. Da ich in diesen
Momenten das Gefühl hatte, dass wir ehrlich miteinander sprechen konnten, habe ich es
einige Male angesprochen, doch sie meinte immer, dass das kein Problem mehr wäre. Sie
habe früher ab und an getrunken, weil die vielen Umzüge sie so mitgenommen hätten, aber
das sei nun vorbei, wo sie Freundinnen gefunden habe. Ich wollte ihr jedes Mal glauben,
wohl weil es leichter war.

Als ich verstanden habe, dass Alkoholismus nicht einfach von selbst aufhört, dass Betroffene
Therapien und meist einen Entzug brauchen, war ich schon über zwanzig und
von Zuhause ausgezogen. Ich hatte selbst über die Jahre eine Essstörung entwickelt und war
nach meinem Auszug immer wieder in Therapien, in denen ich auch über meine Mutter
sprach. Zuerst musste ich mir helfen, also fuhr ich den Kontakt herunter, bis ich ihn
schließlich für ein paar Jahre vollständig abbrach. Auf beides reagierten meine Eltern mit
Schweigen. Als ich mich stark genug fühlte und den Kontakt wieder aufnahm, habe ich mir
vorgenommen, ehrlich zu sein und meine Mutter anzusprechen, doch ich habe es immer
wieder aufgeschoben. Das Schweigen in unserer Familie fühlt sich wie eine Mauer an.
Ich bin jetzt 37 Jahre alt. Meine Mutter ist seit über 30 Jahren Alkoholikerin.

Ich weiß nicht, warum meine Mutter angefangen hat, zu trinken. Vielleicht war es, weil ihre
erste Ehe gescheitert ist oder sie in der Ehe mit meinem Vater so viel alleine war. Auf der
Homepage der Stiftung Gesundheitswissen habe ich gelesen, dass viele Angehörige von
Alkoholiker:innen glauben, dass sie eine Mitschuld haben
. Ich glaube zwar nicht, dass ich
Schuld daran bin, dass meine Mutter Alkoholikerin geworden ist, obwohl sie laut meiner
Oma kurz nach meiner Geburt begonnen hat, aber ich gebe mir eine Teilschuld, dass sie es
noch ist. All die Jahre des nicht Ansprechens, des Totschweigens hätte ich dafür nutzen
können, ihr zu helfen. Ich wünschte, ich hätte mehr getan, als nur auf den Webseiten
diverser Drogenhilfen nach Antworten suchen und manchmal viel zu zaghaft das Thema zu
streifen. Ich wünschte, ich hätte ihr ins Gesicht gesagt, wie viel Angst ich um sie habe und
wie sehr sie mich verletzt hat. Ob das was geändert hätte, weiß ich nicht. Aber ich habe das
Thema Schuld verinnerlicht und werde den Gedanken nicht los, dass ich ihr hätte helfen
können.

Einen Hoffnungsschimmer gibt es. Mein Vater hat kürzlich angefangen, mit mir darüber zu
reden. Ich glaube, es wird ihm zu viel, da meine Mutter immer verwirrter wird und
körperliche Ausfallerscheinungen hat. Sie leben noch in einem Haus zusammen, aber in
getrennten Schlafzimmern und auch sonst leben sie eher nebeneinander her. Immerhin
waren mein Vater und ich gemeinsam bei einer Therapeutin von der Suchtberatung des
Diakonischen Werkes in unserer Stadt. Sie gab uns ein paar Tipps. Mein Vater hat
zugestimmt, keinen Alkohol mehr für meine Mutter zu kaufen und ich habe meiner Mutter
gesagt, dass sie meinen Sohn nur sehen darf, wenn sie nüchtern ist.

Es ist bisher nur eine Art Flüstern, das sich zwischen uns abspielt, aber es ist besser als das
Schweigen. Vielleicht wird daraus noch ein Gespräch, in dem es, statt um
Schuldzuweisungen, darum geht, wie wir meiner Mutter helfen können.

Du machst dir Sorgen um deinen Alkoholkonsum oder das Trinkverhalten einer dir nahestehenden Person? Die Telefonseelsorge bietet eine kostenlose und anonyme Beratung rund um die Uhr und kann an geeignete Beratungsstellen weiter verweisen. 0800-111 0 111 oder 0800-111 0 222. Bei der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen findest du Hilfsangebote in deiner Nähe. Weitere telefonische Hilfsangebote findest du hier.

Autorin: Katharina Kanzan, Fotos: Lea May

Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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2 Comments on “Der Alkoholismus meiner Mutter”

  1. Hallo Katharina, du hast Schlimmes erlebt. Ganz schrecklich. ♥️♥️♥️
    Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Menschen mit Süchten, erkennen müssen, dass es so ist. Dass sie krank sind und Hilfe benötigen. Eine weitere Erfahrung meinerseits ist, dass eine Behandlung nur dann Sinn macht, wenn der Süchtige Mensch dazu bereit ist.

  2. Liebe Katharina,
    danke für diesen Artikel. Es gäbe viel dazu zu sagen – das aber an anderer Stelle (falls du magst).
    Hier und jetzt nur so viel: Nein, du hast keine Mitschuld!!!
    Die Suche nach den Gründen ist müßig – sie ändert nichts. Und: Extrem viele Menschen hätten Gründe, zu trinken (um bei deinem Artikel zu bleiben), aber nicht alle davon tun es. Das heißt, die Gründe dafür sind nicht entscheidend.
    Mir hat einmal ein – nach langem Kampf endlich trockener Alkoholiker gesagt: „Niemand kann dir helfen, wenn du es nicht selber willst. Und so lange du noch sagst, du hast kein Problem, solange warst du nur noch nicht tief genug in der Gosse!“
    Harter Tobak??? Ja, ganz sicher.
    Dieses Gespräch ist schätzungsweise 35 Jahre her und mir wie gestern in Erinnerung. Und all das, was mir in Punkto Alkoholismus in diesen 35 Jahren begegnet ist, lehrte mich folgendes: Er wusste, wovon er sprach.
    Und ja, es gibt auch eine Co-Abhängigkeit. Die ist sicher zu betrachten und zu bearbeiten – für diejenige/denjenigen, die/der sich in dieser Abhängigkeit befindet.
    Herzliche Grüße
    Judith

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