Ich betrete die kleine K-OZ Galerie “Am Grünen Jäger” auf St. Pauli in Hamburg, in der für zwei Wochen Hans Veys Werke ausgestellt sein werden. Persönliches aus Zeiten der Krise, zufällig entstandene Werke und Kunst, die sich in klaren Strukturen ausdrückt, zieren die weißen Wände. Ein Wechselspiel im Stil des Kubismus und De Stijl, der Abstraktion und Junk Art.
Von außen wirkt die Galerie zunächst unscheinbar. Doch das riesige Schaufenster, in dem eines von Hans‘ Gemälden steht, verändert den ersten Eindruck. Gegenüber der Eingangstür ist eine kleine Theke angebaut, an der wir später sitzen und eine Currywurst essen werden. „Die beste Currywurst von ganz Hamburg“, wird Hans dann zu mir sagen und ich werde ihm zustimmen. Die leeren Currywurstschalen wird er in einer Tüte sammeln und sagen: „Für ein späteres Kunstwerk.”
Wir treffen uns an einem späten Nachmittag im Januar. Einen Monat zuvor lernten Hans und ich uns durch Zufall im Viertel kennen. Wir nehmen auf zwei großen Sesselstühlen Platz, die sich schräg gegenüber stehen. Hans bietet mir den Platz an der Heizung an. Über meinem Kopf hängt ein Glaskasten mit kaputtem Geschirr und Gläsern, links im Kasten steht ein rosa Einhorn mit Regenbogenmähne: Es heißt Die Angeklagten und ist das erste Kunstwerk einer vierteiligen Reihe. Seine Stimme ist tief und verraucht. Langsam und deutlich erzählt Hans von seiner Ausstellung, seiner Sicht auf Kunst und aus seinem Leben. Die Sätze beendet er humorvoll mit bissigen Pointen. Meine Fragen beantwortet er, bevor ich sie stelle.

Seine Art, sich auszudrücken, war bisher immer das Schreiben gewesen. Am 18. Januar 2022 erschien sein erstes Buch Für die weiße Krähe, ein autobiografischer Roman. Kunst auf diese Weise zu machen, sei neu für ihn. Die Materialien wählt er zufällig. Die fertigen Werke entstehen aus dem Moment heraus. Die Angeklagten III, eine angekokelte Holzplatte mit einer Streichholzschachtel in der rechten Ecke, auf der ein Gemälde mit einem Mann zu sehen ist, ist eines dieser zufällig entstandenen Werke. Er sei ein Kokler und legte die Platte auf eine Tonne, in der es noch glühte. Am nächsten Morgen war die Holzplatte schwarz gebrannt und so sein neues Kunstwerk entstanden.
Er zündet sich eine Zigarette an, hält sie zwischen Zeige- und Mittelfinger und zeigt auf das Werk Ground Zero [ ab min.: 6:27] . Ein Werk, das er aus Zigarettenstummeln modelliert hat. Als starker Raucher habe er immerhin zwei Wochen gebraucht, um die 500 „Kippen“ zusammenzubekommen. Ground Zero deshalb, weil es für ihn von oben aussehe, wie das Zusammenfallen der Twin Towers am 11. September 2001. Das Kunstwerk soll den Konflikt der fundamentalen islamischen und fundamentalen christlichen Welt darstellen. „Ja, auch hier gibt es Fundamentalisten“, betont Hans.
Ein anderes Werk ist Stonehenge, welches er aus Zigarettenschachteln, Kronkorken und Dominosteinen zusammengestellt hat. Aus der Vogelperspektive ist die Ähnlichkeit zu der berühmten Sehenswürdigkeit in England sofort erkennbar. Für mich stellt es einen gewissen Zusammenhang zu Ground Zero dar: In der Wahl des Materials sowie auch im Endprodukt. Es ist etwas Zerstörtes, das nun zu einer touristischen Attraktion geworden ist.

Meine Aufmerksamkeit richtet sich auf das Gemälde im Schaufenster. Es handelt sich um eine kubistische Malerei: Auf der linken Seite steht eine Frau, die ihre rechte Hand zwischen ihre Brust und die linke Schulter legt. Sie betrachtet einen Mann. Außer der linken Seite seines Hinterkopfes ist wenig von ihm zu erkennen. Die rechte Hand hat er auf seine linke Schulter platziert. Es ist ein Teilausschnitt des Gemäldes Römisches (oder: vier Figuren im Raum) von dem Künstler Oskar Schlemmer (1888-1943). Hans ergänzte das Gemälde auf der rechten Seite mit geordneten, neben- und untereinander gemalten Rechtecken, in verschiedenen Farben und Größen. „Das Bild hat was“, denke ich. Er nennt es Goethes Tante. Durch den Blick einer Feministin bekommt die Frau auf dem Gemälde etwas Unabhängiges, obwohl sie einen Mann anschaut und ihm gegenübersteht. Oder vielleicht gerade weil sie ihm gegenübersteht? Die Hände auf den Schultern lassen vermuten, dass sie sich beide entweder begrüßen oder verabschieden.
In der Ausstellung finden sich weitere Gemälde im kubistischen Stil: Die Angeklagten II und IV, Pisa und Venedig oder Sabotage.



Wertfreie Betrachtung und Scheitern drückt Hans mit den Serien Out of the Blue und Ohne Titel [ab min.: 3:57] aus. Dies gehöre ebenfalls zum “Kunstmachen”, – auch wenn er selbst noch nicht gescheitert sei, fügt Hans hinzu. Dabei malt er ein Bild in einer vorgegebenen Zeit, wodurch er keine Möglichkeit hat, es am Ende noch zu verändern. Hans teilt eine halbe Stunde in zwei “Halbzeiten”: malen, rauchen, malen.
Auf einem Regalbrett hinter der Eingangstür stehen rechts eine leere Flasche Wein, leere Schnapsflaschen und eine leere Bierdose eng nebeneinander. Auf der linken Seite steht ein silberner Wecker. Dazwischen klebt ein leeres Glas, an dem eine volle Flasche Jägermeister lehnt. Hans ist seit drei Jahren trockener Alkoholiker. „Noch nicht so lange“, sagt er. Es sei nicht einfach, sich dieses Kunstwerk anzuschauen, weil es ihn an seine Zeit des Trinkens erinnere: “Dreißig Jahre als Alkoholiker und drei Jahre ohne.”
Mit 32 lernt Hans Restaurator, Theatermaler und studiert Farb-Design. Mehr oder weniger habe er immer schon Kunst gemacht und darauf hingearbeitet. Hans ist mit den Künstlern Roy Lichtenstein, Andy Warhol und Joseph Beuys aufgewachsen. Künstler, die sich kritisch mit ihrer Zeit beschäftigten. „Kunst muss immer kritisch mit seiner Zeit umgehen. Es gibt immer einen Grund kritisch zu sein und es gibt auch immer einen Grund zu loben – wenn das nicht mehr ist, dann ist es auch sinnlos“, sagt Hans.
Besonders die Kunst von Joseph Beuys hat es ihm angetan. Die Einstellung Beuys, dass nur Kunst die Welt verändern könne und dass in jedem Menschen ein:e Künstler:in stecke, betont Hans immer wieder in seinen Erklärungen über Kunst. Für ihn hatten diese Künstler den Mut anzuecken. Wenn dieser nicht da sei, meint Hans, dann brauche man auch keine Kunst machen.
Ich frage ihn, ob auch er mit seiner Kunst anecken möchte. „Nein“, antwortet Hans. Er will provozieren. Er will Denkanstöße geben. Fragen aufwerfen, die sich alle stellen sollten. Fragen, zu denen es noch keine Antwort gibt. Neue Fragen. Nach Befindlichkeit, nach Sinneseindrücken, neuen Ideen, nach einer Form der geistigen Welt, wie er sie verstehe oder verstehen möchte. Dabei ginge es ihm weniger um Kunst, die schön aussieht: „Wenn es nur um das Schöne geht, dann soll man Eiskunstläufer werden“, lächelt er. Die Schönheit seiner Kunst läge im Prozess ihrer Entstehung, in dem Gedanken dahinter.

Es ist Hans’ Sein, von dem er einen Teil in ihnen verewigt und sie somit bedeutsam und unsterblich macht. Es ist eine Schönheit zum Fühlen, die besonders die Menschen vereinnahmen kann, die Parallelen in seiner Kunst zu ihrem eigenen Leben finden.
Am Ende unseres Gesprächs fragt Hans mich, welches seiner Kunstwerke ich mir aussuchen würde. Ich antworte: „Goethes Tante.“
Weitere Arbeiten von Hans Vey findest du auf seiner Ausstellung.
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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Autor:innen
War bis Juli 2022 Redakteurin bei DIEVERPEILTE. Hat Geisteswissenschaften mit Fokus auf Indien an der Universität Hamburg studiert. Themenschwerpunkte sind Gesellschaftspolitik und feministische Themen.