WARNUNG: Der folgende Text thematisiert Zwangsstörung und selbstverletzendes Verhalten.

Ich bin 29, als ich mir zum ersten Mal meine Fingernägel lackiere. Es sieht scheiße aus. Was zum einen daran liegt, dass ich das noch nie gemacht habe und zum anderen, dass ich Nagellack eigentlich nicht mag. Es sieht auch nicht sonderlich gut aus auf meinen krumm gewachsenen, super kurzen Nägeln. Die Nagelhaut und bis zu fünf Zentimeter darunter schimmern noch leicht rot durch und sind etwas geschwollen, aber ansonsten sehen sie aus wie normale Finger.

Seit gut 25 Jahren knibbel, beiße, reiße, esse, knabbere und fresse ich brutal die Haut um meine Nägel herum ab. Mit meinen Nägeln kratze und mit meinen Zähnen beiße ich. Fast bis zu den Knöcheln der Fingergelenke sind meine Finger Zeit meines Lebens verkrustet, blutig, geschwollen oder gerade abgeheilt. Wieso? Ich weiß es nicht. Ich hasse mich dafür. Wenn ich all die Haut, die ich an meinen Fingern abgebissen, zerkaut und runtergeschluckt habe, zusammennehmen würde, könnte ich mir wahrscheinlich ein paar große Hautburger zubereiten. Ekelhaft. Ich habe alles versucht, meine Eltern haben alles versucht, meine Partner haben alles versucht. Doch leider hilft wie bei jeder anderen Sucht auch kein liebevolles “Lass es doch bitte”, kein Strafen androhen und auch kein darauf hinweisen, wie hässlich mich das macht. Meine Freund:innen wissen es meistens nicht oder schweigen höflich über das heimliche Geknibbel an meinen Fingern unter dem Tisch. Wenn ich von einem Stuhl aufstehe, hinterlasse ich unter diesem meist ein kleines Häufchen weißer Haut. Ich habe Tag und Nacht Handschuhe getragen, ekelhaft schmeckende Tinkturen aufgetragen, Pflaster um jeden Finger gewickelt, absichtlich meine offenen Wunden in Zitronensaft gesteckt, ich habe mich belohnt, ich habe mich bestraft. Ich habe es versucht, wirklich. Es ist eine Sucht, ich bin süchtig. Ich bin süchtig danach, meine Finger immer und immer wieder zu zerstören. Und wenn ich wieder nachts im Bett liege und nicht schlafen kann, weil meine pochenden, entzündeten Finger neben mir auf der Matratze allein beim Berühren der Bettdecke zu sehr schmerzen oder mir bei einem Vorstellungsgespräch oder Date plötzlich warmes Blut die Hand hinunter läuft, dann frag ich mich, was zur Hölle eigentlich nicht mit mir stimmt. Dass die Erkrankung Skin Picking Disorder heißt oder im Fachbegriff auch Dermantillomanie, was sich aus den Worten Derma (Haut) und Mania (Begeisterung, Wahnsinn) zusammensetzt, habe ich natürlich ergoogelt. Aber dass ich eine besondere Begeisterung für meine Haut habe, war mir vor Wikipedia schon klar und dass dies eine Zwangsstörung ist, konnte ich mir schon denken. Wie ich damit aufhören kann, sagte mir der Artikel leider nicht.

Aber nun bin ich fast 30 und das erste Mal in meinem Leben mehr als ein paar Wochen abstinent. Meine Finger haben sich erholt. Und wenn meine Nägel von der täglichen Schändung nicht total deformiert gewachsen wären, könnte man denken, ich wäre nur sehr schlecht im Nägel lackieren. Warum ich plötzlich aufgehört habe? Ich saß mit meinem 4-jährigen Neffen auf dem Sofa. Wir haben zusammen Lego gespielt. Gedankenverloren habe ich an etwas gedacht und angefangen, an meinen Fingern zu knibbeln. Brutal. Da fasst mich eine kleine, feuchte Kinderhand an. Legt sich auf meine ekelhafte, geschundene Hand und sagt “Bitte lass das Tante”. Er schaut mich liebevoll und besorgt an. Ich schäme mich. Ich schäme mich in Grund und Boden. Ich dachte, ich bin Sherlock Holmes und keiner bekommt es mit. Aber jeder weiß es. Ich bin eine Idiotin. Erwachsene sind einfach nur zu höflich, um mich darauf hinzuweisen.

Ich bin stolz und eine Weile hält es an. Ich wische den Nagellack ab und trage die drei Ringe, die schon seit meiner Schulzeit in der kleinen Schale auf dem Nachttisch warten, irgendwann – an einem schönen Tag, wenn meine Finger nicht mehr so hässlich sind, dass ich sie verstecken möchte – getragen zu werden. Den einen, den mir die Mutter meines Ex-Freundes geschenkt hat, als sie meinte, ich gehöre nun zur Familie. Den Anderen, den mein Vater selbst aus Holz und Epoxidharz geschliffen hat und den, den ich als Kind im Garten meiner Oma im alten Gemüsebeet gefunden habe und der vielleicht eine traurige Liebesgeschichte hat.

Es hält nicht lange an. In der nächsten stressigen Phase fange ich natürlich wieder mit dem Knibbeln an. Die Ringe verschwinden, der Nagellack auch, mit beidem mein Stolz und der Selbsthass kehrt zurück. Als ich versucht habe, mit einer Odyssee an Erstgesprächen einen Therapieplatz zu bekommen, an endlosen Wartelisten und meinen nicht kompatiblen Arbeitszeiten gescheitert bin, fragte mich eine:r der Therapeut:innen, ob ich mich selbst verletzte. Und erst habe ich Nein gesagt und dann doch Ja. Ich habe ihr meine verkrusteten Finger gezeigt und gesagt “Doch, ich esse meine Finger auf.” Sie hat nur die Augenbrauen hochgezogen, etwas auf ihren Zettel gekritzelt und das Thema nicht weiter vertieft. In ihren Augen fiel dies wohl nicht in die Kategorie Selbstverletzung. Dermantillomanie ist oft nur eine Begleiterscheinung von anderen psychischen Krankheiten, und weil einen diese kleinen dauerhaften Verletzungen nicht gerade in Lebensgefahr bringen, bleiben sie oft unbemerkt und unbehandelt. Doch leiden die Betroffenen sehr darunter, denn meistens schämen sie sich so sehr, dass sie sich isolieren, was zu noch größerem emotionalen Stress führt und das wiederum verschlimmert den Zwang – ein Teufelskreis. Andere Formen des Skin Pickings sind auch das zwanghafte Kratzen an der Gesichtshaut oder das Ausdrücken von Pickeln – bis hin zu starker Narbenbildung. Ähnlich verhält es sich mit dem zwanghaften Ausreißen von Haaren, was Trichotillomanie genannt wird – also Haar-Rumpf-Sucht. Es gibt wenig Forschung zu diesem Thema. Vermutet wird, dass Betroffene dadurch Stress abbauen und gleichzeitig nach Perfektion streben. Eine Unebenheit wird beseitigt, um perfekter zu sein. Dadurch entstehen aber neue Unebenheiten und das Spielchen hört nie auf.

Warum ich das mache, kann ich nicht sagen und warum ich noch keinen Therapieplatz gefunden habe, ist eine andere Geschichte. Aber im Moment versuche ich noch alleine meinen Zwang in den Griff zu bekommen und verspreche der kleinen feuchten Kinderhand, dass ich auch alleine mein Bestes gebe, um damit aufzuhören. Immerhin weiß ich, nicht aus wissenschaftlichen Artikeln, sondern aus eigener Erfahrung, dass die Scheiße erblich ist oder zumindest ein Vorleben dazu führen kann, dass Kinder den gleichen Zwang entwickeln. Denn mein Vater knibbelt sich auch seine Finger kaputt und neulich – ich bin nun über 30 und mein Neffe geht bereits in die Schule – habe ich meinen Neffen dabei erwischt, wie er an seinen Fingern knibbelte. Ich möchte gerne ein besseres Vorbild sein und ihm helfen, bessere Wege zu finden, um mit Stress umzugehen. Denn ich weiß, er liebt Nagellack und ich möchte, dass er sich niemals dafür schämt.

Und wenn ich soweit bin, werde ich der Welt stolz meine drei besonderen Ringe und meine schlecht lackierten Nägel zeigen. Aber bis dahin bin ich die, die ihre Finger unter der Tischkante versteckt, im Winter Handschuhe auch in Innenräumen trägt oder nicht möchte, dass du beim Händedruck aus Versehen ihre Fingerkuppen berührst. Aus Angst, dass du dich vor mir ekeln könntest. Aber keine Sorge, ich bin Sherlock Holmes und du wirst es gar nicht bemerken und falls doch, wirst du zu höflich sein, um etwas dazu zu sagen.

AUTORIN: NOA, ILLUSTRATION: TERESA VOLLMUTH

Anmerkung: Unsere Autorin erzählt hier von ihren persönlichen Erfahrungen und Beobachtungen. Für eine konkrete Beratung zum Thema Skin Picking, sowie die Diagnose und erste Hilfestellungen wende dich bitte an Spezialist:innen. Dies können Ärzt:innen, Psycholog:innen oder auch eine Selbsthilfegruppe sein. Auch wenn es schwerfällt: Halte deinen Mund von deinen Fingern fern. Falls es gar nicht ohne geht: Desinfiziere! Wenn sich deine Haut entzündet hat, solltest du eine:n Arzt/Ärztin aufsuchen. Wenn du Suizidgedanken hast, vertraue dich umgehend jemandem an.

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