Die Welt wird immer bunter – und das ist gut so!
Ich frage mich, welche Farbe mein Teil des Gemäldes symbolisiert. Diese Frage stelle ich mir seit Beginn meiner 30er-Jahre. Zunehmend bemerke ich, dass sie mich immer mehr fesselt. Fast schon neurotisch schaue ich morgens in den Spiegel und frage mich: „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ Dieses Zitat von Precht trifft es wohl am allerbesten. Dabei durchforste ich gedanklich die Farbpalette in meiner rechten Hemisphäre.
Ich bin weiblich, 34 Jahre, kinderlos und nicht verheiratet, das sind die Hardfacts meines Selbst. So würde mich die Mehrheit der Gesellschaft sehen. Vermutlich ein tristes Tannengrün, wenn nicht sogar ein Anthrazit? Ich möchte gar nicht darüber nachdenken (müssen). Die innere Stimme, welche zwischen Morgenroutine und Feierabend täglich ihren schizophrenen Dialog führt, zwingt mich jedoch dazu. Der Zornesfalte und sämtlichen Mimikfalten entsprechend könnte die Farbkombi sogar stimmen. Ein anderer Teil in mir schreit laut auf und lässt das innere Kind rebellieren. „Nein, nein und nochmals nein, – ich widerspreche! Ich widerspreche allen gesellschaftlichen Normen und noch was: Du bist ein Himmelblau, ein Rosa und Mintgrün.“ Diese pastellfarbene Sichtweise gefällt mir viel besser. Softfacts wie Sanftmut, Leidenschaft zum Leben sowie ein ausgeprägter Gerechtigkeitssinn spiegeln meine Ganzheitlichkeit viel mehr wider.
Wenn ich mit Mitte dreißig zu einer Familienfeier, einem Vorstellungsgespräch oder Geburtstag gehe, werden schnell die Hardfacts abgeklopft. Ich möchte aber lieber die Pastellpalette sein. Das nehme ich mir fest fürs nächste Event vor. Bei der Hochzeit meiner jüngeren Schwester hörte ich die Leute sagen und sich gleichzeitig fragen „Was stimmt denn wohl nicht mit ihr? Irgendwas muss bei der nicht ganz richtig sein.“ Das nächste Treffen wird mit Sicherheit nicht lange auf sich warten lassen, da ich aus einer kleinbürgerlichen Großfamilie komme. Dann werde ich meinen ganzen Mut und meine Farbpalette auspacken und SIE fragen, nachdem sie wieder stigmatisieren und philosophieren: „Hast du etwa aufs falsche Pferd gesetzt?“ Das reicht zum Anregen. Sollte das Gesicht dann immer noch fragend schauen und die Farbpalette von Anthrazit bis Tannengrün abklappern, gebe ich einen weiteren, aber letzten Denkanstoß (…)
„Mit sechs wurde ich schließlich in der Schule gefragt, was ich denn werden möchte, wenn ich mal groß bin. Ich antwortete glücklich. Meine Lehrerin meinte, ich hätte das Leben nicht verstanden. Ich wusste aber, sie hatte das Leben falsch verstanden.“ (John Lennon)
Heute arbeite ich als Lehrerin an einer Gesamtschule.
Autorin: Jade Schwane
Foto: Viola Halfar
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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