WARNUNG: Dieser Text enthält Schilderungen von sexualisierter Gewalt.
„Die Frage ist, ob Sie tatsächlich angegriffen worden sind?“
Juni 2017. Eine Gruppe von sechs Männern verfolgt mich bis nach Hause. Es ist nicht die erste Situation, in der mich unwohl fühle und normalerweise ist der Moment, in dem ich das Klicken des eigenen Türschlosses vernehme, jedes Mal der, an dem ich wieder aufatme. An diesem Abend allerdings blockiert der Fuß einer meiner Verfolger die Haustür und versperrt mir damit meine Flucht in die Sicherheit. Ihre Hände zerren an meinen Handgelenken und ziehen mich aus meiner Wohnung zurück auf die verlassene Gasse der Kleinstadt, aus der ich stamme. Sie sprechen davon, dass ich mit ihnen kommen müsse und lassen erst von mir ab, als ich es irgendwie geschafft habe, den Notruf zu wählen. Nicht ohne zuvor noch mein Handgelenk mit einer Brandwunde ihrer Zigarette zu zeichnen. Zurück bleibt eine blasse Narbe, die meine ständige Erinnerung an diesen Vorfall sein soll und noch etwas anderes mit sich bringt: Scham.
Der Kampagne “Ich hab nicht angezeigt, weil…” aus dem Jahr 2012 zufolge sei die Scham einer der Hauptgründe, weshalb die meisten sexuellen Übergriffe nach wie vor nicht zur Anzeige gebracht werden. In meinem Fall lief das etwas anders ab. Ich wusste schon während des Angriffs selbst, dass ich dabei das Opfer war. Wofür hätte ich mich also schämen sollen?
Nein, meine Scham trat erst im Zuge der Anzeige – ausgelöst durch den ermittelnden Beamten – auf:
Ich hatte zuvor noch nie einen Fuß in ein Polizeipräsidium gesetzt, wusste nicht, an wen ich mich wenden musste oder wie eine Anzeige abläuft. Dennoch hatte ich damit gerechnet, dass eine Vernehmung in einem separaten Raum stattfinden würde, mit Polizist:innen, die meine Aussage aufnehmen und mich beruhigen würden. Stattdessen sollte ich in der Eingangshalle stehen bleiben, mir wurde weder ein Stuhl, geschweige denn ein Wasser angeboten. Ich musste den ganzen Vorfall einem, mich missbilligenden Beamten erklären, während etliche Polizist:innen im Foyer an uns vorbei liefen.
So klischeehaft es klingt, hat den Beamten weder die Verfolgung, noch die Nötigung oder die Handgreiflichkeit interessiert. Er unterbrach mich lediglich, als es um meinen Alkoholpegel, mein Outfit oder die Konversation zwischen mir und den Männern ging. Daher dauerte die ganze Vernehmung auch nicht länger als zehn Minuten. Als ich danach wieder den, von der Sommersonne aufgeheizten Asphalt betrat, wusste ich, dass diese Anzeige gegen Unbekannt niemals die Grenzen der Polizeistation verlassen würde.
Es sollte allerdings nicht das letzte Mal gewesen sein, dass ich von besagtem Bundesinspektor hören würde. Einige Monate später, ich hatte die Kleinstadt mittlerweile hinter mir gelassen, beorderte er mich erneut auf die Wache, um eine abschließende Aussage zu aufzunehmen. Die tausend Kilometer zwischen uns ließen dies allerdings nicht zu und so einigten wir uns auf einen E-Mail-Kontakt:
Die Frage ist, ob sie tatsächlich angegriffen worden sind?
Wenn nein, dann können die Ermittlungen eingestellt werden!
Mit freundlichen Grüßen,
BI XY.
Hitze stieg mir in meinen Kopf und brannte sich förmlich in mein Gesicht ein, als ich die Zeilen des Polizisten zum ersten Mal vor mir sah. Ich fühlte mich in die Ecke gedrängt, vorgeführt und nichtig.
Scham setzte ein.
Ich schämte mich dafür, dem Beamten einen Aufwand zu bereiten, schämte mich für meine unter Schock etwas wirr anmutende Aussage und für den Grund meiner Anzeige selbst. In diesem Moment wollte ich nichts anderes, als all die Bilder an die Nacht und den Kontakt zu der Polizei zu vergessen. Ich bedankte mich für seine Bemühungen und zog meine Anzeige schlussendlich zurück.
In den vergangenen fünf Jahren ist meine Scham der Wut gewichen. Wut darüber, dass mir als Opfer keinerlei Respekt entgegengebracht wurde und der Polizist mir stattdessen das Gefühl vermittelte, dass ich mit meiner Geschichte eine Last darstelle. Wut darüber, dass nach wie vor jede dritte weibliche Person Opfer von sexueller Belästigung ist und die österreichische Bundesregierung als Gewaltprävention gegen Frauen, einen selbstbewussten Schritt vorschlägt. Und im Falle der Gefahr, wird die erhobene Stimme mit Ignoranz stumm geschaltet. Die Wut darüber, machtlos zu sein und statt auf Verständnis, auf Schuld zu stoßen.
2017 gingen in Österreich 1759 Anzeigen wegen sexueller Belästigung und öffentlich geschlechtlichen Handlungen ein und nur bei 9,6 Prozent der Anzeigen kam es zu einer Verurteilung. Meine Anzeige zählt zu den 90,4 Prozent die nicht verurteilt wurden.
Und ich frage mich: Wo war mein Freund und Helfer?
*Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Rufnummer 0800-116 016 und via Online-Beratung können sich neben Betroffenen auch Angehörige, Nahestehende und Fachkräfte Unterstützung holen.
*Anmerkung der Redaktion: Dies ist ein Erfahrungsbericht und gilt mitnichten für alle Polizist:innen. Es geht hier um eine persönliche Perspektive, nicht um Pauschalisierung.
Illustration: Claudia Müller
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

Jetzt DIEVERPEILTE supporten und mit dieser geilen Autorin anstoßen!
Folgt uns auf Facebook, Instagram und Spotify.
Autor:innen
War bis November 2022 Redakteurin bei DIEVERPEILTE. Hat Politikwissenschaften studiert und 2022 erfolgreich abgebrochen. Ihre Themenschwerpunkte sind Gesellschaft, Politik und Mental Health.