“Krass, du scheinst echt ne Exhibitionistin zu sein. Den ersten Zettel habe ich ernst gemeint. Mir bringt deine Zeigefreudigkeit nichts. Bin schwul. Mal nebenbei, auch Männer können sich belästigt fühlen.”

Vor genau drei Jahren bin ich aus meiner damaligen WG aus- und in meine eigene Wohnung eingezogen. In eine sanierte Altbauwohnung mitten im Kern von Wien – ein wahrgewordener Traum. Dachte ich zumindest damals noch. Es sollte nicht lange dauern, bis ich diese Aussage revidieren würde. Was nicht per se an der Wohnung lag, – auch wenn mit der im Nachhinein auch noch einiges auf mich zukam, – sondern viel mehr an meiner Nachbarschaft. Beziehungsweise an einem ganz bestimmten Nachbarn: Top 22.

Was Top 22 und mich verband, war nicht nur unsere gegenseitige Ablehnung, sondern auch die papierdünne Wand zwischen unseren beiden Wohnungen. So mussten wir unfreiwilligerweise am Leben des jeweils anderen teilhaben. Es war ein bisschen so, als würde man mit einem unsichtbaren Mitbewohner zusammenleben.

Ganz so unsichtbar blieb er dann allerdings doch nicht, zumindest erreichte er mich nur ein paar Wochen nach meinem Einzug in Briefform. Klebte sich passiv aggressiv als Din-A4-Zettel an meine Wohnungstür für jeden offensichtlich lesbar.

In seinem Brief teilte er mir auf äußerst charmante Weise mit, dass die Folien meiner Badezimmerfenster, die in den Hausflur hinausgehen, zu durchsichtig seien oder um ihn zu zitieren: “… nicht opak genug.” Es folgte ein Mansplaining nach allen Registern, nachdem er mir die exakte Adresse eines Fensterfolienladens aufschrieb und mich darum bat, dem Laden doch mal bitte einen Besuch abzustatten. Prüde sei er aber nicht.

Mein erster Impuls war es, meine noch immer nicht ausgepackten Kisten zu nehmen und direkt wieder auszuziehen. In Ermangelung einer anderen Wohnung und des Geldes entschied ich mich erst dafür, eine Runde zu weinen und dann von Freund:innen und Familienmitgliedern die Opazität meiner Folien gegenchecken zu lassen. Was diese als kaum erkennbare Silhouette bezeichneten, empfand Top 22 als Exhibitionismus, Zeigefreudigkeit und Belästigung.

Mein Exhibitionismus sollte nicht der einzige Störfaktor bleiben und so folgten weitere Zettel zum Thema, wie man Türen richtig zu schließen hat oder dass die Nachtruhe exakt um 22:00 beginnt, jeder Einzelne davon sorgfältig mit Paketband an meine Türe geklebt.

Um das noch einmal zu Verdeutlichen: Gesehen hatten wir uns bis zu diesem Zeitpunkt noch nie, denn zu Klingeln und mit mir persönlich zu reden war ihm wohl nicht in den Sinn gekommen. Stattdessen machte er mich monatelang über Klopfzeichen gegen die gemeinsame Wand und demonstrativ lautes Türenschließen auf meine Grenzüberschreitungen aufmerksam. Ich blieb dabei stumm oder verstummte daraufhin.

Bis heute habe ich nur ein einziges Mal auf einen seiner Briefe geantwortet und irgendwie ärgert mich das, denn auch wenn unsere Kommunikation mittlerweile erloschen ist hat Top 22 mir seine Grenzen sehr deutlich klargemacht, ich ihm meine allerdings nie. Ich habe mich stattdessen angepasst, mein Verhalten in meiner eigenen Wohnung verändert und mich ihm auf diese Art und Weise unterworfen.

Mit Nachbarschaften verhält es sich wie mit der eigenen Familie: Man sucht sie sich nicht aus. Allerdings kann man sich aussuchen, wie man mit ihnen umgeht. Ich frage mich, ob ich heute anders auf diese Situationen reagieren würde. Allerdings bezweifle ich das, denn allein in diesem Moment schreibe ich den Text in der Vergangenheitsform.

Warum ich das mache?

Top 22 und ich teilen uns noch immer dieselbe Wand. Top 22 und ich sind noch immer Nachbarn. Doch bis heute versuche ich genau diesen Umstand zu ignorieren, weil es mir nach wie vor leichter fällt, mich anzupassen, anstatt die Grenzen der freundlichen Nachbarschaft zu überschreiten.

Illustration: Bea Dietel

Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

Spenden Illustration 1 100 sw 1

Jetzt DIEVERPEILTE supporten und mit dieser geilen Autorin anstoßen!

Folgt uns auf FacebookInstagram und Spotify.

Autor:innen

Website | + posts

War bis November 2022 Redakteurin bei DIEVERPEILTE. Hat Politikwissenschaften studiert und 2022 erfolgreich abgebrochen. Ihre Themenschwerpunkte sind Gesellschaft, Politik und Mental Health.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert