Wie wahrscheinlich viele in meiner Generation genieße ich die selten gewordene Zeit in meiner Heimat. Seit über einem halben Jahrzehnt lebe ich nun schon mehr als fünfhundert Kilometer von meiner Familie entfernt. Das vertraute Umfeld, herzensgute Menschen, starker Zusammenhalt und der beste Kuchen weit und breit schaffen es immer wieder, dass ich zu meinem Ruhepol zurückfinde.
„Die Geschichte der letzten vier Jahrzehnte ist trotz aller Widersprüche und Belastungen ein Teil unserer persönlichen Biografie, ein Stück unseres gewachsenen Ichs. Sie hat uns geprägt, und sie hat fast jeder Person, die damit in Berührung kam, große Anstrengungen abgefordert. Dies schuf auch ein Gefühl von Identität und bei denen, die bewusst hierbleiben, eine Gemeinsamkeit, die zurückzulassen manchen schwer fallen wird. Wir wollen die Einheit, auch wenn nicht alle diesen Übergang heute mit leichtem Herzen erleben.”
Unter anderem mit diesen Worten richtete sich Lothar de Maizière als letzter Ministerpräsident der DDR am zweiten Oktober 1990 in einer Rundfunk- und Fernsehansprache an alle Menschen Deutschlands. Einen Tag später wurden die neuen Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen im Zuge der Wiedervereinigung offiziell Teil der Bundesrepublik Deutschland.
Das ist nun über dreißig Jahre her. Für mich, Jahrgang 98, sollte das eigentlich keine große Rolle mehr spielen. Doch die ehemalige DDR begleitet mich als Kind der neuen Bundesländer bis heute – und das oftmals mehr, als mir eigentlich lieb ist.
Ich wagte nach dem Abitur den „großen Schritt“ von Dresden nach Stuttgart. Neues Umfeld, neue Leute, Studium der Politikwissenschaft und Geschichte. Ich war aufgeregt und freute mich auf diesen Lebensabschnitt. Endlich studieren und in eine richtige Großstadt – mit einer bunteren und quirligeren Gesellschaft. Die Grenze zwischen „Ost“ und „West“ hatte bis dahin für mich absolut keine Rolle gespielt. Ich hatte auch schon länger Freund:innen aus den alten Bundesländern und genoss die Zeit dort immer sehr.
Auf irgendeiner Ersti-Veranstaltung beschließt ein Kommilitone nach ein paar Bierchen, mit mir über die ungewöhnlich hohen Wahlerfolge der AfD im „Osten“, den Solidaritätszuschlag und den Montagsmärschen in meiner Heimatstadt diskutieren zu wollen. Das Ganze gipfelt irgendwann im absoluten Höhepunkt des Abends: „Mensch, sprich doch mal sächsisch, Du kommst doch von dort und das klingt so lustig!“. Ich verstehe natürlich, dass der sächsische Dialekt für Außenstehende ulkig klingen mag. Wenn man aber auf den Dialekt und die Außenwahrnehmung der Heimat reduziert wird, findet eine Ausgrenzung statt. Und das ist nicht in Ordnung. Denn trotz über dreißig Jahren der Wiedervereinigung Deutschlands sind „ostdeutsche“ Studienanfänger:innen an den Unis der alten Bundesländer klar in der Minderheit.
Diese Diskussionen und Aufforderungen begleiten mich während meines gesamten Studiums in unterschiedlichen Städten Baden-Württembergs. Ich habe versucht, immer locker mit der Situation umzugehen, da ich meistens das Gefühl hatte, dass mir keine:r damit in irgendeiner Art etwas Böses wollte. Also tief durchatmen, drei Sätze sächseln und weiter gehts. Entschied ich mich mal für den anderen Weg und ging in die Konfrontation, stieß ich oft auf Unverständnis. Diese unsichtbare Grenze zwischen „Ost“ und „West“, von der ich nicht dachte, dass sie auch in meiner Generation Bestand hat, ist mir aber bis heute unangenehm und schleierhaft. Ich habe zu all diesen Themen eine klare Meinung, bin historisch und politisch interessiert und aktiv. Oftmals fühle ich mich in Gesprächen über meine Heimat aber so, als ob ich mich rechtfertigen müsste. Beziehungsweise, dass ich die Menschen in den neuen Bundesländern vor allem für ihre Handlungsweisen, durch die sie oftmals in den Medien pauschalisiert werden, verteidigen muss. Das gängigste Beispiel ist für mich dabei der inzwischen als „Hutbürger“ bekannte ehemalige Beamte des sächsischen LKA, der vor vier Jahren das Gespött aller gängigen Medien wurde und der sogar von Unternehmen für Werbezwecke genutzt wurde, – ohne dass sich dabei mit der eigentlichen Problematik auseinandergesetzt wurde. Dabei müssen wir einfach auch mal anerkennen, dass für viele Bürger:innen der ehemaligen DDR durch die Wiedervereinigung Helmut Kohls Versprechen von blühenden Landschaften nicht in Erfüllung gegangen ist.
Da wäre zum Beispiel das Agieren der Treuhand. Insgesamt unterstanden ihr über 12.000 Unternehmen der ehemaligen DDR, bei denen mehr als vier Millionen Menschen beschäftigt waren. 1994 wurde die Treuhand durch die Bundesregierung aufgelöst: Die Privatisierung und Kommunalisierung der Betriebe war abgeschlossen. Allerdings wurde bei vielen der Unternehmen die Produktion nicht fortgeführt. Insgesamt blieb nur jeder vierte Arbeitsplatz in den von der Treuhand veräußerten Betrieben erhalten. Millionen von Menschen, die heutigen Transformationsverlierer:innen, wurden arbeitslos und erreichten trotz Umschulungen meistens keine Festanstellung mehr und gingen in Frührente. Durch die Treuhand gingen achtzig Prozent des ehemaligen DDR-Produktionsvermögens an Westdeutsche und lediglich sechs Prozent an ehemalige DDR-Bürger:innen. Irgendwie verständlich, dass diese Politik als Ausverkauf der Heimat wahrgenommen wurde. Trotz finanzieller Unterstützung durch den Sozialstaat rutschten viele DDR-Bürger:innen dadurch in schlechtere Lebensumstände. Entweder wurde die Situation mit der von den im Vergleich gut situierten Westdeutschen oder mit der eigenen vor dem Zusammenbruch der DDR verglichen.
Dann gab es noch die sogenannten „Aufbauhelfer:innen Ost“. Ostdeutsche konnten die neu geforderten Qualifikationen in Management, Bundesbehörden und Rechtsprechung meistens nicht erfüllen. So kamen innerhalb von fünf Jahren circa 35.000 westdeutsche Bedienstete von Kommunen, Ländern und dem Bund temporär oder unbefristet in den „Osten“, um das bundesdeutsche System auf die ehemalige DDR zu übertragen. Die Beamt:innen aus dem „Westen“ kamen nicht als Gleichgestellte in die ehemalige DDR, sondern als Vorgesetzte. Ihr Auftreten wurde von vielen Ostdeutschen als arrogant wahrgenommen. Dadurch entstand über die Jahre hinweg eine Stigmatisierung von westlicher Überlegenheit. Die Ostdeutschen wurden oftmals als zurückgeblieben und hilfsbedürftig abgestempelt und die kulturellen und mentalen Gräben zwischen Ost- und Westdeutschen begannen, sich zu verfestigen.
Noch heute gleichen die Strukturen in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik der Bundesrepublik dem Schema einer Pyramide: Je höher der Rang, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, auf Ostdeutsche zu treffen. Es wird davon ausgegangen, dass Ostdeutsche bei einem Bevölkerungsanteil von 17 Prozent in den absoluten Spitzenpositionen der Bundesrepublik mit einem Anteil von sechs bis acht Prozent vertreten sind. In den Bereichen Wirtschaft, Militär und Justiz sind wir sogar extrem unterrepräsentiert. „Aber Angela Merkel und Joachim Gauck sind doch auch aus der ehemaligen DDR“, werden dann viele sagen. Stimmt, aber sie sind eher als Ausnahmefälle zu betrachten und tragen vielmehr zum Herunterspielen der Situation bei. Der Terz, der vor zwei Jahren um Ines Härtel als erste aus den neuen Bundesländern stammende Richterin am Bundesverfassungsgericht veranstaltet wurde, zeigt, dass wir noch lange nicht so weit sind.
Ich könnte jetzt mit weiteren Beispielen noch etliche Seiten füllen. Das möchte ich aber gar nicht. Was ich möchte, ist einfach mehr Verständnis. Nicht für das Wählen der AfD oder die Märsche gegen Menschen mit Migrationshintergrund. Sondern für die Situation von vielen Menschen in den neuen Bundesländern aus der Generation von unseren Großeltern und Eltern. Viele von ihnen trauern einer – in ihren Augen – besseren Vergangenheit hinterher. Und das ist ihr gutes Recht, selbst wenn wir das anders sehen. Auch wenn meine Besuche in der Heimat immer seltener werden, fahre ich gerne dorthin. Und ich möchte mich dafür nicht rechtfertigen müssen. Ich hoffe, dass wir die deutsch-deutsche Geschichte langfristig gemeinsam aufarbeiten können – und dabei sowohl ihre guten als auch ihre schlechten Seiten ausgiebig beleuchten. Dass wir uns von dem gegenseitigen Pauschalisieren lösen und alle Bundesländer und ihre Bürger:innen mit ihren kulturellen Einzigartigkeiten schätzen lernen. Und dass wir letzten Endes reflektieren und verstehen, warum es diese Grenze in unseren Köpfen immer noch gibt, um sie endlich einzureißen. Bezüglich der Treuhand muss das leider noch etwas warten. Vor drei Jahren haben CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses über die Arbeit der Treuhand im Bundestag abgelehnt.
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.
Autor: Jonas
Illustration: @mi_amo_nina

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