„Werden Sie eigentlich auch manchmal wütend?“, fragt mich meine Therapeutin.
Mein Gehirn springt sofort zu all den Situationen der letzten zwanzig Jahre, in denen ich vor Wut hätte platzen können.
„Schon“, sage ich also, „oft.“
„Und was machen Sie dann?“, fragt sie weiter.
„Abwarten, bis ich klar denke, sicher bin, dass die Wut gerechtfertigt ist und ich formulieren kann, was mich stört und das Problem erst dann angehen.“
Meine Therapeutin sieht sehr wissend drein. Ich denke, die richtige Antwort gegeben zu haben, aber ihre Frage lässt mich nicht los. Warum denke ich eigentlich als Allererstes daran, dass ich kein Recht habe, wütend zu sein? Und warum fühle ich mich verpflichtet, reflektiert zu reagieren?
„Ein einziges Mal will ich auch die sein, die einfach ausrastet und alles loswird, ohne Rücksicht zu nehmen“, sagt eine Freundin, die wütend darauf ist, wie wir beide mit unserer Wut umgehen.
Ich bin fünfzehn und unglücklich verliebt. Er hat eine Freundin, weiß aber über meine Gefühle Bescheid. Ich bekomme ungefragte Dickpicks, erhoffte liebe Nachrichten, Herz-Emojis, Versprechen und er? Bestätigung. Was mir nach langer Frustration bleibt, ist Wut auf mich, weil ich so mit mir umgehen lasse. Was bleiben sollte, ist Wut auf ihn aus offensichtlichen Gründen.
Wenn ich also meiner Therapeutin sage, ich werde oft wütend, meine ich primär: wütend auf mich.
Mit dreizehn habe ich einen Boxsack zu Weihnachten geschenkt bekommen und empfand ihn als Retter in jeder Situation, in der ich nicht wusste, wohin mit meiner Energie – meistens dann, wenn ich auf irgendetwas oder irgendjemanden wütend war.
Ich habe Wut schon damals als etwas empfunden, das man möglichst schnell loswerden sollte. Ein unangenehmes, lästiges Gefühl, eine Zecke, die sich an mich klammerte, ob es mir passte oder nicht.
Körperlich gesehen ist Wut eigentlich eine Lebensretterin: Der Reiz – zum Beispiel eine Form der Kränkung, – wird über einen Teil des limbischen Systems über die Großhirnrinde an den Hypothalamus weitergeleitet. Die körperlichen Symptome kennen wir: Die Hände werden schweißnass, der Puls steigt, die Pupillen werden kleiner. Der Körper schüttet Adrenalin und Noradrenalin aus, er steht unter Stress bzw. befindet sich im „Fight or flight“-Modus. Unseren Ahn:innen rettete dieser Zustand bei Gefahr das Leben. Mich bringt er in unangenehme Situationen.
Ich bin achtzehn und arbeite als Rezeptionskraft. Bei dem Termin eines Kunden scheint ein Fehler passiert zu sein. Ich habe ihn nicht gemacht, aber immerhin einen wutentbrannten Mann vor mir stehen. Während ich versuche, ruhig und höflich zu bleiben und ihm sowohl die Problematik als auch Lösungsvorschläge zu erklären, unterbricht und beschimpft er mich und die Kolleg:innen, denen der Fehler passiert ist. Ein Kollege kommt aus seiner Pause zurück und der Kunde lässt mich links liegen, um die Meinung meines Kollegen zu hören. Dieser erklärt dem Kunden wortwörtlich das gleiche wie ich. Der Kunde beruhigt sich, nimmt einen der Lösungsvorschläge an, spricht mit mir aber kein Wort mehr.
Die beiden sind weg und ich bin bilderbuch-wütend: Ich spüre mein Herz in meinem Kopf schlagen, ich schwitze, ich merke das Adrenalin in mir. Ich gehe in den Nebenraum, um mich zu beruhigen, weil ich nicht will, dass mich jemand so sieht.
Später kommt der Kunde zu mir und entschuldigt sich mit einem läppischen „Ich hatte einen schlechten Tag“. Ich sage nichts, lächle verkniffen.
Diesmal weiß ich genau, auf wen ich wütend bin. Ich weiß, dass ich Grund dazu habe. Warum also weigere ich mich so sehr, die Wut zu äußern? Und ich weiß, ich bin nicht die Einzige. Warum also verdammt nochmal, traue ich mich nicht, meine Wut dahin zu richten, wo sie hingehört? Weil es einfacher ist, habe ich herausgefunden. Mit mir werde ich immerhin fertig. Natürlich habe ich Angst vor den Reaktionen. Ich habe Monate gebraucht, es meinem Freund zu sagen, wenn ich mal sauer war, weil ich mir Sorgen machte, was das auslösen könnte.
Ich hielt es auch dann für immens wichtig, dass ich emotionslos erklären kann, was genau mich stört. Und das Problem mit dieser Denkweise habe ich erst vor ein paar Wochen erkannt.
Eine Freundin beschwerte sich damals bei mir: „Manchmal will ich einfach nur ansprechen, was mich stört, und dann kommen mir die Tränen und plötzlich sind alle darauf fokussiert, dass es mir irgendwie schlecht geht. Und dann will ich immer sagen, dass es mir nicht schlecht geht, sondern dass ich nur genervt bin und sie aufhören sollen, mich zu trösten!“
Zwei weitere junge Frauen standen bei uns und nickten synchron wissend.
Mir fällt auf, wie oft ich mich dadurch habe zurückhalten lassen, Tränen in meinen Augen zu spüren, wenn ich doch wütend bin. Meistens wende ich mich dann ab oder atme durch, weil ich Angst habe, nicht ernst genommen zu werden. Weil ich nicht emotional sein will und vor allem nicht eins: hysterisch.
Dieses Wort, dieses eine Wort, mit dem wütende Frauen so oft abgestempelt werden, wenn sie laut werden oder eben weinen, während sie ihrem Ärger Luft machen. Und wenn es das nicht ist, dann die allbekannte Frage, oft begleitet durch den idiotisch-wissenden Blick: Ahhh, sie muss ihre Periode haben, oder?
Natürlich passt es nicht in das ideale konservative Rollenbild der Frau, wenn sie sich lautstark gegen etwas stellt. Sie hat zu tun, was von ihr verlangt wird und dabei stets ein Lächeln aufzusetzen. Obwohl wir von der Zeit, in der Frauen mit der „Tendenz, anderen Schwierigkeiten zu bereiten“, ganz einfach mit weiblicher Hysterie diagnostiziert wurden, ein Stück weit entfernt sind, ist also die Angst vor Abwertung wegen emotionaler Reaktionen auch bei mir noch zu groß.
Doch es liegt nicht nur daran. Ob es sich nun um verletzendes Verhalten des Kerls mit fünfzehn, Alltagssexismus, oder kleinerer Ungerechtigkeiten handelt, aufgrund der ich Anflüge von Wut verspüre – immer ist da dieser Drang, darüber zu stehen. „Der Klügere gibt nach“, heißt es da manchmal, oder „Begib’ dich doch nicht auf das Niveau der anderen“.
Das ist ein Gedanke, der in meinem Kopf präsent ist, oder eben der Wunsch, so wie die Leute zu sein, die nach dem Prinzip „Fuck them all“ leben können. Ich für meinen Teil bin noch nicht so weit.
Zum Glück gibt es Tage, an denen ich darüber stehen kann, oder Tage, an denen es mir wichtig ist, ruhig zu bleiben. Manchmal mag das zielführender sein. Aber manchmal komme ich damit wirklich an meine Grenzen. Nachdem ich jetzt also durch diese eine Therapiesitzung lang und breit geklärt hatte, was mich vom Wut-nach-außen-tragen abhält, habe ich das Reflektieren satt. Und ganz ehrlich, lieber Kunde, manchmal möchte ich endlich auch einfach nur einen schlechten Tag haben.
Daher eine Notiz an mich selbst und meine Freundin und alle anderen Frauen: In der Praxis kann man auch mit Tränen in den Augen noch richtig gut schreien.
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.
Autorin: Jule Schweitzer
Illustration: Laura Sistig

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