WARNUNG: Dieser Text enthält Schilderungen von sexuellen Handlungen und Sucht.

Ich verstehe, was es heißt, Liebe zu machen. Also das, was alle immer sagen. Das, von dem ich dachte, wenn ich mir die Videos auf meinem Handy anschaue, dass ich weiß, was Liebe machen ist.  

Hinten rechts, das zehnjährige kichernde Mädchen, ja, das bin ich. Mal wieder lache ich über die unangebrachten Stöhngeräusche von D. dem Klassenclown. Ich habe ihn genau im Blick. Im Unterricht scheint man einen Fünftklässler nicht anders in den Griff zu bekommen, als dass man ihn mit dem Platz direkt am Lehrerpult bestraft. Die Jungs sprechen in den Pausen von versauten Videos und lachen lautstark. Zwischen dem Lachen haben sie noch die Kraft, das Stöhnen von Frauen nachzuahmen. Es müssen Frauen sein, wie sich die kleinen Knirpse mit ihrem Hals in die Luft winden, mit ihrer rechten Hand durch ihr nicht vorhandenes langes Haar fassen und mit der linken einen starken Griff an die Brust vornehmen. Beschämt sitze ich in ihrer Nähe und lächle rüber, als wüsste ich genau, was sie meinen.

Auf dem Schulhof wird mir immer mal wieder ein Handy vors Gesicht gehalten. Mit Videos, die zeigen, wie Frauen und Männer Sex haben. Die Begeisterung der stolzen Jungs vermittelt mir den Anschein, als hätten sie diese Kurzvideos produziert. Meine Neugier, die Klassenkameraden zu verstehen, war groß, aber so richtig auf die Pornoseiten habe ich mich zu Hause nicht getraut.

Ich bin zwölf. Mein Kumpel X. ist eine enge Bezugsperson für mich. Ich vertraue mich ihm an. Wir sprechen über banale Themen wie den Besuch in der Standard-Tanzschule und die damit einhergehende Unsicherheit meiner schwitzigen Hände, die ich meinen wechselnden Tanzpartnern entgegenbringe. Aber auch Sex wird mit ihm zu einem tabulosen Thema. Irgendwann nach der Schule blicke ich auf mein Handy und gehe auf den Chat von X. und mir. Er hat mir einen Link geschickt. Eine Pornoseite. „Wenn er da drauf geht, dann kann ich das auch“, dachte ich mir, und so hat sich mir die Welt der unendlichen Penetration eröffnet.

Irgendwie ist der Gedanke schön, jetzt mit vierzehn zu verstehen, was es heißt, sich selbst glücklich zu machen. Ich schaue häufiger auf mein Handy. Im Durchschnitt suche ich dreißig bis sechzig Minuten ein Video, das mich so richtig glücklich macht. Die Zeit habe ich meistens nachts. Da schlafen alle. Und trotzdem versuche ich selbst meinem Atem keinen Raum zu geben, meine Beine nicht zu bewegen und mit meiner Hand nicht gegen die Decke zu kommen, die über ihr liegt. Währenddessen stöhnt mir eine Frau in mein rechtes Ohr, die auf meinem Handybildschirm von nicht weniger als zwei durchtrainierten Männern durchgenommen wird. Das soll Liebe sein? Keine Ahnung, aber ich bin erregt. So sehr, dass ich komme. Befreiung macht sich breit. Ich bin fertig und krabble mit meinem Kopf voran aus meiner kleinen Höhle.

Ich bin sechzehn. Jedes Mal, wenn ich mich hinlege, zücke ich mein Handy. Ohne gehts gar nicht mehr. Die Handlungen in den Clips werden immer extremer. Hart und wild, ohne Rücksicht auf die Frau. Meine Ansprüche an das Stöhnen der Frauen, die Form des Penis und die Qualität der Videos werden immer höher. Mittlerweile suche ich zwischen einer und zwei Stunden nach einem brauchbaren Masturbationshelfer. Frustration macht sich breit, aber mit meiner langjährig erprobten Geduld und einem sich anbahnenden Krampf im Arm komme ich am Ende doch irgendwie. Sex mit meinem Partner rückt für mich immer mehr in den Hintergrund und von den kurzen Stimmungsmachern bin ich nach Stunden der Suche und meinem eigenen sechzigsekündigen Vergnügen am Ende nur noch genervt. Irgendwas stimmt nicht. Ich gebe mich mit nichts mehr zufrieden. Mit meinem Freund läuft es im Bett nicht mehr. Mir fehlt die Abwechslung. Ich brauche neue Orte, nur im Bett ist öde und langweilig. Mein Taschengeld geht für Dessous drauf, darauf stehen Typen ja schließlich. Mein langjähriger Ratgeber löst mittlerweile ebenfalls keine Zufriedenheit mehr aus. In meinem Inneren macht sich Wut breit. Die Leute in den Videos scheinen im Vergleich zu mir weitaus mehr Spaß an ihrem Sexleben zu haben. Vergleich, das ist es! In meinem Kopf fängt etwas zu arbeiten an. Ich brauche eine Pause.

Kalter Entzug nennt man das. Für die nächsten sechs Monate habe ich mir vorgenommen, keine Pornos mehr zu schauen. Wenn ich Masturbieren will, dann bitte nur noch mit Gedanken. Gar nicht so leicht. Mir fehlt die externe Erregungsquelle. Eine laut stöhnende Frau in meinem Ohr, stark wirkende Männer, die sich vor meinen Augen um sie herumwinden und das Gefühl, etwas Verbotenes zu schauen.

Die ersten Male waren gar nicht so leicht. Echt nicht. Meine kleine Höhle schützt mich davor, gegen eine weiße Decke zu starren und mich in meinem eigenen Zimmer beobachtet zu fühlen. Mein eigenes leises Stöhnen muss jetzt für die geübte Darstellerin herhalten. Mit Spucke versuche ich, die Trockenlandschaft zu befeuchten und mir mit geschlossenen Augen meine eigenen Bilder im Kopf hervorzurufen. Ich werde besser und neugieriger. An meinem Körper streiche ich über Stellen, die ich vorher nicht als Erregungspunkt wahrgenommen habe. Die Zeit, die ich mir vorher nie genommen habe, nehme ich mir jetzt. Diese Zeit nutze ich nun nicht mehr fürs Suchen, sondern fürs Fühlen und Entdecken. Irgendwie lerne ich mich neu kennen.

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ALLE ILLUSTRATIONEN: TERESA VOLLMUTH

Ich bin neunzehn. Die Pornos sind irgendwann langsam wieder in mein Leben gekommen. Die Pause tat gut, aber so ganz ohne finde ich es auch langweilig. Mittlerweile habe ich auch eine neue Seite. Ungern wechsele ich meine Pornoseiten. Meine Angst vor Viren ist zu groß. Ja, okay, ich bin etwas paranoid, na und? Willst du dabei beobachtet werden, wenn du allein in deinem Zimmer auf dein Handy starrst und die Szene abwartest, in der die Frau am lautesten stöhnt und verzweifelt nach Luft ringt, du dir dabei selbst mit den Fingern immer schneller über die Vulva gleitest, bis du mit ihr gemeinsam zum Höhepunkt kommst? Na ja, was heißt gemeinsam. Sie wird weitergefickt. Keine Ahnung, wie sie das aushält. Ich bin fertig für heute. Damals konnte ich mehrfach am Tag masturbieren. Mein Anspruch war: Sie kann weitermachen, ich also auch. Mit einer gesunden Abwechslung zwischen den Videos und eigenen Gedanken rede ich mir meinen Konsum klein. An der radikalen Penetration der Frauen in den Videos, die ich mir anschaue, hat sich nichts geändert. Das macht sich auch in meinem Sexualleben bemerkbar. Mein nächster Freund, – genau das Gleiche! Wild und würdelos. Hauptsache dreckig. Aua. Ich schreibe das und denke mir: Was ein Scheiß. Wir sind seit wenigen Monaten zusammen und ich habe wieder keine Lust auf Sex, wie bei meinem ersten Freund. Und wieder liegt es an mir. Wieso wiederholt sich das Ganze? In meinem Kopf macht es Sinn. Ich brauche schließlich Abwechslung. Mittlerweile ist zu dem seltenen Sex die Trennung dazu gekommen. Und der Sex war nicht ausschlaggebend für die Trennung.

Nach dieser Phase werden die Zweifel an meinem zwanzigjährigen Ich immer größer. Also an meiner Person. Ich scheine keine Beziehung hinzukriegen, in der ich nach Ablauf von fünf Monaten noch Lust auf den gleichen Typen und den gleichen Sex habe. Kein Blick oder Griff ist mir hart genug. Ich wollte häufig am Tag Sex, doch Spaß hat es mir schon nach zwanzig Minuten keinen mehr gemacht. Es ist auch superanstrengend, so lange am Stück darauf zu achten, wie ich aussehe. Also ob ich sexy schaue, seinen Arm richtig greife und mein Stöhnen erregend klingt. Sexy, genau darauf fokussiere ich mich, wenn ich mit einem Typen schlafe. So sehr, dass ich mit meinem Kopf gar nicht bei der Sache bin und mir mehr Einsatz von ihnen wünsche, damit ich nicht mehr nachdenken muss. Nicht mehr an die Pornos denke, die mich innerlich davon abhalten, am realen Sex teilzunehmen. Ich will doch einfach nur gefickt werden, wie die Frauen, die ich all die Jahre schon bewundere, weil sie immer feucht sind und mit ihren fordernden Blicken in die Kamera auch mich geil machen. 

Ich dachte, es liegt an mir. Bis ich die nächsten Sexualpartner hatte. Je extremer und emotionsloser es wurde, desto mehr begann ich nachzudenken. Ich hatte doch nur wieder den Sex, den ich immer so geliebt habe. Nein, es liegt nicht an mir. Ich will Leidenschaft. Ich will Liebe. Ich will weinen und schwitzen. Irgendwas löst sich in meinem Kopf, aber ich verstehe nicht, was.

Ich bin dreiundzwanzig und irgendwas hat sich verändert. Die Pornos, die ich schaue, werden realer. Sie beinhalten nicht mehr so aufgesetzte Frauen, deren Stöhnen man mit geschlossenen Augen schon zuordnen kann. Sie sind eher so mitten aus dem Leben, was sich bei der Qualität der Videos bemerkbar macht. Ich suche immer noch so lange, bis ich zufrieden bin. Eine halbe Stunde kriege ich damit gut gefüllt.

Mein nächster Freund. Wieso brauchte ich Männer, um zu verstehen, was mit meinem Kopf los ist. Mit meiner Lust und meinem Verlangen. Na ja, ich lerne mich selbst schon gut kennen, aber mit ihnen tatsächlich noch besser. Ich verstehe jetzt, dass ich Liebe will und beim Sex lieben. Durch meine neue Partnerschaft habe ich mich fallen lassen können. Der Sex ist anders. Gefühlvoller. Ich will mich nicht mehr so fühlen, als wäre meine Erniedrigung und die Penetration des Mannes das Einzige, was mein Sexleben ausmacht. Jahrelang war ich damit beschäftigt, zuzuschauen, wie andere Frauen sich ficken lassen. Wie sie dabei schauen und sich bewegen. Daraufhin habe ich sie kopiert: Ihre Blicke, ihre Geräusche, einfach alles wollte ich auch können. Denn Männer lieben so etwas doch.

Sehr früh kam ich mit Pornos in Berührung und habe dabei jahrelang nicht bemerkt, was sie mit meinem Sexleben gemacht haben. Was sie mit mir gemacht haben. Ich fange an zu verstehen, dass ich nicht dieser Frau hinter der Kamera entspreche, die immer will und Lust hat. Die bei jedem Stoß lautstark stöhnt und mit Beleidigungen um sich wirft. Es geht halt nicht nur um dieses surreale Bild, was ich mir all die Jahre in meinem Kopf aufrecht erhalten habe. Ich lege mein Handy zur Seite.

Wieder mache ich eine Pause. Eine Pause von Pornos, die mich an mir selbst zweifeln ließen, mein Bild von Frauen und Männern veränderten und sich manipulativ in mein Sexleben eingemischt haben, ohne dass ich es überhaupt gemerkt habe. Ich brauche eine Pause, denn Pornos ficken meinen Kopf!

Autorin: Natalia

Anmerkung der Redaktion: Dies ist ein Erfahrungsbericht und gilt mitnichten für alle Menschen, die Pornos schauen. Es geht hier um eine persönliche Perspektive, nicht um Pauschalisierung.

Du schaust auch zu viele Pornos? Du bist nicht allein. Es gibt mehrere Selbsthilfegruppen, die Betroffenen Unterstützung bieten. Dazu gehören beispielsweise die Anonymen Sexsüchtigen, die Anonymen Sex- und Liebessüchtigen.  Angehörige von Sexsüchtigen wiederum können sich an S-Anon wenden.

Eine spezialisierte Psychotherapie oder Sexualtherapie kann bei Problemen mit übermäßigem und suchtartigem Pornokonsum helfen. Therapeut:innen sollten Erfahrung im Umgang mit der Problematik haben und wissen, worauf es dabei ankommt. 

Informationen zu Psychotherapie bietet beispielsweise die Bundes Psychotherapeuten Kammer. Mögliche Therapeut:innen in Deutschland finden sich im Verzeichnis der Psychotherapeuten sowie in den Verzeichnissen des Instituts für Sexualtherapie in Heidelberg sowie des Netzwerks Sexualtherapie.

Dieser Text erschien erstmals am 08. März 2022und wurde am 28. November 2022 nochmals aktualisiert.

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