Mitte September 2022, nach dem gewaltsamen Tod von Jina Mahsa Amini in iranischer Haft, war mein Instagram Feed voll mit Videos von den Protesten im Iran, die sich schließlich international als „Woman-Life-Freedom-Bewegung“ ausbreiteten. Einige Wochen lang war ganz Deutschland entsetzt. In Berlin protestierten über 80.000 Menschen gegen das Mullah-Regime und es wurden fleißig Petitionen geteilt. Doch das Jahr 2023 begann mit diversen neuen Krisen, sodass die Menschenrechtsverletzungen im Iran immer weiter aus dem Zentrum der medialen Aufmerksamkeit rückten. Um nachzufragen, wo die Revolution aktuell steht, habe ich mich mit der Aktivistin Sahar getroffen, die in Hamburg in der WLF-Bewegung aktiv ist. Sahar hat mir außerdem den Kontakt zu ihrer Cousine Azita, die im Iran lebt, vermittelt. Die Namen sind geändert, da beide fürchten, ihre Familie könne vom Geheimdienst des iranischen Regimes bedroht werden.

Noch bevor Sahar und ich uns für ein Interview treffen, sendet sie mir auf WhatsApp lange Texte zur Geschichte des Iran und nimmt mir damit bereits einen großen Teil meiner Recherche ab. Mir werden zwei Dinge klar: 

1. Sahar möchte die Geschichte des Iran nicht als die eines mächtigen Regimes erzählen, sondern die Geschichte der Menschen, die im Iran leben und für Freiheit kämpfen. 

2. Westliche Medien haben mein Bild vom Iran als ein traditionell islamisches Land geprägt, in dem Frauen sich verschleiern und alles, was Spaß macht, verboten ist. Doch das geht vollkommen an der Realität vorbei. 

„Der Iran hat eine bunte, junge Gesellschaft, die größtenteils westlich orientiert und sehr gebildet ist. Die jüngeren Generationen dort nutzen Instagram und TikTok, sie feiern Partys, trinken Alkohol, schminken sich, färben sich die Haare bunt und führen Beziehungen – auch gleichgeschlechtliche. Nur müssen sie all das verstecken, weil all das strafbar ist. Bis hin zur Todesstrafe“ schreibt Sahar mir. Je intensiver ich mich mit dem Thema beschäftige, desto mehr wächst mein Respekt vor den jungen Iraner:innen, die bei Protestaktionen lieber ihr Leben riskieren, als weiter unterdrückt zu leben. 

Sahar, die in Deutschland aufgewachsen ist, verfolgt seit ihrer Kindheit die politischen Bewegungen im Heimatland ihrer Eltern. Auf die Frage, was sie motiviert, nahezu wöchentlich auf den WLF-Protesten (Woman Life Freedom) in Deutschland zu demonstrieren, reagiert sie beinahe verblüfft: „In einer Region, in der Frauen- und Menschenrechte mit Füßen getreten werden, stehen Männer und Frauen nebeneinander auf. Wie kann man da nicht mit aufstehen? Wenn die Politik in Europa weiterhin wegschaut und mit den Machthabern verhandelt, als seien sie legitime Vertreter des Volkes, dann werfen wir den Menschen dort Knüppel zwischen die Beine. Sie kämpfen für Werte, die für die jüngeren Generationen im Westen selbstverständlich scheinen. Der Iran ist gerade extrem beeinflussbar – wir müssen diesen Kippmoment in der Geschichte nutzen.“ Auch ihre Cousine Azita im Iran sieht es trotz der Gefahren, denen sie sich durch ihren Aktivismus aussetzt, als ihre Pflicht, ihren Support zu zeigen. „I am not being brave. Those people who are tortured and raped in our prisons, they have been through hell. The guards break their bones, give them drugs, try to infect them. And the mental torture is even worse. They tell prisoners ‘We have your sister here, if you don’t want her to be raped, you have to talk’. We owe it to those people who risk everything to speak up!“ Sowohl im Iran als auch in Deutschland – die beiden betonen immer wieder, dass jede unterzeichnete Petition, jeder geteilte Post und jede Demo einen Unterschied machen. Azita: „You guys have freedom of speech, use your voice, be as loud as you can so that your governments have to act. Put your politicians under pressure. Spread the names of our prisoners.”

Laut der Hacker:innengruppe Edalaate Ali, die bereits 2021 Videos der Überwachungskameras aus dem berüchtigten Folter-Gefängnis Evin veröffentlichte, sind seit Beginn der Proteste 34.000 Demonstrierende verhaftet worden. Die Menschenrechtsorganisation HÁWAR.help spricht von mindestens 65 Menschen, die die Islamische Republik in 2023 bereits hingerichtet hat (Stand 02. Februar). Die Dunkelziffern sind um ein Vielfaches höher. „1988 hat das Regime 30.000 Menschen innerhalb von drei Monaten exekutiert. Wenn der Westen nicht hinschaut, dann wird sich die Geschichte wiederholen“, befürchtet Sahar. 

Wer sind die skrupellosen Milizen, die Teenager:innen für ihren Wunsch nach Freiheit brutal ermorden? Wie immer geht es um Geld und Macht. „Es gibt einige, die da aus Überzeugung mitmachen, aber der Großteil schließt sich dem Repressionsapparat aus finanziellen Gründen an. Ihre Familien genießen enorme wirtschaftliche Privilegien. So werden zum Beispiel ihre Kinder bei der Vergabe von Auslandsstipendien bevorzugt. Ironischerweise kursieren im Internet Videos, in denen die Kinder der Militärs Partys feiern, für die ihre Väter junge Menschen im gleichen Alter verhaften und auspeitschen. Es geht also keineswegs um Religion – das dient nur als Vorwand.“ Laut Sahars Cousine höre man immer mehr, dass auch die Milizen das perfide System nicht mehr unterstützen wollen – allerdings bringe jeglicher Widerstand die Menschen in extreme Gefahr. Sahar beschreibt das System als Führerkult: „Ein prozentual kleiner Anteil des Volks verehrt den obersten Machthaber Khamenei, sie beten ihn nahezu wie den Führer einer Sekte an. Leider befindet sich auch das Militär, das während der Ausbildung einer manipulativen Gehirnwäsche unterzogen wird, in seiner Hand. Aber diese Menschen sind nicht repräsentativ für die Bevölkerung des Irans.“ Passend dazu veröffentlichte das iranische regierungsunabhängige GAMAAN Research Institut im Dezember 2022 eine Studie, der zufolge 81 Prozent der Iraner:innen auf die Frage „Islamische Republik: Ja oder Nein?“ mit Nein antworteten; nur 15 Prozent befürworteten die aktuelle Regierung.

„Viele Europäer:innen wissen nicht, dass vor der sogenannten ‚Islamischen Revolution‘ im Jahr 1979 die Frauen im Iran Mini-Röcke und Bikinis getragen haben. Die Mullahs haben aus einem ehemals progressiven und westlich orientierten Land ein riesiges Gefängnis gemacht.“ Sahar zeigt mir ein Schwarz-Weiß-Foto, auf dem der damalige geistige Führer Khomeini bei seiner Rückkehr aus dem Exil – ebenfalls im Jahr 1979 – zu sehen ist. „In diesem Moment, als der Vorgänger Khomeini iranischen Boden betrat, ging der Schrecken los. Der Iran wurde amtlich zur „Islamischen Republik Iran“. Meine Eltern, die vorher – zu Zeiten der Monarchie – nach Deutschland ausgewandert waren, befürworteten damals ebenfalls die Wahl von Khomeini, da er vieles versprach, an das er sich anschließend nicht hielt. Kaum war er an der Macht, sprach er die ersten Fatwas aus (Rechtsgutachten eines „islamischen Gelehrten“, die auch Todesurteile beinhalten) und schränkte Frauenrechte massiv ein. Von heute auf morgen durften Frauen zum Beispiel gewisse Berufe nicht mehr ausüben und mussten sich verschleiern. Menschen wie meine Eltern, die ins Ausland gegangen sind und hier gegen das Regime demonstriert haben, können seitdem nur noch unter Gefahr in den Iran einreisen. Khomeini installierte direkt einen gigantischen Repressionsapparat bestehend aus militärischen Einheiten der Revolutionsgarde (IRGC), dem weltweit aktiven Geheimdienst und der Sittenpolizei.“ Die Lebensversicherung eines Regimes, welches nur von einem kleinen Teil der Bevölkerung unterstützt wird. 44 Jahre dauert diese Schreckensherrschaft nun schon an. Aufstände der Bevölkerung habe es immer wieder gegeben, doch sämtliche Proteste seien niedergeschlagen oder durch die Abschaltung des Internets klein gehalten worden.

Auch dieses Mal geht die Regierung gewaltsam vor, um die Bürger:innen einzuschüchtern. Bis Ende Januar 2023 registrierte die NGO Iran Human Rights mindestens 488 bei Straßenprotesten getötete Menschen, darunter 64 Kinder. „Die Abschreckungstaktiken der Revolutionsgarde bleiben natürlich nicht ohne Wirkung. Deswegen sind die Proteste auf den Straßen etwas weniger geworden. Stell dir vor, hier auf der Schanze wird ein Mensch öffentlich erhängt – da überlegst du einmal mehr, ob du demonstrieren gehst. Insofern dein Körper überhaupt noch mitmacht und du schnell genug rennen kannst. Viele Demonstrierende wurden entweder bereits auf der Straße verprügelt, haben etliche Schrotkugeln im Körper oder gar das Augenlicht verloren. Ärzt:innen, die die Demonstrierenden verarzten, werden festgenommen oder sogar hingerichtet. Doch die Proteste haben sich verlagert: Die Menschen gehen nun strategischer vor und boykottieren bestimmte Läden, Apps und Marken, die Geld in die Kassen der Revolutionsgarde pumpen. Dieses Vorgehen unterscheidet die Bewegung von den bisherigen Aufständen“, sagt Sahar. Neben landesweiten Generalstreiks streiken Iraner:innen aus verschiedensten Industriezweigen, so beispielsweise die Öl-, Pipeline- und Stahlindustrie. Die Arbeiter:innen der größten Goldmine des Landes sagen laut Azita: „Lieber schaufeln wir unser eigenes Grab, als den Mullahs weiter Geld in den Rachen“.

Sahar beschreibt die Revolutionsgarde als “riesige Wirtschaftsmacht, der momentan die Knie schlottern”, da mit dem Vermögen auch die Macht schwinden würde. Im Iran kursieren Azita zufolge Gerüchte, dass einige Regierungsvertreter ihre Ländereien verkaufen und eine Flucht ins Exil vorbereiten. Azita erzählt mir, dass sie nahezu ihr ganzes Geld abgehoben hat, damit die staatlichen Banken keinen Gewinn mehr durch Transaktionen machen. „The videos of mass demonstrations on the street went viral because they are more contentfriendly. But one hour of being on the streets, drains you. You are under so much stress and anxiety. We are on a different level of protesting now that we can keep up for much longer. Revolution is a marathon, not a sprint.” 

Auch international hat die Bewegung Wirkung gezeigt: Die UN hat eine Menschenrechtsuntersuchung eingeleitet und den Iran aus der Frauenrechtskommission geworfen. Der 44. Jahrestag der „Islamischen Republik Iran“ wurde nicht nur von einem Großteil der Bevölkerung boykottiert, sondern auch von Vertreter:innen der westlichen Welt – aus der EU nahmen lediglich Polen und Ungarn die Einladung an. Zahlreiche Todesurteile konnten durch politische Patenschaften bereits ausgesetzt werden. Außerdem hat sich aus der iranischen Diaspora eine Opposition zum Regime gebildet, die Ende Februar auf der Sicherheitskonferenz in München eingeladen war. Mit Erfolg – im Nachgang der Sicherheitskonferenz scheint die Einigung erfolgt zu sein, dass das Händeschütteln mit den mordenden Machthabern im Iran nicht salonfähig ist. Diese wiederum scheinen ins Schwitzen zu kommen. So fordert die Revolutionsgarde auf Twitter mittlerweile ein Vorgehen gegen die iranische Diaspora im Ausland.

Von den europäischen Politiker:innen wünschen Sahar und Azita sich weniger nette Worte und mehr Sanktionen, die die Machteliten anstelle der Bevölkerung treffen. Ganz oben steht die Forderung, die Revolutionsgarde auf die Terrorliste zu setzen: „Honestly, I don’t understand what else they have to do. They are torturing our people, they are killing children“, sagt Azita. Mittels Listung als Terrororganisation wäre das Einfrieren der Vermögen der Revolutionsgardisten in der EU möglich; ein effektiver Schlag gegen die Revolutionsgarde. „Davon würde auch die EU selbst profitieren, denn der Iran ist ein großer Finanzier des Terrors. Deutschland beliefert einerseits die Ukraine mit Waffen, dreht jedoch andererseits dem Iran, der Putin mit Waffen versorgt, nicht den Geldhahn ab. Das ist doch sinnlos. Im Übrigen stehen die Hisbollah und die HAMAS, die von der Revolutionsgarde finanziert werden, auf der EU-Terrorliste. Wenn wir jetzt an der Stellschraube “Iranisches Regime” drehen, ist das ein riesiger Schritt im Kampf gegen den Terror weltweit.“

In der iranischen Diaspora entsteht der Eindruck, dass die vom Regime ausgehende atomare Bedrohung die internationale Politik einschüchtert. Wobei es naiv sei zu glauben, dass fortgeführte Verhandlungen über das Atomabkommen JCPOA ein Grund seien, sich sicher zu fühlen – schließlich habe der Iran in der Vergangenheit schon häufiger Abkommen nicht eingehalten. So appelliert auch Hannah Neumann (Friedens- und Konfliktforscherin, Grünenpolitikerin und Mitglied des Europäischen Parlaments) auf der Münchener Sicherheitskonferenz mit klaren Worten dafür, jegliche Verhandlungen mit dem Iran zu stoppen und sich auf die Bekämpfung des Regimes zu konzentrieren: „The best way to get rid of the nuclear threat, is to get rid of the regime.“ Denn die Verhandlungen unterstützen die Selbstinszenierung des Regimes als legitime politische Macht, während Menschen auf den Straßen des Iran bereit seien zu sterben, um diese tyrannische Regierung zu stürzen.
Ich frage Azita nach ihren Hoffnungen: Was ist das Erste, das sie in einem freien Iran tun würde? “Draußen eine Tasse Kaffee ohne Kopftuch genießen.” Aktuell steht die Frage, wer oder was nach dem Sturz der Mullah-Diktatur kommen könnte, hinten an. Fest steht nur, dass sich die Menschen im Iran nach Freiheit und Demokratie sehnen. „First of all, the Mullahs have to leave. The Islamic Republic has to end.“

Die beiden jungen Frauen wirken erschöpft von den Demonstrationen, mitgenommen von den schrecklichen Ereignissen, mit denen sie sich Tag für Tag auseinandersetzen. Doch in ihren Stimmen schwingt Optimismus mit: „Die Menschen im Iran erreichen die Informationen darüber, was weltweit passiert. Das beflügelt sie“, erzählt Sahar. „Ich hoffe, dass die Bewegung weiter überschwappt – zu unseren Schwestern nach Afghanistan und in andere unterdrückte Länder. Es wäre auch wichtig, wenn sich mehr Menschen ohne iranischen Migrationshintergrund anschließen würden – das gibt der Bewegung noch mehr Gewicht. Im Prinzip ist dies kein Kampf gegen eine Regierung, sondern ein Kampf gegen eine Ideologie, die ein weltweites Problem darstellt!“

Während Sahar und Azita mir von der harten Lebensrealität der Iraner:innen erzählen, die Verfolgung und Folter bis hin zur Hinrichtung fürchten müssen, kommen mir mehrmals die Tränen. Doch ich verspüre zu keinem Zeitpunkt Mitleid, sondern Respekt für den Mut und die unumstößliche Hoffnung, die die beiden stellvertretend für ihre Generation ausstrahlen. „Immer mehr Frauen im Iran trauen sich, ohne Kopftuch auf die Straße zu gehen – obwohl sie damit ihr Leben riskieren!“, erzählt Sahar stolz. „In diesem Winter haben viele Iraner:innen zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee auf ihren Haaren gespürt.“

„Für die Sehnsucht nach einem normalen Leben“, singt Shervin Hajipour in „Baraye“, der Hymne der Revolution. “Für die Frau, das Leben, die Freiheit“.

AUTOR:IN: PAU LA, ILLUSTRATION: WOLFGANG WILER

Du möchtest mehr über die Proteste im Iran erfahren? Unser:e Autor:in hat dafür die folgenden Filmtipps für dich zusammengestellt: Raving Iran, Doch das Böse gibt es nicht, Persepolis und Korruption auf Erden (Kurzfilm).

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