Im Jahr 2022 kann ich als Frau alles erreichen: Ich kann Karriere in Führungspositionen machen, die Sorgearbeit fair mit meinem Partner aufteilen, ein Sexleben wie aus Shades of Grey haben. Ich muss nur wissen, was ich will und es mir nehmen. In ihrer feministischen Kritik „Süß“ bezeichnet Autorin Ann-Kristin Tlusty diese Spielart des Feminismus als „Potenzfeminismus“. Potenz kommt vom lateinischen potentia, das Macht, Vermögen, Fähigkeit bedeutet. Denn Potenzfeminismus baut darauf auf, dass Frauen sich ihrer Freiheit ermächtigen, und ignoriert dabei sämtliche strukturellen Zwänge, die vielen Frauen dieses Empowerment unmöglich machen. Ein Interview mit der Autorin von „Süß“.

Direkt am Anfang unseres Zoom-Interviews stellen Ann-Kristin Tlusty und ich zwei Gemeinsamkeiten fest: Erstens haben wir beide in der morgendlichen Hektik unseren Kaffee verschüttet. Zweitens fing Feminismus für uns beide in der Disco an. Wir erinnern uns an das unangenehme Gefühl zurück, im Club begrapscht und betatscht zu werden: „Als Teenagerin bedeutete Feminismus für mich, Sexism sucks-Sticker auf mein Hausaufgaben-Heft zu kleben“, lacht Ann-Kristin Tlusty. „Als ich mit 18 Jahren Laury Penny las – die damals einzige Autorin, die auf populärer Ebene Feminismus intersektional diskutierte, – habe ich angefangen, Feminismus größer zu denken. Zu verstehen, dass Feminismus mehr als meine eigene Lebensrealität betrifft.“

Und damit haben wir die perfekte Überleitung zum Potenzfeminismus geschaffen. Denn Potenzfeminismus verhandelt Feminismus als eine individuelle und weniger als politische Aufgabe. „Er ist für mich ein Oberbegriff für verschiedene feministische Strömungen, die die Verantwortung für den Weg in eine feministische Welt primär an Frauen* abgeben und dazu aufrufen, sich auf seine individuelle Ermächtigung zu verlassen“, erklärt Ann-Kristin Tlusty. 

Praktisch bedeutet diese Perspektive, dass frau selbst dafür verantwortlich ist, die Beziehung, den Sex, die Finanzen etc. zu haben, die sie möchte. Toxische Beziehung? Altersarmut? Selbst schuld! Man muss nicht um allzu viele Ecken denken, um zu verstehen, dass es für viele Frauen nicht so leicht ist, den toxischen Partner rauszuschmeißen, von dem sie finanziell abhängig sind, weil sie unbezahlte Care-Arbeit leisten. Genauso ist es nahezu unmöglich, mit einem unterbezahlten Job die Altersvorsorge anzugehen und in ETFs zu investieren. Oder etwa genau zu wissen, was frau denn sexuell möchte, nachdem ihr über Jahre eingetrichtert wurde, ihre Sexualität bestünde darin, Männern zu gefallen. „Eigentlich ist es eine relativ kleine Gruppe an Frauen, die Potenzfeminismus vertreten. Allerdings handelt es sich um Frauen mit großer Reichweite und gesellschaftlichem Status, wie Politikerinnen, Influencerinnen etc., die die Lebensrealitäten ganz vieler Frauen komplett ausblenden und weniger privilegierte Menschen damit vom Feminismus ausschließen. Jedes Scheitern ist hier individuelles Versagen und kein politisches.“ Ann-Kristin Tlusty verkneift sich ein Grinsen: „Potenzfeminismus zeugt davon, dass das revolutionäre Potenzial feministischen Denkens zu einem individuellen Lifestyle verkommen ist.“ 

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Ann-Kristin Tlusty, Mitte November in Berlin © Alle Fotos: Hendrik Nix

In der Einleitung von „Süß“ zitiert Ann-Kristin Tlusty die Hobbys, die ihr damals 19-jähriges Ich in ihrem Couchsurfing-Profil angegeben hatte: arts, architecture, philosophy and eating chocolate. „Eating Chocolate – was soll das für ein Hobby sein?“, acht Jahre später verdreht die junge Frau auf meinem Laptop-Bildschirm darüber die Augen. In ihrem Buch schreibt sie dazu: „Weshalb hatte ich meine südfranzösischen Hosts unbedingt wissen lassen müssen, was für eine vernaschte Besucherin sie beherbergen würden? (…) (Diese Geschichte) zeugt von einer relativ simplen Idee, Formen sogenannter Weiblichkeit zu performen – und ist Teil eines Codes, der auf etwas viel Größeres verweist. Nämlich auf sehr genaue Vorstellungen darüber, wie diese Weiblichkeit aussehen sollte. Und das ist süß.“ 

Die heute 28-jährige Autorin ist überzeugt davon, dass süßliche Erzählungen verschiedenste Gruppen von Frauen betreffen und noch immer stark einschränken. In ihrer feministischen Kritik nähert sie sich drei Figuren, die Facetten dessen darstellen, was sie insgesamt als „süß“ bezeichnet. Diese Figuren illustrieren die äußeren und internalisierten Zwänge, die Frauen beeinflussen – trotz der Omnipräsenz pinker T-Shirts mit der Aufschrift Feminism.

Da ist die sanfte Frau, die veranschaulicht, wie naturalisiert und verkitscht, die von Frauen oft unbezahlt geleistete Sorgearbeit wird. Die sanfte Frau findet ihre absolute Erfüllung im Kümmern. 

Die süße Frau ist eine sexualpolitische Figur, die zeigt, wie verbreitet die implizite Annahme, Frauen müssten sexuell als verfügbar gelten, noch immer ist. Süß meint hier „konsumerabel“ – was Süßes ist schließlich zum Verzehren da.

Und dann ist da die zarte Frau, die deutlich macht, dass Frauen in verschiedensten Zusammenhängen immer noch weniger Zurechnungsfähigkeit und Mündigkeit zugeschrieben wird. Denn die Idee von weiblicher Zerbrechlichkeit und Fragilität besteht weiter fort. 

Wie süßer Honig kleben diese Attribute an weiblich sozialisierten Menschen und romantisieren zum Beispiel unbezahlte Care-Arbeit und die Sexualisierung von Frauen. „Das Fiese ist, dass sich auf all diese Figuren potenzfeministisch antworten lässt. Dann sei doch nicht süß, zart und sanft. Aber gesellschaftlich ist das alles viel zu stark institutionalisiert, als dass man sagen könnte, es wäre die individuelle Aufgabe von Frauen, nicht mehr ‚süß‘, ‚zart‘ oder ‚sanft‘ zu sein.“ Aber Ann-Kristin-Tlusty geht es in keinster Weise darum, dass Frauen diese Facetten nicht mehr leben sollten. Es geht ihr darum, dass diese Attribute nicht mehr allein auf weiblich sozialisierte Menschen abgespalten werden und nicht mehr mit einem imperativen Druck einhergehen, als Frau so sein zu müssen. „Ich möchte in keiner Welt leben, in der Menschen nicht mehr zart, süß oder sanft sind. Das sind allgemein notwendige Qualitäten, aber für alle Menschen!“

Der nicht-potenzfeministische Weg in so einer Welt ist laut Ann-Kristin Tlusty ein Feminismus, der den Anspruch hat, das Leben aller Menschen, aller Geschlechter, aller Herkünfte, aller sexuellen Orientierungen besser zu machen. „Ein intersektionaler Feminismus muss die Lebensrealitäten aller Frauen abbilden, – vor allem derer, die sich den hippen Lifestyle-Feminismus nicht leisten können. Er muss unbequem sein, fordern und darf sich nicht einfügen in bestehende patriarchale Strukturen. Dabei sind der Feind nicht Frauen, die Karriere machen und ihre Finanzen regeln. Der Feind ist eine Gesellschaftsform, die darauf aufbaut, dass Frauen schlechter bezahlt werden und unbezahlte Care-Arbeit verrichten.“ Es ist nicht die Aufgabe einzelner Frauen, sich zu ermächtigen, um aus diesem System ausbrechen zu können. Sondern eine politische Aufgabe, ein patriarchales System zu bekämpfen, das weibliche Altersarmut, Gender-Pay-Gap etc. als Kollateralschäden einer romantischen Erzählung hinnimmt.   

Heute stünde in Ann-Kristin Tlusty’s Couchsurfing-Profil übrigens „Eating Steak“ als Hobby. Zartes Steak versteht sich. 

Anmerkung der Redaktion: Ann-Kristin Tlusty schreibt zwar von Männern und Frauen, um Ungleichheiten aufzeigen zu können; versteht Männlichkeit und Weiblichkeit aber als Vorstellungs- und Erfahrungsräume und nicht als biologische Gegebenheiten.

Ann-Kristin Tlusty ist Journalistin bei Zeit Online. Sie hat Kulturwissenschaften und Psychologie studiert. Du kannst ihr auf Instagram und Twitter folgen. „Süß“ ist im Hanser Verlag erschienen.

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