Es ist der 26. März 2020. Ich sitze in meinem Hotelzimmer in Tokio mit Blick über die Hochhäuser von Shibaura, einem Viertel, das zu Minato gehört. Die Welt ist in Aufruhr gekommen wegen des Coronavirus, doch hier merkt man nicht allzu viel davon – das Leben in Tokio geht weiter und 17 Stockwerke unter mir sehe ich Geschäftsleute, Autos, Frauen mit Kindern und alte Leute, die ihre Einkäufe nach Hause tragen. Es fühlt sich komisch an, ausgerechnet in einer aufgeregten Stadt wie Tokio am Schreibtisch zu sitzen und zu schreiben. Eigentlich wollte ich schon längst wieder los, denn heute ist mein letzter Tag und seit gestern blühen überall Kirschbäume. Aber meine Beine sind müde von drei Wochen kreuz und quer durch Japan. Und ich bin nachdenklich geworden, seit ich in Hiroshima war.
Es ist vielleicht kein Zufall, dass Hiroshima mir von den Großstädten Japans, die ich besucht habe, am besten gefallen hat. Eine Stadt, die zum internationalen Friedenssymbol geworden ist, nachdem sie 1945 das Ziel des ersten Abwurfs einer Atombombe wurde.
Davon ist heute natürlich nur noch wenig zu spüren. Wer durch die Straßen Hiroshimas schlendert, bemerkt vor allem die Freundlichkeit der Menschen, ihre Ausgelassenheit und die Art von Leichtigkeit, die nur Städte, die am Meer erbaut wurden, mit sich bringen. An das schreckliche Schicksal Hiroshima erinnert heute das Friedensdenkmal, eine größere Anlage, in dessen Zentrum der Atomic Bomb Dome steht. Dieses Gebäude ist heute noch in genau dem Zustand, in dem es Stunden nach dem Bombenabwurf war, und soll an das Ausmaß der Zerstörung erinnern. Drumherum Blumenpflanzungen, Bäume, Parks und Pärchen, die Bilder für Instagram machen.
Weil das Hiroshima Peace Memorial Museum wegen des Coronavirus geschlossen bleibt, finde ich mich mit meinem Handy auf einer Parkbank wieder direkt hinter dem A-Bomb Dome. Im Internet kann ich sämtliche Details nachlesen, die in dieser friedlichen Umgebung unvorstellbar wirken. Zum Beispiel wie lange im Voraus der Abwurf schon geplant war, wie die Wahl des Bombenziels aufgrund von ein paar sachlichen Parametern – unter anderem die gute Erreichbarkeit per Flugzeug oder dass nur wenige amerikanische Kriegsgefangene dort eingesperrt waren – auf Hiroshima fiel. Dass die meisten Bewohner Zivilisten waren und zehn Prozent der Bevölkerung Zwangsarbeiter, also Opfer des japanischen Regimes, waren, wurde hingegen als vernachlässigbar angesehen. Am 6. August 1945 gegen acht Uhr morgens wurde die Bombe dann von Pilot Paul Tibbets und seinem Team abgeworfen. 70.000 bis 80.000 Menschen starben sofort, weitere 90.000 bis 160.000 an den Folgen der Strahlung. Allein diese Zahlen übersteigen das Ausmaß an Zerstörung, das ich mir vorstellen kann. Der Pilot wurde mehrfach geehrt und verließ erst Jahre später die Air Force.

Während ich all das lese, ist die Sonne tiefer gesunken und taucht nun am späten Nachmittag alles in goldenes Licht. Ich stehe auf, schweigend spaziere ich durch den Park, vorbei an einem Denkmal, das dem Wiederaufbau gilt, dessen Beschriftung ich jedoch nicht verstehe, da keine englische Tafel angebracht ist. Auf der anderen Seite des Flusses steht dafür eine Tafel mit englischer Fassung vor der “Bell of Peace”, einer großen, überdachten Glocke, die 1964 von der „A-bomb Survivor Hiroshima Hope Fruition Society“ gebaut wurde. Bedächtig gehe ich hin, vorsichtig nehme ich den Klöppel, der bestimmt zehn Kilo wiegt, und schlage sanft gegen die Glocke. Eine Gruppe junger Japaner dreht sich überrascht um, als sie den Klang hören, lässt sich jedoch nicht stören. Irgendwie habe ich das Gefühl, damit etwas verändert zu haben, doch vielleicht ist das auch illusorisch.
Dieser Text steht auf der Tafel vor der Friedensglocke (Übersetzt aus dem Englischen):
Glocke des Friedens
Wir widmen diese Glocke
Als Symbol Hiroshimas Sehnsucht:
Lass alle Atomwaffen und Kriege verschwinden,
Und die Länder in wahrem Frieden leben!
Möge sie klingen bis ans Ende der Welt
Und gehört werden von jedermann,
denn in ihr pochen und schlagen
die Herzen ihrer friedliebenden Spender.
So mögt auch ihr, Freunde,
zu ihr treten und sie läuten, die Friedensglocke!
Geweiht am 20. September 1964 von Hiroshima Higan-No-Kai.
Es ist hier leicht, sich dem Gefühl hinzugeben, Frieden sei etwas, das mit dem Läuten einer Glocke herbeizuwünschen ist. Allgemein ist dieser Ort hoffnungsvoll – etwas weiter brennt eine Flamme für den ewigen Frieden, noch dahinter ist ein Denkmal, das der Opfer des Atombombenabwurfs gedenkt. Und immerhin gibt es so etwas wie einen Atomwaffensperrvertrag, den bis auf fünf Nationen alle Länder einzuhalten versprechen. Dennoch erscheint mir eine Flamme des ewigen Friedens eher wie Wunschdenken als ein Handlungsgrundsatz. Eine Recherche später bin ich auf dem neusten Stand: Japan hat heute ein Heer zur Selbstverteidigung mit über 240.000 Soldaten, das ein Budget von umgerechnet 39 Milliarden Euro verschlingt. Seit 2011 fanden massive Aufrüstungen statt, seit 2018 sind erstmals Waffensysteme mit offensiven Einsatzmöglichkeiten vorgesehen. Bislang wurden diese von der Verfassung nicht erlaubt – Japan war bislang auch nie an Kampfhandlungen beteiligt.
Ich möchte dabei Japans Friedens- und Konfliktpolitik nicht kritisieren, insbesondere, da Deutschland eine weitaus schwerwiegendere, aktivere Rolle in Konflikten spielt. Aber auch wenn wir eine Erinnerungskultur pflegen, Friedensdenkmale besuchen oder ein friedliches Leben führen – was alles wichtig ist – bedeutet das leider nicht, dass Krieg hinter den Kulissen nicht trotzdem möglich ist.
Ich bin nachdenklich, seitdem ich dort war. Noch immer denke ich an den Eukalyptusbaum in Hiroshima, der nur 600 Meter vom Zentrum der Explosion stand und bis heute überlebte. Die Tausenden Origami-Kraniche, die Leute aus aller Welt nach Hiroshima schicken. Die Freundlichkeit der Menschen. Unten, auf der Straße vor meinem Hotel, sehe ich Hunderte Angestellte aus ihrer Mittagspause in die Bürogebäude zurückkehren, wo sie oft bis zum späten Abend bleiben. Für mich geht es morgen zurück nach Deutschland und auch dort wartet Arbeit. Ich weiß nicht, ob ich wirklich glücklich darüber bin, zurückzufliegen: Hier haben die Probleme weit weg gewirkt, mit denen ich sonst konfrontiert bin. Es hat gutgetan, Abstand zu bekommen, auch von der Berichterstattung über verschiedenste Themen, die einem sonst manchmal Sorgen bereiten. Bis dahin kann ich die Kirschblüte genießen. Und dann bleibt die Hoffnung, dass der Klang der Friedensglocke irgendwann auch in Deutschland nachhallt.
Dieser Text erschien zuerst auf dieverpeilte.
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