Den Finger hochheben und auf fremde Leute zeigen kann jeder. Menschen wirklich sehen und ihre Lebenslage versuchen zu verstehen, scheint dahingegen jedoch ein untergegangenes Phänomen unserer Gesellschaft zu sein. Oft schon habe ich mich gefragt, wie es nur jemanden gehen muss, der auf der Straße lebt. Gerade dann, wenn ich in meiner dicken Jacke am Frieren bin und Menschen auf dem kalten Boden sitzen. Personen, die nichts zu essen haben. Kein Bett, in das sie sich abends einkuscheln können. Kein Geld, um sich das Nötigste zu kaufen. Keine Freunde oder Familie, die ihnen zur Seite stehen. Was so jemand jedoch im Übermaß abbekommt, sind Vorurteile. Sprüche wie „Ach, in Deutschland, da muss doch niemand auf der Straße leben“, oder „schau dir doch mal den Assi da an, sitzt am Boden und säuft, anstatt zu arbeiten. Hauptsache HartzIV beziehen.“ Und deshalb habe ich mir gedacht, ich probier‘ es einfach mal aus. Setz‘ mich mal ein paar Stunden dazu und schaue was passiert. Ich wollte wissen, welche Geschichten dahinterstecken, warum Menschen in Deutschland draußen leben. Also hab‘ ich mich dick angezogen und bin mit einem Freund aus der Punkszene losgezogen, um Obdachlose meine Gesellschaft aufzuzwingen.  Der erste Versuch ging dabei gleich mal in die Hose. Recht schnell trafen wir eine kleine Gruppe, die keinen festen Wohnsitz hatte. Leider ging ich dabei viel zu direkt vor und verschreckte sie. Beim zweiten Versuch klappte es. Wir stießen auf eine große „Homeless-Clique“, die sich vom Namen meiner Homepage direkt angesprochen fühlte. Gut eingerichtet waren sie noch dazu. Sie hatten einige Matratzen auf dem Boden verteilt, darauf waren Decken und Schlafsäcke. Ich durfte es mir bequem machen und in der Tat, es war gemütlich. Ich fühlte mich wohl. Und das bei sieben Grad Celsius.

Meinen Bericht teile ich in mehrere Teile auf, denn jeder einzelne von ihnen verdient eine eigene Bühne. Den Anfang mache ich mit Ivi. Sie nahm mich direkt herzlich bei sich in der Runde auf und hielt die anderen an der Leine, wenn es doch mal zu laut wurde. Ivi kommt ursprünglich aus Krefeld, seit dem Jahr 2016 lebt sie in Düsseldorf. Wie ein Assi kam sie mir überhaupt nicht vor. Im Gegenteil, sie ist liebevoll im Umgang mit ihren Mitmenschen, nimmt Rücksicht und versteht mehr vom Leben, als so mancher aus meinem Umfeld. Im Gespräch berichtet sie über ihre Vergangenheit, das harte Leben auf der Straße und die schönen Momente im Leben.

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Foto: Fabian Meier

Hallo Ivi, wie geht es dir?
Derzeit geht es mir gut. Das ist meistens so, wenn ich hier bei den Leuten bin.

Seit wann lebst du auf der Straße?
Ich habe insgesamt drei Jahre lang auf der Straße gelebt, bis zu meinem 38. Lebensjahr. Erst verlor ich meine Arbeit, ich bin gelernte Krankenschwester, und irgendwann meldete mein Vermieter Eigenbedarf für meine Wohnung an. Während der drei Monate Kündigungsfrist hatte ich keine Möglichkeit, eine neue Bleibe zu finden. Mit zwei Katzen und einem Hund ist das nicht so einfach. Daher hatte ich keine Wahl und musste auf die Straße ziehen. Heute bin ich 40 und habe mittlerweile auch wieder eine Wohnung. Ich hatte Glück, denn ein großes Problem für uns ist, dass die Wohnungen inzwischen alle nicht mehr bezahlbar sind und somit nicht in dem Rahmen liegen, für den man Zuschüsse erhält. Diejenigen, die es sind, sind nichts anderes als Bruchbuden. Zwar habe ich nun eine Wohnung, jedoch habe ich weder Strom noch Heizung und das ist im Endeffekt genauso, wie draußen zu leben. Das Geld, dass ich vom Amt bekomme, reicht dafür nicht aus.

Wie war die Anfangszeit für dich auf der Straße?
Schwierig, doch dadurch, dass ich immer schon in gewissen Szenen wie beispielsweise der Heroinszene verkehrt habe, wusste ich, wo ich hingehen kann. Mir war bewusst, an welche Organisationen ich mich wenden kann, damit ich einen Schlafsack oder ein Zelt bekomme. Doch als Frau musst du im Allgemeinen tougher sein als ein Mann. Du brauchst eine größere Klappe und das stumpft sehr ab. Dadurch wird man ziemlich gefühlskalt. Wenn du dich als Frau auf der Straße nicht durchsetzt, hast du ganz schnell die Arschkarte gezogen. Und dann rutscht man in irgendwelche Situationen rein, wie den Frauenstrich. Ich kenne Mädels, denen das passiert ist, die hatten sich den falschen Leuten anvertraut. Auf meinen Hund kann ich mich da nicht verlassen, ein Wachhund ist sie nicht. Im Gegenteil, wenn es darauf ankommt, schmust sie alle tot.

Was bedeutet dir das Tier?
Der Hund ist für mich der bessere Mensch, das ist Gottes Geschenk an mich, weil die Leute so scheiße sind. Da zähle ich nicht alle zu, aber den Großteil. Wir fühlen uns von der Gesellschaft nicht wie Menschen behandelt.

Woher hast du den Hund?
Ich hab sie vom Vorbesitzer übernommen, er hatte eine schwere Rücken-OP und da nahm ich sie vor ca. fünf Jahren zu mir. Ich kenne sie schon ihr Leben lang, heute ist Ginger 13 Jahre alt. Damals, als mein anderer Hund starb, hat sie mir sehr über dessen Tod hinweggeholfen. Mir war es wichtig, dass sie bei Leuten bleibt, die sie kennt und nicht im Tierheim landet. Das Plattenleben kannte sie bereits, der Vorbesitzer lebte ebenfalls eine Zeit lang auf der Straße.

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Foto: Fabian Meier

Würdest du gerne wieder arbeiten?
Ja, sehr gerne sogar. Durch meine Drogenvorgeschichte ist das jedoch nicht so einfach. Ich bin im Substitutionsprogramm, das ist ein Ersatzstoff für Heroin. Ich war jahrelang heroinabhängig. Angefangen hat das mit 24. Das war schon ziemlich spät, die meisten fangen bereits im Alter von 14 oder 15 Jahren damit an. 2012 war ich in Therapie, die ich auch erfolgreich abschloss. 2015 starb dann meine Mutter, dadurch wurde ich wieder rückfällig. Seit zwei Jahren mache ich jetzt das Programm und dosiere mich langsam ab. Nächstes Jahr möchte ich eine Entgiftung machen, um komplett davon loszukommen.

Warum hast du angefangen Heroin zu nehmen?
Heroin ist ein super Stoff, um vergessen zu können. Die Droge schaltet so ziemlich jedes Gefühl aus, das man besitzt. Viele trinken zusätzlich oder nehmen Tabletten. Bei mir war es nur Heroin. Angefangen hatte alles auf der Arbeit, weil ich nicht schlafen konnte. Ich war ein richtiger Workaholic. Damals dachte ich mir nur, dass man darauf ja gut einschlafen könne. Heroin ist eine Droge, die unglaublich müde macht. Dann merkte ich, dass es auch alles andere abschaltet. Als Borderlinerin war das für mich einfach angenehm, nicht denken und fühlen zu müssen. Zum Schluss war das Ganze nur noch eine Rennerei, um Geld und die Droge zu beschaffen. Außerdem wollte ich endlich gesund sein.

Was hat das mit deinem Körper angestellt?
Dadurch, dass ich das Heroin spritzte, bekam ich Hepatitis C und musste eine Interferontherapie machen. Jetzt bin ich ansteckungsfrei. Mein Körper ist ziemlich vernarbt, man findet keine Venen mehr bei mir. Die Narbe auf dem Bild entstand durch einen Abszess, den ich durch das Spritzen bekam. Das ging bis auf die Knochen und ist die größte meiner Narben. Weitere habe ich an den Beinen und am Arm. Der Drang, sich zu verletzten kommt auch durch das Borderline. Viele von uns haben dieses Verlangen danach, sich zu verletzen. Einige ritzen sich, ganz nach dem Motto Selbstzerstörung. Ich kompensierte das jedoch mit Spritzen und Tätowierungen. Als ich von der Nadel weg bin, habe ich angefangen, mich tätowieren zu lassen, um mich nicht zu verletzen zu müssen.

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Foto: Fabian Meier

Was sind schöne Momente auf der Straße für dich?
Etwas, das mich in meiner Situation glücklich macht, sind Menschen, die uns stinknormal behandeln, die sich zu uns setzen, so dass wir manchmal auch überrascht sind, dass sie es tun. Menschen, die vernünftige Gespräche mit uns führen und uns nicht von oben herab behandeln.

Und was ist nicht so schön?
Zum Beispiel die Weihnachtszeit. Man denkt ja immer, das ist eine tolle Zeit für uns, aber das stimmt nicht. Wir haben das Gefühl, dass uns viele Menschen nur etwas geben, um ihr Gewissen zum Ende des Jahres zu beruhigen. Die anderen 364 Tage im Jahr sind wir ihnen im Endeffekt egal. Mir ist es lieber, wenn die Leute unabhängig von irgendwelchen Feiertagen zu uns kommen und sich mit uns unterhalten. Es geht noch nicht mal darum, dass sie uns hinterher Geld oder Essen in die Hand drücken, ein nettes Gespräch gibt uns da viel mehr. Aus dem einfachen Grund, weil man sich wie ein Mensch behandelt fühlt. Nur weil ich kein Dach über dem Kopf habe und nicht geduscht bin, heißt das nicht, dass ich ein schlechter Mensch bin oder asozial. Man fühlt sich dann einfach wie Abschaum und das tut weh.

Ist es ein Unterschied, in Düsseldorf obdachlos zu sein, im Gegensatz zu anderen deutschen Städten?
Auf jeden Fall. Gerade in Düsseldorf merkt man, dass diese Dekadenz, Hochnäsigkeit, aber dann auch wieder die Hilfsbedürftigkeit da ist. Bisher spürte ich das in keiner anderen Stadt so extrem wie hier. Reich und Arm lebt so nah beieinander. Da hat man drei Meter weiter die Königsallee, da laufen die ganzen Snobs rum und dann geht man drei Meter nach links und hat die Obdachlosen auf der Straße.

Ich bekomme oft zu hören, dass man in Deutschland nicht auf der Straße leben muss. Wie denkst du darüber? 
Das ist totaler Bullshit. Für mich sind das die Leute, die keine Ahnung haben und einer Frau Merkel alles glauben, was sie erzählt. Gestern beim Schnorren musste ich mir das anhören, dass ja keiner obdachlos sein und auf der Straße leben muss. Wenn man nicht selber in der Situation ist, sollte man einfach den Mund halten und keine Äußerungen darüber machen. Ich bin gepflegt, habe zwei Ausbildungen und bekomme trotzdem keine richtige Wohnung. Dadurch, dass sich die Leute von meiner Vergangenheit abschrecken lassen, bekomme ich auch keinen neuen Job. Das ist sehr schade, denn nur weil ich Freiluftcamping mache, ändert das ja nichts an mir als Person. Aber das ist eben diese voreingenommene Meinung. Die Leute denken, dass wir asozial sind und nur Alkohol und Drogen zu uns nehmen.

Trinkt ihr Alkohol und nehmt Drogen?
Natürlich trinkt der ein oder andere Bier und vielleicht hängen auch einige in einem Loch, aus dem sie nicht mehr raus kommen. Haben deshalb aufgehört, sich zu bemühen. Doch das ist noch lange kein Grund, alle über einen Kamm zu scheren. Ich atme dieselbe Luft und gehe auf die gleiche Toilette wie andere. Esse das gleiche Essen. Auch wenn mir ein Obdachloser sagt, dass man sich auf der Straße nicht pflegen kann, schüttle ich einfach nur den Kopf. Das stimmt einfach nicht. Auch auf der Straße kann man sich pflegen, rasieren etc.

Welche Möglichkeiten gibt es?
Da gibt es zum einen den gutenachtbus, dort kriegen wir warmes Essen, eine Brottüte, Kaffee oder Tee. Zudem bekommen wir da Decken, Anziehsachen, Pflegeartikel, Schuhe und Unterwäsche. Ab und zu kommt auch ein separater Wagen nur für Frauen vorbei, bei dem wir Pflegeprodukte und andere Sachen bekommen. Der Bus kommt immer montags bis donnerstags, erst hier zum Kommödchen und dann ziehen sie weiter zum Bahnhof.

Wird bei euch untereinander geklaut?
Ja, auch bei uns wird mal gegenseitig geklaut, aber wir regeln das untereinander, friedlich. Und dann ist es nach drei, vier Tagen auch wieder vergessen. Da hatte einfach jemand einfach mal einen schlechten Tag, ganz egal aus welchen Gründen.

Wie denkst du über unsere Gesellschaft und das System?
Ich halte nichts von der Allgemeinheit. So wie unsere Situation im Moment ist, ist es einfach nicht fair. Jeder Immigrant, der nach Deutschland kommt, hat ein besseres Leben als wir. Das finde ich ungerecht, dass für Menschen vor Ort nicht so viel getan wird. Auch die Rentner müssen teilweise um ihr Brot kämpfen. Es werden unzählige Flüchtlingsheime errichtet, ich frage mich, warum man das nicht auch für uns Obdachlose macht. Es gibt immer noch viel zu wenig Unterkünfte, wenn man das mal mit den Flüchtlingsheimen vergleicht. Es ist einerseits gut, dass geholfen wird, doch sollte es ein gesundes Gleichgewicht geben. Viele Steuergelder werden für Asylbewerber ausgegeben, bei uns wird alles auf die Drogen und den Alkohol geschoben. Flüchtlinge und andere Menschen können jedoch genauso auf schiefe Bahnen geraten, wenn man mal berücksichtigt, welche Traumata diese teilweise mit sich tragen.

Was würdest du jetzt gerne unserem Oberbürgermeister Herr Geisel sagen?
Das er ein verlogenes Arschloch ist. Einerseits schüttelt er Obdachlosen die Hand und hält Präsentkörbe bereit, andererseits lässt er Steine unter Brücken legen, damit andere keinen Schlafplatz haben. Ich finde das hinterhältig und verlogen. Es ist einfach nicht okay, dass er sich spezielle Dinge raus pickt, nur um eine reine Weste zu haben.

Wie steht es um das Ordnungsamt?
Eine Zeit lang akzeptiert uns das OSD – bei uns: Obdachlosen-Schickanier-Dienst – also das Ordnungsamt, doch dann müssen wir räumen. Aus Protest bauen wir aber nach einer gewissen Zeit wieder auf. Eine Zeit lang waren wir zu fünft am Ratinger Tor, mussten den Platz jedoch nach ein paar Monaten wieder räumen. Danach zogen wir vor’s Köm(m)ödchen, doch auch das soll im Neujahr geräumt werden. Sie können es immer wieder räumen, doch wir werden unsere Matratzen weiterhin hinlegen – denn wir wissen nicht, wo wir sonst hinsollen. Viele von uns haben Hunde, weswegen man nicht in Obdachlosenunterkünfte kommt. Auch meine Wohnung ist für mich keine Option, da ich lieber das Leben draußen in Kauf nehme, als in einer kalten, dunklen Wohnung zu leben. Hier habe ich Abwechslung, Gesellschaft und Leute um mich rum, die mich mögen und wissen, wie ich ticke. Ich muss mir keine Sorgen machen und habe auch mal jemanden, der auf meinen Hund aufpasst. Immer wieder bekommen wir vom Ordnungsamt zu hören, wir sollen unsere Scheißhunde abschaffen, dann würden wir auch eine Wohnung bekommen. Eltern schmeißen ihre Kinder doch auch nicht weg, um eine Unterkunft zu bekommen. Niemals würde ich mein Tier abgeben, das würde keiner von uns; nur um warm und sicher schlafen zu können.

ivi und nessi
v.l. Nessi und Ivi

 

Das Buch Draußen sein wurde von einer ehemaligen Obdachlosen aus Düsseldorf geschrieben, die ein Projekt startete, um ehemalige Flüchtlingshäuser zu Unterkünften für Obdachlose umzubauen; damit diese eine Möglichkeit haben, wieder ins Leben zurückzukommen. Ein Tipp von Ivi, lesen lohnt sich.

 

Foto: Fabian Meier

 

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Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.

3 Comments on “Ein Tag auf der Straße”

  1. Mein größten Respekt zu Ivi und ihre Ehrlichkeit!
    Schade das Menschen so leben obwohl wir alle Menschen sind
    Ich bin jedoch sehr zufrieden über dein Artikel und freue mich über die nächsten Teile 😀

    1. Hey Momo, für mich war das auch sehr schön, als sie mir so viel Vertrauen entgegenbrachte und mir ihre Geschichte erzählte. Der nächste Teil folgt bald! 🙂

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