«Guten Morgen, habt ihr ein Paket für mich angenommen?», fragte mich vergangene Woche eine junge Frau mit langem braunem Haar an meiner Haustür, die ich zuvor noch nie gesehen habe. Daraufhin schüttelte ich den Kopf und verwies sie in den ersten Stock zu einer Mädels-WG, die auch unsere Pakete hin und wieder mal annehmen. »Da wohne ich», meinte sie dann grinsend und ich musste mich schon sehr wundern, wie viele Gesichter ich aus meinem eigenen Haus nicht kenne. Und das obwohl mein Einzug bereits schon 1,5 Jahre her ist. Ich lebe in Oberbilk, ein dicht besiedelter Stadtteil in Düsseldorf, der nicht gerade für seine Nachbarschaftstreffs vor der Haustür bekannt ist. Klar, hin und wieder hält man mal – der Höflichkeit zuliebe – einen kurzen Plausch im Flur, aber die Vornamen meiner Mitmieter kenne ich bis heute nicht. In den meisten Fällen reicht ein nettes »Ach, hallo» oder »Na, alles klar?» aus, um davon abzulenken. Doch wen interessieren schon die Anwohner, solange sie sich nicht über die viel zu laute Musik beschweren?

Kurz darauf reiste ich nach Hamburg zu meinem italienischen Freund Lucas, der mich nun aus seiner Bude schmeißt, da er den ganzen Tag Deutschunterricht hat. Per Videochat in seinem Zimmer. Es ist neun Uhr morgens und mein letzter Tag im Norden, also mache ich das Beste daraus. Ich schlüpfe in meine ausgelatschten Chucks, stecke meine Kopfhörer in die Ohren, werfe ihm noch ein Abschiedsküsschen zu und mache mich auf in Richtung S-Bahn. Einen Plan habe ich nicht wirklich, also beschließe ich, nach Altona zu gehen; was von meiner Unterkunft aus nicht weit entfernt ist. Und während ich ganz gemütlich vor mich hinschlendere, fällt mir ein, dass ich ja noch einen »Umsonstladen» besuchen könnte. Laut Google macht der jedoch erst um 16 Uhr auf. Also mache ich das, was ich immer mache, wenn ich keine bessere Idee habe: ahnungslos in der Gegend herumlaufen. Auf diese Weise begegnete ich schon den unglaublichsten Menschen.

Es dauert keine halbe Stunde, da führt mich mein Weg zu einer liebevoll errichteten Sitzecke. Irgendjemand hat dort ein kleines Paradies aus ein paar Holzpaletten auf einen alten Betondeckel gezaubert. Sieht gemütlich aus. Lange brauche ich nicht zu überlegen, da liegen meine Beine schon auf der “Sofalehne” und gönnen sich eine Auszeit. Ich fühle mich wie in meinem ganz persönlichen – noch nicht existierenden – Garten. Die sporadisch befahrene Hauptstraße stört nicht weiter, denn die zwei mächtigen Eichen neben mir schirmen den Lärm fast schon majestätisch ab. Offenbar habe nicht nur ich ein Auge auf den Platz geworfen, denn während ich meiner Freundin am Telefon die Ohren vollsülze, gesellen sich noch zwei Girls in meinem Alter dazu. Sie bleiben nicht lange und als ich meine Unterhaltung beende, versuche ich, mich auf mein Buch zu konzentrieren. Mehr als zwei Seiten schaffe ich nicht, denn Clemens freundliches «Na du» lässt mich aufschauen. «Stand gerade in der Küche und hab Kaffee gekocht und als ich aus dem Fenster geschaut habe, habe ich dich hier unten sitzen sehen. Dachte, du könntest etwas Gesellschaft gebrauchen», grinst er. Sein Angebot nehme ich gerne an, und auch die bunte Keramiktasse, aus der die feinen Kaffeearomen dampfend den Weg in meine Nase finden. Er lächelt mich wohlwollend an, während er seinen portablen Plattenspieler aufbaut und anschließend damit beginnt, seine 7″ zu scratchen. Clemens Musik, der sich im Übrigen speter.plan nennt, ist ein Mix aus Funk Soul und Trip Hop. Gefällt mir.

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Nach einer Weile kommen zwei Männer vorbei. Hasan, der Ältere von Ihnen arbeitet bei St. Pauli und musste sein Arbeitsverhältnis pandemiebedingt unterbrechen. Der Jüngere hört ebenfalls nur dabei zu, wie sie sich über dies und das austauschen. «Immer, wenn ich draußen war, oder die Leute vor der Tür gesehen habe, ist mir aufgefallen, dass da nichts zum Sitzen ist. Deshalb habe ich angefangen, hier eine Bank aufzubauen», erzählt mir Clemens, nachdem sich die beiden mit einem fröhlichen «Ciao» von uns verabschiedeten. Er ist Sozialpädagoge, seit knapp zwei Jahren in der offenen Kinder- und Jugendarbeit tätig. Der Hamburger nutzte seine aufgezwungene Freizeit, um, wie er es nennt, einen Ort der Begegnung zu erschaffen. Ein Ort, der das Zusammensein selbst in der Coronazeit, möglich macht. «Das ergab eine schöne Dynamik, die gerade hier im Umfeld viele Familien dankend angenommen haben», berichtet er stolz.

imm027 N27Angefangen hatte alles mit einer ganz normalen Bank aus Holzpaletten. Wie ich, wusste er nichts über seine Nachbarn. «Seit vier Jahren wohne ich hier, in diesen vier Jahren habe ich meinen ganzen Hausflur nicht gekannt.» Dann, als er mit seinem Projekt anfing, dauerte es nicht lange und sie boten ihm Hilfe an. So kam noch eine zweite Bank, eine Liege und ein Tisch dazu. Sogar ein Mülleimer – ebenfalls selbstgestaltet – und ein Insektenhotel. «Besonders die Kids waren voll mit Ideen und das machte einfach Spaß, dass die Leute den gleichen Gedanken teilen. Und jetzt, innerhalb von kurzer Zeit merkt man, dass man egal welchen Alters eine Basis hat und sich mag, was das Zuhause gleich viel schöner macht», erzählt er. Drei Monate ist das her. Ganz sorgenfrei ist er nicht, denn eine offizielle Genehmigung steht noch aus. «Erstmal wäre es schön, wenn es stehen bleiben würde. Schon am zweiten Abend, als das Ding fertig war, hatte ich den Gedanken, dass es abgerissen werden könnte. Doch eigentlich haben wir schon gewonnen, da wir uns alle in kürzester Zeit kennenlernten.» Trotzdem ist der Wunsch da, dass es bleiben darf. Neben den neuen Freundschaften, die sich daraus entwickelten, hängen auch eine Menge Emotionen für ihn daran. Vielleicht sogar Aussichten darauf, dass man daraus noch mehr machen könnte – und das, ohne den Groll der Nachbarn oder der Stadt auf sich zu ziehen. «Schon jetzt haben wir weniger nachbarschaftliche Streitigkeiten, denn man kann nun Partys oder ähnliche Dinge viel leichter erklären», meint er und von daher sollte ein Ort wie dieser doch für jeden ein Gewinn sein.

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So bleibt auch Bente, der kleine Sohn seiner Nachbarin, eine Zeit lang bei uns, da die Mutter etwas aus der Wohnung holen muss. Clemens und auch die anderen Leute haben einen guten Draht zu ihm. Neben der Bastelei an seinem neu gefundenen Legomännchen, führt er uns begeistert seine neuen Bike-Tricks vor. Auf dem weichen Rasen hat er sich eine kleine Rampe gebaut, bestehend aus zwei Betonklötzen und einem langen Holzbrett. Es ist nun ein Ort, an dem nicht nur Erwachsene ein höheres Sozialverhalten erlernen. «Man sieht das schon an den Kids und Jugendlichen, die hier in der Umgebung wohnen oder einfach nur daran vorbei gegangen sind. Dadurch, dass es eine Möglichkeit für sie gibt, ihre Umwelt mitzugestalten, beginnt Partizipation in den Köpfen der jungen Erwachsenen.» Nicht nur Clemens ist der Meinung, dass Erlebnisse wie diese gerade bei den jungen Leuten sehr wichtig sind. «Wir als Erwachsene in dieser Gesellschaft sollten eigentlich die Räume dafür schaffen, die Möglichkeiten und Ideen gerade von Kindern mehr auszuarbeiten oder mehr Plätze gestalten, wo sie sich frei bewegen können.»

Clemens ist das gelungen. Er hat ein Areal ins Leben gerufen, das Menschen zusammenbringt, sie gemeinsam lachen lässt, an welchem sie willkommen sind und gibt ihnen das Gefühl, gebraucht zu werden. Mittlerweile ist es kurz vor 16 Uhr. Die Sonne strahlt und der Schmetterlingsplatz ist voller friedlicher Menschen: Kinder, Mütter, Nachbarn und auch mit Leuten wie mir, die einfach spazieren gehen und sich von der magischen Atmosphäre angezogen fühlen. Und ich, ich mache mich jetzt auf den Weg in den Umsonstladen.

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Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.

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