„Scheiß-Lesben!!!“
Es ist ein später Sonntagnachmittag im Mai. Die Sonne geht bald unter. Meine Freundin – oder treffender gesagt Partnerin – und ich frönen in einem Park in Hamburg dem allseits beliebten Lockdown-Hobby: Spazieren. Nur wenige Menschen sind unterwegs; und dass uns von den vier Menschen, die uns auf unserem bisherigen Weg begegnen, einer queerfeindlich beleidigt, ist – gelinde gesagt – unglücklich.
DASS wir beleidigt werden, daran haben wir uns schon gewöhnt. Auch wenn es mich beim ersten Mal noch mehr empört hat. Seriously, im Jahr 2021 in einer Großstadt, in der jahrelang ein homosexueller Mann Bürgermeister war, wird man queerfeindlich beleidigt?
Aber nun… Wir wohnen in einem Stadtteil in Hamburg, der gern als „Ghetto“ verschrien wird. Eigentlich fand ich’s bisher schön hier. Aber seitdem ich meine Freundin habe, zeigt sich leider, dass meine Toleranz, mein Glaube an die Vielfalt, hier bloß eine Einbahnstraße ist. An diesem Sonntagnachmittag wähnten wir uns in Sicherheit. Wie wahrscheinlich ist es – ausgerechnet jetzt und hier – im spießigeren Teil des Viertels, beleidigt zu werden?
Und der trotzige Teil in mir sieht das sowieso nicht ein: Wieso soll ich mich in meiner Freiheit einschränken? Wir machen nichts Verbotenes. Das, was ich tue, ist mein gutes Recht. Und es ist nicht so, dass wir uns in aller Öffentlichkeit die T-Shirts hochziehen und uns gegenseitig an den Brustwarzen lecken würden oder etwa unsere Vulven aneinander reiben. Wir halten einfach nur Händchen. Wir geben uns manchmal kleine Küsse auf die Wange oder – kreisch – den Mund.
Ich verhalte mich so – und hier ist für mich der springende Punkt – , wie ich es in jeder meiner Hetero-Beziehungen auch getan hatte. Ich bin bi+sexuell.
Mich als „Scheiß-Lesbe“ zu beleidigen, ist nicht nur verletzend, sondern auch schlicht und ergreifend inkorrekt. Und das nicht nur politisch.
Was mir da passiert, ist eigentlich unheimlich komplex. Ich werde homofeindlich beleidigt, aber gleichzeitig wird meine wahre sexuelle Identität komplett verleugnet. Dieses Phänomen wird als Bi+ Erasure bezeichnet und meint die Unsichtbarkeit, ja, Unsichtbarmachung von Bi+ Sexualität in der Geschichte, den Medien, der Wissenschaft und der allgemeinen Öffentlichkeit.
Bi+ Erasure ist eng verknüpft mit Bi+ Feindlichkeit. Bi+ Feindlichkeit ist so wenigen geläufig, dass mein Textprogramm es nicht mal kennt; ständig macht es „Befindlichkeit“ daraus und das macht mich wahnsinnig. Bi+ Feindlichkeit beschreibt die Diskriminierung, die bi+sexuellen Menschen widerfährt. Diese erfahren neben Ablehnung, Wut, Intoleranz und Vorurteilen auch körperliche und/oder psychische Gewalt. Häufig ist in diesem Zusammenhang auch von „Bi-Phobie“ die Rede. Verachtung, Gewalt und strukturelle Diskriminierung von bi+sexuellen Menschen ist aber keine psychische Erkrankung.
Für Erkrankungen kann man nichts. Für Hass schon.
Mit den Vorurteilen fängt es schon bei dem Wort „bisexuell“ an. Viele denken, „bi“ bezöge sich auf ein binäres Geschlechtssystem; bi+sexuelle Menschen stünden auf Männer und Frauen. Dabei können sich bi+sexuelle Leute zu Menschen zweier oder mehrerer Gender hingezogen fühlen. Um das zu verdeutlichen, verwende ich explizit das +, auch wenn ich mir wünschen würde, dass das klar ist.
Bi+sexuell ist ein umbrella term (Überbegriff). Unter dem Regenschirm ist Platz für polysexuelle, pansexuelle, fluide, homoflexible, heteroflexible, bi-dykes, bi+neugierige und viele weitere Menschen. Vorurteile und Anfeindungen erleben bi+sexuelle Menschen nicht nur durch heterosexuelle Leute, sondern oft auch innerhalb der queeren Community. Sie werden also doppelt diskriminiert, sehen oft keine der beiden Gruppen als safe(r) space.
Mir wurde zum Beispiel schon von lesbischen Frauen gesagt, dass sie eigentlich keine bi+sexuellen Frauen daten wollen, weil sie schlechte Erfahrungen gemacht hätten oder Angst davor haben, ausgetauscht beziehungsweise betrogen zu werden oder nur „ein Experiment“ zu sein. Besonders bi+sexuelle Männer sind von massiven Vorurteilen betroffen. Bi+sexuelle Frauen haben meist ein vermeintlich „besseres“ Image, was aber hauptsächlich daran liegt, dass sie – vor allem in der Pornographie – fetischisiert und hypersexualisiert werden.
Eng verknüpft mit Bi+ Feindlichkeit sind Monosexismus und Bi+ Erasure. Monosexismus umschreibt die soziale Struktur, die Monosexualität – also das sexuelle und/oder romantische Begehren eines Geschlechts – als sexuelle Norm darstellt und monosexuelle Menschen privilegiert. Wenn zum Beispiel in der Presse von „Homo-Ehe“ statt „Ehe für alle“ sowie „Öffnung der Ehe“ (oder – crazy thought – Ehe) die Rede ist, dann ist das problematisch. Denn auch da wird Monosexualität als Norm vermittelt.
Bi+ Erasure heißt, wie ich bereits geschrieben habe: Bi+ Sexualität ist unsichtbar.
Das führt dazu, dass bi+sexuelle Menschen unterrepräsentiert sind, Gemeinschaften und Strukturen fehlen. Es mangelt an Bewusstsein und Anerkennung, an verlässlichen Zahlen und wissenschaftlichen Studien. So richtig klar ist zum Beispiel nicht mal, wieviele bi+sexuelle Menschen es überhaupt gibt (bzw. manche leugnen noch die Existenz…). Eine Studie vom Movement Advancement Project (MAP), einem Think-Tank für die Forschung zu LGBTQ+ Themen, geht davon aus, dass etwa die Hälfte der queeren Menschen in den USA bi+sexuell sind. https://www.lgbtmap.org/file/invisible-majority.pdf
Bi+ Erasure bedeutet auch: In einer monosexistischen Gesellschaft ist es quasi unmöglich, Bi+ Sexualität zu „performen“. Wenn ich als Cis-Frau mit meinem Freund im Park Händchen gehalten habe, galt ich als hetero. Laufe ich aber Händchen haltend mit meiner weiblich gelesenen Freundin herum, sind wir „Scheiß-Lesben“.
Bis heute weiß ich nicht, was ich tun und was ich wollen soll. Wer mich hasst, weil ich liebe, wen ich liebe, hat keine gratis Vorlesung in „Sexuelle Identität“ von mir verdient. Und wahrscheinlich wäre ich auch nicht wirklich glücklicher, wenn wir in Zukunft als „Scheiß-Queers!“ bepöbelt würden. Aber dann wäre es wenigstens faktisch korrekt. Politisch inkorrekt bleibt es so oder so.
Autorin: Vivien Valentiner
Illustration: Teresa Vollmuth
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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