WARNUNG: Dieser Text enthält Schilderungen von sexualisierter Gewalt.
„Ja, du hast recht, wir waren einfach alle betrunken. Halb so wild, er meinte es nicht so“, erwidere ich und glaube mir meine Worte in diesem Moment auch. So was passiert halt mal, ich bin jetzt in einem Alter, wo man damit rechnen muss. Ich sollte das einfach in einer mentalen Schublade verstauen und weitermachen, rede ich mir ein. Doch als, ich nenne ihn mal Eric, der sich nach meinem Wohlbefinden erkundigt hat, den Raum verlässt, denke ich noch mal darüber nach, was gestern Nacht wirklich passiert ist – und was ich wirklich fühle. Nicht das, was ich versuche zu fühlen, damit Eric und die anderen Zeugen kein schlechtes Gewissen haben.
Das sind die Fakten: Ich bin 20 Jahre alt, lebe gerade für ein paar Monate in Schweden, mitten im Wald in einem kleinen Hostel und mache Freiwilligenarbeit – was eher weniger Arbeit und mehr Party mit neuen Freund:innen bedeutet. Bei einer Party gestern Nacht wurde ich von unserem Chef sexuell belästigt, während Eric, ein fester Angestellter, und zwei weitere Freiwillige dabei waren.
„Du nennst das sexuelle Belästigung? Wirklich? Dann gehen wir jetzt zur Polizei und zeigen es an. Mach das doch!“, fährt Eric mich später an. Weil allen klar wurde, dass ich es doch nicht so locker nehme, wie ich zuerst selbst vorgab. Deshalb kommt es überhaupt zu diesem weiteren Gespräch. Denn nachdem ich mit Eric über den Vorfall gesprochen hatte, fühlte ich mich … irgendwie benutzt. Und mir dämmerte, dass ich mit diesen Gefühlen alleine war.
„Ja, ich nenne das sexuelle Belästigung“, antworte ich scharf, weil es mich wütend macht. Es fühlt sich wie ein weiterer Messerstich in die offene Wunde an, dass Eric – ein Zeuge des Vorfalls – sich das Recht nimmt, meine Gefühle zu entwerten, indem er witzelnd darüber spottet, was ich ihm anvertraute und mich in keinem Moment des Gesprächs ernst nimmt.
„Also, es tut mir wirklich leid, aber das war für mich keine sexuelle Belästigung. Das war einfach ein betrunkener Mann, der etwas zu weit gegangen ist. Aber du hättest ja auch einfach gehen können, wie du es mehrmals angekündigt hast. Du hättest auch nicht in die Hütte kommen müssen, wo wir nur unter Jungs gefeiert haben. Du hättest auch das Thema nicht auf das Sexuelle lenken müssen, ich meine ja nur…“, schiebt Eric noch nach.
Während er mir diese Worte entgegen knallt, verschwimmt sein Gesicht zwischen meinen Tränen. Ich sehe den steifen Penis unseres Chefs vor mir, der seine Hose runterzog, um uns sein Glied zu zeigen, nachdem ich das Thema gesunde Freizügigkeit in Frauenfreundschaften erwähnte und meinte, es würde gut tun, sich unter guten Freund:innen mal gegenseitig nackt zu sehen. Dass diese Aussage den Startschuss für alles Übergriffige, was in dieser Nacht passierte, geben würde, damit hatte ich nicht gerechnet.
Danach ging es erst so richtig los. Er kniete sich vor mir auf den Boden und fragte mich mehrmals, ob ich Sex mit ihm will. Ich verneinte klar und deutlich. „Ich habe einen Freund”, sagte ich. Außerdem befand sich der Mann, der da vor mir kniete – in einer Art anbetenden Meditation, die aber leider nicht mit Respekt einherging – vierzig Jahre alt und ich zwanzig. „Ach, ein Freund? Und wo ist der jetzt? Ich hab den noch nie gesehen, vielleicht existiert er gar nicht. Hier hast du vier Freunde“, sagte er und zeigte in die Runde von sprachlosen Gesichtern. Er forderte mich auf, jetzt auch etwas von mir zu zeigen: meine Vulva zum Beispiel, weil ich ihn ja dazu gebracht hätte, seinen Penis zu entblößen. Mehrmals verneinte ich und überlegte tatsächlich, ihm meine nackten Füße zu zeigen, um es als witzig-schrägen Party-Lacher abzutun und dann zu verschwinden.
Doch es ging weiter, weil ich zu perplex war, um die Situation irgendwie zu stoppen – genauso wie die anderen, die zwar merkten, wie unwohl ich mich fühlte, aber die Tragweite des Ganzen nicht erfassten.
Jedes einzelne Wort, jeder Satz, den mein Chef in dem Moment sagte, fuhr mir in Mark und Bein. Dann diskreditierte er meine Beziehung, machte sich weiter darüber lustig, prophezeite mir, dass sie nicht lange halten wird und wir hier die Chance nutzen sollten. Er sagte: „Die Frage ist immer: Macht sie die Beine breit oder nicht?” Im gleichen Atemzug erzählte er, dass er alle Frauen als Sexobjekte sieht. Er betonte deutlich, dass ich genau das die ganze Zeit für ihn war. Überfordert und geschockt schaute ich durch den Raum in die Gesichter der anderen. Niemand sagte etwas dagegen. Die meisten waren sprachlos, manche lachten aus Verlegenheit oder vielleicht auch aus Fremdscham.
Warum also macht es Eric, der in dieser Nacht alles mitangesehen hat, jetzt so wütend, dass ich den Vorfall als sexuell übergriffig beziehungsweise sexuelle Belästigung bezeichne? Warum sucht er die Fehler bei mir und nicht bei dem, der das alles verursacht hat?
Wahrscheinlich, weil er als Mann, der dieser fehlenden Empathie nach zu urteilen noch nie etwas, das sexueller Belästigung auch nur nahekommt, erlebt hat und es in keiner Weise nachempfinden kann. Weil eben nichts Schlimmeres passiert ist, weil es nicht körperlich übergriffig wurde und man es sich alles noch mit „Upsi“ in einer betrunkenen Runde schönreden kann. Es ist unangenehm für ihn, seinen Freund als jemanden zu sehen, der eben genau das ist, zu was er sich selbst in dieser Nacht gemacht hat: ein Täter eines sexuellen Übergriffs. Denn sollte es nicht einzig und allein in der Macht der Person, deren Grenzen überschritten wurden, stehen, einer solchen Tat einen Namen zu geben?
Die Antwort ist „Ja” – das wird mir jedoch erst im Nachhinein durch Gespräche mit Freund:innen und einer Therapeutin klar. Was mir passiert ist, nennt man victim-blaming, das heißt, bei mir wurde die Schuld für die Überschreitung meiner Grenzen gesucht, die in diesem Fall ausschließlich beim Täter lag. Dieses Phänomen kommt leider – vor allem in Fällen von sexuellen Übergriffen – immer noch sehr häufig vor und kann für die Opfer äußerst verletzend sein. Im schlimmsten Fall kann es zu Traumafolgestörungen führen, was bei mir der Fall ist. Mir wurde von außen eingeredet, dass ich selbst schuld bin. Deshalb wurde mein Leidensdruck durch Scham und das Gefühl, dass ich übertreibe, weil es ja nicht „so schlimm“ sei, was mir passiert ist noch verstärkt und hat dazu geführt, dass ich meine Gefühle ein halbes Jahr lang unterdrückt habe.
Leider hat ein solches Vorgehen auch Auswirkungen darauf, dass sich Betroffene nicht trauen, sexuelle Übergriffe anzuzeigen. 2018 hat ein Vergewaltigungsprozess in Irland Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt. Der Stringtanga des 17-jährigen Opfers wurde als Verteidigungsstrategie genutzt und führte sogar zum Freispruch des Täters. Hierbei wurde also durch victim-blaming die ganze Schuld auf das Opfer abgewälzt, um den Prozess zu gewinnen. Unter dem Hashtag #ThisIsNotConsent solidarisierten sich daraufhin Nutzer:innen auf Social Media mit dem Opfer und setzten ein Zeichen gegen das grausame Vorgehen der Anwältin, indem sie ihre eigene Unterwäsche posteten.
In Deutschland ist die Datenlage erschreckend: Von 100 angezeigten Vergewaltigungen enden durchschnittlich 13 mit einer Verurteilung des Täters. Nur in 23 Prozent der Fälle einer Studie aus Stuttgart wurde überhaupt eine gerichtsmedizinische Untersuchung durchgeführt. Da wundert es nicht, dass nur 5 Prozent der Sexualstraftaten angezeigt werden. Natürlich hängt das auch mit dem immer noch viel zu häufig auftretenden victim-blaming zusammen und Fälle wie das Beispiel aus Irland sind natürlich wenig Mut machend für Betroffene. Diese Schuldumkehr wirkt sich immer negativ auf ein Opfer aus und völlig veraltete patriarchale Strukturen der Gesellschaft werden damit aufrechterhalten. Das muss dringend aufhören. Es ist Zeit für Empathie und Solidarität mit Opfern und vor allem mehr Aufklärung für das Thema.
Während ich dieses Gefühl und die Bilder nicht aus meinem Kopf kriege, machtlos und klein wie ein Kind, gelähmt und schwach zu sein, ist Erics einziges Problem, dass es ihm nicht in den Kram passt, dass ich ausspreche, was sein alter Freund wirklich ist: Einer, der sexuell übergriffig wurde. Ich will glauben, dass dieses victim-blaming, dass Eric da betreibt, eigentlich eine Projektion seiner Wut darauf ist, dass ein alter Freund zu so etwas in der Lage ist. Gleichzeitig fange ich aber an, mir selbst Vorwürfe zu machen und mir einzureden, dass ich übertreibe und eine zu große Sache daraus mache – genau wie Eric es mir eingeredet hat. Ja, es stimmt. Ich bin ein sehr emotionaler und sensibler Mensch. Und ja, ich weine ohnehin oft und nehme mir Dinge sehr zu Herzen und er hat recht, wenn er sagt, dass … STOPP! Ich habe keine Schuld! Egal, wie ich mich jetzt fühle. Es ist okay. Es ist richtig und es ist nicht übertrieben. Andere haben nie das Recht, mir meine Gefühle abzusprechen.
Diese Wut, die Eric mir da entgegenbringt, die Entschlossenheit, mit der er meine Gefühle entwertet und diese dröhnende Ernsthaftigkeit, weil ich in seinen Augen einen netten Mann zum Verbrecher mache, hätte ich gerne in dieser Nacht von ihm gesehen, als er die Chance hatte, für mich einzugreifen.
AUTORIN: ISI SEETHAL, ILLUSTRAION: MAX BRAUN
Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Rufnummer 0800-116 016 und via Online-Beratung können sich neben Betroffenen auch Angehörige, Nahestehende und Fachkräfte Unterstützung holen.
Anmerkung der Redaktion: Dies ist ein Erfahrungsbericht und gilt mitnichten für alle Männer. Es geht hier um eine persönliche Perspektive, nicht um Pauschalisierung.
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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