Liebe Frau G.,
eigentlich ist es lustig, dass dein Nachname genauso anfängt wie mein Vorname. Denn viel mehr haben wir wahrscheinlich nicht gemeinsam. Als ich über die Feiertage bei meinen Eltern zu Besuch war, habe ich dich wiedergesehen. Auf der anderen Straßenseite, wie früher. Wir haben uns nicht gegrüßt und erkannt hast du mich bestimmt auch nicht. Logisch – ich sehe ja ganz anders aus als damals.
Meine Grundschulzeit ist nun etwa zehn Jahre her. Du hast mir Lesen, Schreiben und Rechnen beigebracht. Dafür wollte ich mich bedanken, denn das ist ziemlich hilfreich im Alltag. Ich habe dir vier Jahre lang ungefähr fünf Stunden am Tag zugehört. Und nun möchte ich dir ein Feedback geben.
Seit meiner Geburt fehlt mir die rechte Hand und kurz nach meiner Einschulung hast du mich gebeten, der Klasse zu erklären, warum das so ist. Mit sechs Jahren war ich dazu in der Lage, mich vor die anderen Schüler:innen zu stellen und ihnen zu beschreiben, wie sich die Nabelschnur im Mutterleib um meine Hand gewickelt hat, sodass diese am weiteren Wachstum gehindert wurde. Vor der versammelten Klasse hast du mir mit einem Lachen geantwortet, dass ich ja froh sein könne, dass sie sich nicht um den Hals gewickelt habe. „Stimmt“, sagte ich, „aber darüber können wir ja alle froh sein“.
Ab diesem Zeitpunkt folgten viele Gespräche mit meinen Eltern über meine angebliche soziale Entwicklungsschwierigkeit. Störungen hatten laut dir jene, die nicht in dein starres System passten. Wenn ich diese Geschichte heute erzähle, dann bin ich ehrlich gesagt ziemlich stolz auf mein damaliges Ich. Meine Antwort war großartig und richtig. Mit sechs Jahren habe ich einen größeren Teil struktureller Diskriminierung verstanden, als du. Und dass wir alle den gleichen Wert haben. Deine Herangehensweise hingegen spiegelt den abwertenden Umgang der Gesellschaft mit Behinderungen wider und zeigt ganz deutlich, wie Betroffene institutionell in Rechtfertigungsnot gebracht werden.
Einige Wochen später fingen die anderen Kinder an, mich zu meiden, weil sich das Gerücht verbreitete, meine Behinderung sei ansteckend. Du wusstest davon, hast aber nicht eingegriffen. Du hast mich nicht vor Lügen und Verleumdung beschützt, obwohl du die Einzige gewesen wärst, die dazu in der Lage war.
In der zweiten Klasse sollten wir präsentieren, was wir später werden wollen. Das war für mich ganz klar: Fußballerin. „Das ist doch kein richtiger Beruf“, hast du mir geantwortet. Die Jungen mit demselben Berufswunsch wurden von dir bestärkt. Genau wie Mädchen, die Model oder Sängerin werden wollten. Männliche Tänzer und Feuerwehrfrauen lagen außerhalb deiner Vorstellungskraft. Du hast aufgrund deiner veralteten Weltansicht Kinder am Träumen gehindert und ihnen dein eigenes misogynes Stereotyp aufgezwungen. Mehr als zwei Geschlechter gab es für dich nicht.
Mir ist bewusst, dass du selbst ein Opfer des patriarchalen Systems bist. Und auch, dass die Zeiten anders waren, als du selbst ein kleines Mädchen warst. Du hast einen Job, bei dem du dich um viele Individuen gleichzeitig kümmern musst und es dir nie ermöglicht wird, allen gerecht zu werden. Aber als Lehrerin ist es deine Pflicht, deine eigenen Vorurteile täglich zu reflektieren. Wenn neue Einflüsse hinzukommen, musst du bereit sein, diesen entgegenzukommen. Du musst nicht alles wissen, Frau G. Aber du musst Minderheiten Raum geben, Randgruppen bestärken und die Mehrheitsgesellschaft hinterfragen. Du musst Kindern beibringen, verantwortungsbewusste Menschen zu werden. Du hättest die Macht, das rückständige Schulsystem zu revolutionieren und stattdessen reproduzierst du unfaire Verhältnisse bis hin zu Menschenfeindlichkeit. Wo bleibt da die Vorbildfunktion?
Als wir in der vierten Klasse unseren Fahrradführerschein gemacht haben, hast du mir empfohlen, mich in dieser Zeit mit etwas anderem zu beschäftigen. Ich habe so geweint, Frau G. Dabei konnte ich doch Fahrradfahren. Ich musste dich überreden, dieselbe Chance wie alle anderen zu bekommen und übte vorher überdurchschnittlich viel, weil ich die Befürchtung hatte, besser sein zu müssen, um als gleichwertig angesehen zu werden. Als ich die Prüfung fehlerfrei bestand, hast du deine anfängliche Unterstellung nie wieder erwähnt. Du hast dich nicht mal entschuldigt, Frau G.
Du bist für mich keine Respektsperson und deswegen duze ich dich nun. Ich bin froh, dass du mir nicht mehr deine Welt erklärst, und erschrocken darüber, dass nun andere Kinder deiner Sichtweise ausgesetzt sind. Als ich noch ganz klein war, hast du versucht, mich kleinzuhalten und hätte ich nicht so unterstützende, verständnisvolle Eltern gehabt, dann wäre es dir vielleicht sogar gelungen. Frau G., ich hoffe, dass auch du mit den Jahren reflektierter geworden bist. Und vielleicht werde ich dich das nächste Mal darauf ansprechen, wenn ich dich auf der anderen Straßenseite stehen sehe.
Autorin: Greta Niewiadomski, Illustration: Teresa Vollmuth
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