Flashback. Ich bin wieder 12. Ich befinde mich in den ersten Wochen der dritten Klasse Gymnasium*. Meine damaligen Freundinnen haben sich mit ein paar Jungs aus der höheren Stufe angefreundet, die jetzt fast jede Pause mit uns abhängen. Ich stehe meistens daneben. Ich bin schüchtern. So schüchtern, dass ich nicht sicher bin, ob ich in diesen ersten Wochen überhaupt ein Wort mit den Neulingen gesprochen habe. Wahrscheinlich nicht, denn eine Pause sieht mich der frechste plötzlich an und fragt meine Freundinnen: „Was macht denn die Erstklässlerin da?“
Ich bin klein und zart. Das bin ich immer schon gewesen. Mit sechs Jahren wog ich 18 kg, mit zehn Jahren war ich 1,35 m groß. Heute würde ich sagen: ein kleines süßes Mädchen. Damals nicht. Damals fand ich mich immer zu klein und zu süß. Ich hatte immer dieses Gefühl nicht groß und nicht cool genug zu sein, um zu den anderen dazuzupassen. Um normal zu sein. Wie die drei Kinder, die sich in Filmen unter einem großen Trenchcoat verstecken, sich aber ständig davor fürchten, entlarvt zu werden. Als zu klein, zu kindlich, noch nicht groß genug für die coolen Kids. Als Erstklässler:innen unter Drittklässler:innen.
Das änderte sich auch die nächsten Jahre nicht. Es begleitete mich in all meinen Entwicklungen. Der ersten BHs, die ich kaufte, die ersten Rasierer, die ersten Tampons. Alles später als bei den anderen und immer hat es mich gequält. Ich hatte das Gefühl, einer abfahrenden Straßenbahn hinterherzulaufen, durch das Rückfenster beobachtet von meinen Klassenkamerad:innen.
Noch dazu war ich eben schüchtern. Das war ich auch immer schon gewesen. Schulaufführungen und Eis kaufen waren die Erzfeinde meiner Kindheit und beidem bin ich, soweit es ging, ausgewichen. Und da ich passend dazu durch meine Statur nicht auffiel, hat das Ausweichen immer gut funktioniert. Also für die Schüchternheit. Für mich eher weniger. Denn ich wäre lieber anders gewesen. Ich wäre auch gerne die gewesen, die sich freiwillig für Vorführungen meldet oder sich mit fremden Jugendlichen anfreundet.
Immer, wenn es um Schüchternheit geht, unterliegen die meisten Leute einem essenziellen Fehlschluss: Sie setzen schüchtern mit introvertiert gleich. Introversion beschreibt die generelle Orientierung von Energie und Aufmerksamkeit nach innen. Schüchternheit ist Unbehagen beziehungsweise eine Hemmung in zwischenmenschlichen Situationen. Und obwohl ich schüchtern war, war ich nicht introvertiert. Ich war nur gehemmt, mich auszudrücken. Als kleine und unauffällige Person haben sich diese Tatsachen negativ verstärkt. Selbst war ich nicht in der Lage, mich aus dieser Hemmung zu befreien, und weil ich äußerlich nicht auffiel, wurde ich von anderen nicht damit konfrontiert. Wie in einer Schaukel, die von beiden Seiten angeschubst wird, obwohl ich eigentlich absteigen möchte.

Heute glaubt mir kaum jemand, wenn ich von meiner schüchternen Vergangenheit erzähle. Heute bin ich ein aufgeschlossener Mensch, der im Zweifelsfall eher das Maul aufreißt, statt die Klappe zu halten. Aber ich bin keineswegs sicherer geworden, weil ich aus der Schüchternheit einfach herausgewachsen bin. Es war mehr eine bewusste und auch fordernde Entwicklung. Ein wichtiger Teil davon war eben die Konfrontation. Mit 16 ging ich — wie jede:r österreichische:r Schüler:in — in die Tanzschule. Immer öfter, bis ich plötzlich im Turniertanz landete. Und dort ist Präsentation das Um und Auf. Wer auf der Tanzfläche nicht mit Stolz auffällt, wird übersehen und nicht bewertet. Das zählt nicht nur für den Sport — ist nicht die ganze Welt ein Ballsaal? Gesehen und gesehen werden, auffallen und andere bemerken. Der Tanzsport war somit eine Schule fürs Leben.
Vor zehn Jahren war ich von meinem Selbstvertrauen noch weit entfernt. Sich in einer Gruppe aus pubertierenden Jugendlichen einordnen zu wollen und sich nicht zu finden, ist frustrierend. Diese Erfahrung hat wahrscheinlich jede:r gemacht. Bei dem Versuch, sich in diese Realität zurückzuversetzen, fährt mir ein kalter Schauer über den Rücken. Der Cringe verzieht mir kurz das Gesicht, aber dann schmunzle ich. Die Erinnerungen an Skikurse und Klassenfahrten sind unglaublich aufregend und schrecklich zugleich. Zickenkriege, Liebesdramas und ein Cocktail aus Hormonen gemischt mit Schweiß von Teenies, die noch nicht mitbekommen haben, dass sie doch schon ein Deo benutzen sollten.
Ich bin heilfroh, dass ich aus dieser Zeit raus bin und nicht noch einmal durch die Pubertät muss. Aber ganz kommt da niemand dran vorbei und das ist auch gut so. Was wir nur überdenken sollten, ist, wie wir Erwachsenen damit umgehen. Das können die meisten nämlich richtig schlecht. Wir reden die Ängste von Jugendlichen klein, versuchen sie mit schwachsinnigen Argumenten zu besänftigen oder bemitleiden sie. Das ergibt für uns vielleicht Sinn, hilft den Pubertierenden aber überhaupt nicht.
Der klassische Satz, den jedes Kind in meiner Situation hundertmal zu hören bekommen hat, ist „Wenn du 40 bist, wirst du froh sein, so jung auszusehen“ Ich wusste immer, dass sie damit recht hatten, geholfen hat es mir aber nicht. Wissen ist nicht das gleiche wie fühlen. Heute fühle ich es. Und ich weiß, dass ich mir selbst etwas anderes sagen würde. Anstatt mir zu versichern, dass diese Gefühle vorübergehen, würde ich mir sagen, dass ich sie verstehe, dass meine Ängste gerechtfertigt sind. Ich würde meinen Gedanken einfach Gehör schenken und sie anerkennen, ohne mich zu bemitleiden. Ich würde mich alles aussprechen lassen, was mich belastet. Und dann würde ich mich gerne in den Arm nehmen.
*Die 3. Klasse des Gymnasiums in Österreich entspricht der 7. Klasse in Deutschland
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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Autor:innen
War bis November 2022 Redakteurin bei DIEVERPEILTE. Hat Wirtschafts- und
Sozialwissenschaften in Wien studiert und befindet sich aktuell im
Philosophiestudium. Themenschwerpunkte sind Gesellschaft, Wirtschaft und
Poltik.