Die Musik dröhnt aus der Anlage, als der Barkeeper mir mit einem breiten Grinsen im Gesicht einen Cocktail zuschiebt und mit einer Kopfbewegung auf den Kerl drei Plätze weiter deutet. „Ich wäre auch gerne eine Frau. Ihr habt es einfach so viel leichter, oder?“, fragt der Freund neben mir grinsend.
Ist das so? Haben wir Frauen es leichter?
In den meisten Fällen wird uns die Tür aufgehalten, uns werden Getränke ausgegeben, wir werden zum Essen eingeladen, Männer machen meist den ersten Schritt und wenn ich in den Club kommen möchte, muss ich doch nur den Ausschnitt etwas tiefer ziehen, oder?
In den meisten Fällen wird die Tür nur aufgehalten, um im Vorbeigehen auf unsere Hintern zu starren und Getränke oder Essen werden nicht ohne Hintergedanken ausgegeben. Es wird eine Gegenleistung erwartet. Nehme ich den Cocktail an und trinke ihn, hat der Kerl eine gewisse Erwartung an mich. Ein Gespräch, der Austausch von Handynummern, ein Kuss oder mehr. Als hätte er mich mit seinem Getränk für die nächste Stunde gekauft. Nehme ich ihn nicht an, nicht einmal aus „Höflichkeit“, dann bin ich eine arrogante Schlampe.
In diesem Fall bin ich gerne eine arrogante Schlampe, denn ich habe genug. Ich habe genug davon für alles, was ich tue, sexualisiert zu werden. Binde ich mir die Haare zu einem Pferdeschwanz, ernte ich von Männern ein breites Grinsen, esse ich eine Banane, hebe ich etwas vom Fußboden auf, übe ich einen bestimmten Beruf aus oder wenn ich einfach nur ein Kleid trage: Es sind immer dieselben Blicke. Wir Frauen kennen es alle. Die widerlichen Blicke von Männern, wenn wir allein auf der Straße an ihnen vorbeilaufen. Das Pfeifen, das Rufen, das Grinsen. Als hätte jemals eine Frau auf das hinterher Gepfeife mit einem „Oh nett, vielen Dank!“ reagiert. Das Einzige, was ihr damit in uns auslöst ist Unbehagen und Angst. Angst davor, die Kleidung zu tragen, die wir tragen möchten. Angst davor, allein auf die Straße zu gehen. Angst davor, unser Getränk unbeobachtet stehen zu lassen. Angst davor, einen Rock oder ein Kleid ohne Hose darunter zu tragen.
Als ausgelernte Krankenschwester befinde ich mich in einem vollkommen sexualisierten Beruf. Sexuelle Belästigung in Pflegeberufen ist ein riesiges Thema und jede:r Pflegende hat schon mal Erfahrungen damit gemacht. Aber gesprochen wird darüber nicht gern. Fällt wieder unter die toxische Kategorie: “Wer das nicht aushält, hat den falschen Job.” Die Übersexualisierung des Berufs und Normalisierung der Belästigung (auch durch Pflegende selbst, die Vorfälle bagatellisieren) führt dazu, dass sowohl die Belästigenden, als auch die Opfer glauben, dass das ein Normalzustand sei, schreibt muenster-cares zum Thema Sexismus in der Pflege.
Wenn ich nach meinem Beruf gefragt werde und antworte: „Ich bin Gesundheits-und Krankenpflegerin“, kommt von Männern ausnahmslos die gleiche Reaktion. Ein breites Grinsen und ein: „So eine Krankenschwester wünscht man sich doch gern.“ Natürlich kann ich mir schönreden, dass diese Kerle absolut keine Ahnung von diesem Beruf haben. Doch das Bild von der schlanken Krankenschwester im kurzen Rock und engem Oberteil mit weitem Ausschnitt, gepaart mit Strumpfhaltern, bleibt. „Zu Zeiten von Florence Nightingale, Mutter der modernen Pflege, war Frauenarbeit verpönt. Somit arbeiteten vor allem Frauen, die aus unteren Schichten stammten und auf das Einkommen angewiesen waren. Viele Professionen standen ihnen nicht offen. Daher verdienten sie ihr Geld mit Prostitution – und mit Pflege“, schreibt Christian Cupyers auf die-pflegebibel.de zum Thema. Krankenschwestern waren zu dieser Zeit also beides: Pflegende und Prostituierte. Dennoch ist es kaum zu glauben, dass im Jahr 2021 noch immer darauf zurückgegriffen wird.
Die Tatsache, dass Männer diesen Beruf sexualisieren, ist für mich ein Zeichen dafür, dass sie gerne bemuttert werden. Klar, es ist auch die vollkommen falsche Vorstellung unserer Arbeitskleidung. Doch die mitfühlende, sich kümmernde und besorgte Frau in ihrer Vorstellung spielt mindestens eine genauso große Rolle. Dazu habe ich neulich etwas in der VICE gelesen. Die Sexualthreapeutin Tanja Thelen sagt in einem Interview: „Zwei Komponenten spielen hier eine wichtige Rolle: Erstens die Uniform und zweitens das Thema Macht und Unterwerfung. Krankenschwestern tragen meist eine weiße Uniform, was wiederum etwas Reines symbolisiert. Sie versorgen Patient:innen, kümmern sich um sie und haben keinerlei Berührungsängste gegenüber Körperflüssigkeiten und Ausscheidungen.”
Ich kann es nicht mehr hören. Weder das „Haha na, dann sollte ich mir wohl ein Bein brechen“, noch das „So eine Nachtschwester wünscht man sich doch gern“, ganz abgesehen von den Kommentaren, die meine tatsächlichen Patient:innen von sich geben. Man kann kaum zählen, wie oft man auf die Frage, ob noch etwas benötigt werde, ein: „Sie können mir Beischlaf leisten“, „Sie könnten sich zu mir legen“ oder nur ein breit grinsendes „Nichts, was sie machen würden“, gehört hat. Ich bin es leid, sie auf ihr falsches Verhalten hinzuweisen, obwohl ich genau weiß, wie wichtig es ist. Dafür fehlt mir mittlerweile schlichtweg die Energie.
Und ich bin nicht die Einzige. Jede einzelne meiner Kolleginnen und auch Kollegen können von sexueller Belästigung erzählen. Vom ambulanten Pflegedienst, wo der Patient meine Kollegin nackt im Türrahmen empfing und anschließend die Tür hinter ihr abschloss, weil er es als „lustig“ empfand. Einem Patienten, der beim Duschen anfing zu masturbieren. Bei der Intimpflege wird darum gebeten, bitte „etwas länger dort unten zu waschen“ und bei der Mobilisation wird meistens an den Hintern gefasst zum „Festhalten“. Dass Belästigung in der Pflege keine Seltenheit ist, zeigt auch die Umfrage der Gesundheitspsychologin Claudi Depauli. In ihrer Umfrage wurden 2980 Pflegekräfte befragt. 67 Prozent berichten von sexueller Belästigung im Job. (Alex Baur- spiegel.de)
Ein Teil meiner männlichen Kollegen findet es witzig, wenn ich dann erzähle, dass Patienten sich mir gegenüber so verhalten. Der andere Teil schüttelt nur den Kopf, doch sagen würde auch von ihnen keiner etwas. Als wären Männer, die sich für Frauen einsetzen und andere Männer auf ihr Fehlverhalten hinweisen weniger männlich.
Ich frage mich also, haben wir Frauen es wirklich leichter?
Haben (Cis-) Männer Angst, für ihre Kleidung oder ihr Aussehen sexualisiert zu werden? Haben (Cis-)Männer Angst, wenn sie nachts allein nach Hause laufen? Tragen sie auch das Pfefferspray fest in der Hand in der Jackentasche, denn man weiß ja nie? Müssen (Cis-) Männer Angst davor haben, für vollkommen alltägliche Dinge wie das Essen von Eis, einer Banane, das Binden der Haare oder das Bücken nach etwas Heruntergefallenem, sexualisiert zu werden?

Mir erscheint es beinahe als hätten (Cis-) Männer auf dieser Welt einen Freifahrtschein. Jegliches Fehlverhalten wird verziehen. Dem Rapper wird verziehen, dass er seine Frau verprügelt hat, Fans stehen auf der Seite ihres männlichen Idols trotz Vergewaltigungsvorwürfen, denn dem Mann wird eben immer mehr geglaubt als der Frau. Die Frau als „Machtgeiler- Aufmerksamkeitssuchender-Racheengel“. Sie hätte schließlich einfach „Nein“ sagen können, sie ist schließlich selbst schuld, so wie sie rumläuft und überhaupt, weshalb war sie eigentlich nachts draußen und hat sich mit ihm getroffen? Als würde bei einem Mord oder einem Diebstahl jemals jemand auf die Idee kommen, dem Opfer die Schuld zu geben.
„Dann trag deinen Geldbeutel doch nicht so angeberisch in der hinteren Hosentasche!“
Nur beim Thema sexueller Gewalt, da wird grundsätzlich erst mal die Schuld beim Opfer gesucht. „Frauen trifft vielfach der Vorwurf, sie würden sich zu freizügig kleiden und lasziv auftreten. Außerdem sei es grob fahrlässig, als weibliche Person viel Alkohol zu trinken. Da man sich dadurch bewusst der Gefahr des sexuellen Missbrauchs aussetzt. Als Frau nachts alleine unterwegs sein? Kann man zwar machen, da darf man sich dann aber nicht über sexuelle Belästigung aufregen. Schließlich könnte Frau auch ein Taxi bestellen. Wer mit einem weiblichen Genital auf die Welt kommt, muss also schon früh Präventivmaßnahmen ergreifen, so der Konsens. Maßnahmen, (potenzielle) Täter im Zaum zu halten, existieren hingegen nicht“, schreibt Florentina Glüxam.
„Vielleicht will sie ja auch nur fame“, als wäre jemals eine Frau als Vergewaltigungsopfer berühmt geworden.
„Sie hat nicht mal Beweise!“, als sollte die übliche Reaktion einer Frau während einer Vergewaltigung die sein, zuerst das Handy zu zücken, um alles aufzunehmen. Doch wir wissen alle: Selbst wenn es solche Videobeweise gibt, dann wird den Opfern noch immer nicht geglaubt. Wieso wurde es denn sonst gefilmt? Sie hat nur einmal „Nein“ gesagt! Sie hat sich doch gar nicht gewehrt!
Während Männern also scheinbar alles verziehen wird, müssen sich Frauen für alles rechtfertigen. Was man aktuell sowohl im Fall um Ines Anioli als auch um Nika Irani sehen kann. Sei es das Outfit, das Make-up, wechselnde Sexualpartner:innen oder ihr Beruf. Welcher Mann wird dafür kritisiert, dass er zu viel Haut zeigt? Bereits kleinen Mädchen wird beigebracht sich nicht zu aufreizend zu kleiden, währenddessen läuft Onkel Hans den ganzen Sommer oberkörperfrei durch die Straßen und präsentiert aller Welt seinen haarigen Bauch. Niemand würde auf die Idee kommen, einen Mann darauf hinzuweisen, dass der V-Ausschnitt seines Shirts ganz schön gewagt ist oder die Hose doch ein bisschen knapp ist. Steht eine Frau dazu, häufig wechselnde Sexualpartner:innen zu haben, ist sie eine Schlampe, eine, die es mit jedem treibt, billig! Unter Männern höre ich hingegen öfter Lob dafür, dass der Kerl das fünfte Tinder-Date diese Woche hat. Als hätten Männer ein größeres Recht auf Sex als Frauen – als senke Sex den Wert der Frau, aber steigere dafür den des Mannes.
Eure toxische Männlichkeit ist das, was mich an dieser ganzen Thematik krank macht. Und dann geht es wieder los: „Was darf Man(n) denn überhaupt noch sagen?“, kommentiert irgendein „Günter“ unter einem Facebook-Post. Du darfst prinzipiell sagen, was du willst, Günter, es ist deine Entscheidung, ob du ein sexistisches Arschloch sein möchtest oder nicht. Immerhin ist es dann doch für jeden Mann das Schlimmste, wenn die eigene Frau, Tochter, Schwester oder beste Freundin sexuelle Belästigung, Nötigung oder gar Vergewaltigung erfährt. Aber fremde Frauen? Die müssen es herausgefordert haben! Unter Günters Kommentar findet man dann mindestens einen Kommentar von einem Daniel der in Großbuchstaben „NOT ALL MEN“, kommentiert. Natürlich, Daniel. Aber mit deiner Aussage wirst du zum Teil des ganzen Problems. Es geht nicht darum, schuldig zu sprechen oder sich selbst unschuldig zu machen. Es sollte vielmehr das eigene Verhalten reflektiert werden und aktiv dazu beigetragen werden, einer Frau aus einer unangenehmen Situation zu helfen, wenn diese erkannt wird, anstatt danebenzustehen und Günter grinsend zu zunicken.
Ich schiebe also den ausgegebenen Cocktail zu meinem Kumpel rüber. Ernte dafür einen Blick voll gekränktem Stolz, ein zu gezischtes „Schlampe“ im Vorbeigehen und hinterfrage den restlichen Abend, ob ich nicht vielleicht doch zu unhöflich war und mich einfach mit ihm hätte unterhalten sollen, mich höflich bedanken, ihm meine Handynummer hätte geben sollen, nur um seine zu Hause wieder zu löschen. Dann hätte ich sein fragiles männliches Ego nicht verletzt, hätte einen kostenlosen Cocktail erhalten und alles wäre gut. Ist doch ganz einfach, oder? Um das Ego von dieser Art Männer nicht zu verletzen, einfach mitspielen.
Doch wie lange könnte ich mich selbst im Spiegel ansehen, wenn ich immer so reagieren würde. Vielleicht liegt es jedoch an der falschen Einschätzung von Männern. Nicht immer bedeutet ein höfliches Lächeln oder ein Danke, dass Frauen angesprochen werden möchten. Forscher der University of Iowa fanden heraus, dass Männer häufig völlig falsch einschätzen, ob eine Frau an ihnen interessiert ist. Sie legten in einer Studie 183 Männern Fotos von Frauen vor und fragten: „Auf einer Skala von -10 bis +10, wie sehr ist diese Frau an dir interessiert?“ In den meisten Fällen lagen die Probanden deutlich daneben“, schreibt Spiegelreporterin Kathrin Weßling.
Seufzend lehne ich mich über die Theke und bestelle mir meinen eigenen Cocktail. Dann wende ich meinem Kumpel den Blick zu.
„Um deine Frage zu beantworten: Nein. Ich bin nicht diejenige, die es leichter im Leben hat.“
Autorin: Michelle Berger
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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