Es geht um Menschen. Eine Zahl von Personen, die zu uns nach Deutschland kommt. Sie fliehen vor Krieg, Folter und Tod. Einige von ihnen schaffen es nie. Welchen Weg sie auch gehen, es ist kein humaner. Niemand flüchtet aus Spaß. Trotzdem erwartet sie Misstrauen und Ablehnung. Es ist die Angst der Privilegierten. Die vermeintlich legitime Angst, die Geflüchteten könnten uns etwas wegnehmen. Aber ihr habt sicher einen Grund dafür, so zu denken. Also: Warum?
Unter welchen Bedingungen geflüchtete Menschen leben müssen, erfährt Nadine Hoeckelmann (25) im April 2019. Sie studiert damals Soziale Arbeit in Dortmund und engagiert sich ehrenamtlich für geflüchtete und wohnungslose Menschen. An jenem Tag erreicht sie zusammen mit ihrem Team von „Grenzenlose Wärme“ das Flüchtlingslager Koutsochero in Griechenland. Zeit zum Ankommen bleibt jedoch nicht, es geht sofort los. 300 neue Flüchtlinge aus Lesbos sollen in Containern untergebracht und anschließend mit Hilfspaketen versorgt werden. Die Zahl der Einwohner steigt auf 1300 Personen. Zum Großteil Familien. Es ist Nadines erster Hilfseinsatz vor Ort und jener Tag, an dem die Bilder in ihrem Kopf Gestalt annehmen.

Es ist ein Bild, dass ich mir nur schwer vorstellen kann, ohne es jemals erlebt zu haben. Als Nadine knapp zwei Jahre später, an einem Donnerstag im Januar 2021, diese Geschichte erzählt, sitzt sie mir in einem Zoom-Call gegenüber. Eine grüne Wand im Hintergrund, die Weltkarte hängt über dem Bett. Nadines blondes Haar ist zu einem Zopf zusammengebunden, sie macht einen empathischen Eindruck und trägt eine runde Brille. Die Ordnung, in der sie wohnt, bildet einen krassen Gegensatz zu den unwürdigen Bedingungen im Flüchtlingscamp. „Es war wichtig, dass wir schnell helfen“, sagt sie. Im Regen begrüßte sie zusammen mit den anderen Helfer:innen die 300 Neuankömmlinge, die auf die Container verstreut werden sollten. „Auf einmal teilten sich nicht mehr drei Personen eine Unterkunft, sondern bis zu sieben. Teilweise waren das auch Menschen, die sich vorher nicht kannten.“
Ist das eine Situation, die Menschen in Flüchtlingsunterbringungen für Auseinandersetzungen empfänglich macht? Nadine denkt einen Augenblick nach. Definitiv. Unterschiedliche Männergruppen in einem Container, dann die vielen verschiedenen Ethnien, die dort aufeinandertreffen, sagt sie schließlich. Zu Reibungen kam es aber auch bei Geflüchteten, die schon länger im Camp lebten und sich bedrängt fühlten, weil der Platz knapper wurde. „Man hat schon gemerkt, was da für Spannungen entstehen können“.
Für die damalige Studentin ist die Fahrt nach Griechenland der Auftakt zu weiteren Hilfsfahrten. Und eine Grunderfahrung für Nadine: Sie kann die Grenzen überqueren – wann immer sie möchte –, die Flüchtlinge nicht. Für diese ist der Weg nach Deutschland weit entfernt. Wodurch man sich den eigenen Privilegien erst einmal bewusst wird.

„Es war schon heftig, diese Situation zu sehen und mit den Menschen vor Ort zu sprechen. Viele Migrant:innen kamen zu uns, nachdem sie erfuhren, dass wir von einer deutschen Organisation sind. Daraufhin baten sie uns, ihnen Deutschunterricht zu geben. Mit fünf neu gelernten Wörtern waren sie schon glücklich.“
„Bitte bring mir deutsch bei, ich will nach Deutschland!”
Seit 2019 ist sie Teil der Initiative „Grenzenlose Wärme“, eine Studentenvereinigung, die sich für geflüchtete Menschen einsetzt. Entstanden aus der Anfrage einer Kommilitonin im Oktober 2016 wurden mittlerweile elf Hilfstransporte realisiert, bei denen Hilfsgüter sowie Arbeitskräfte nach Griechenland gebracht wurden. Ihr Ziel ist es, Geflüchtete und andere Nichtregierungsorganisationen so zu unterstützen, dass sich die Situation nachhaltig verbessert und etablierte NGOs ihre Projekte auf lange Sicht fortführen können. Finanziert wird das Projekt durch Privatspenden. So werden auch Kraftstoffe für die Transporter und Transportkosten gedeckt.
Nun tritt auch Jens P. Neumann (36) unserem Zoom-Meeting bei. Er ist das Bindeglied zwischen Nadine und mir. Bei ihm begann es mit einer einfachen Geste. Er erinnert sich, dass ihn Sebastian Heinze, einer der Gründer von Grenzenlose Wärme um Hilfe bat. Das war im Dezember. Jens betreibt ein Musiklabel, gleichzeitig managt er eine Band, mit der auch Sebastian in Kontakt steht. „Eines Tages schrieb er mir auf Telegram. ‚Wir planen einen Transport nach Calais (Frankreich), falls du Ideen hast, wie man das unterstützen könnte, lass es mich gerne wissen.“ Die Art und Weise, wie der Verein arbeitet, begeistere ihn. Das Engagement der Menschen sei für ihn nicht selbstverständlich. Seitdem supportet Jens unter anderem die Spendenaktion der Initiative. „Die Ursprungsidee war, 1000 Euro zu sammeln“, womit sie Schlafsäcke und den Transport nach Calais finanzieren wollten. Kurz darauf war das Ziel erreicht. „Danach erhöhten wir auf 3000“, auch diese Summe erlangten sie bereits wenige Tage später. „Dann 5000“, sagt Jens. Im letzten Meeting hoben sie den Betrag ein letztes Mal an: 8000 Euro. Beide lächeln mich an, als er verrät, dass ihnen nur noch ein Bruchteil davon fehlt. Damit hatte niemand gerechnet.

Als ich die beiden frage, wie es weitergeht, antwortet Nadine: „Der Brand in Lipa führte dazu, dass wir die Spendengelder des Fundraising nun nicht zum Großteil für Griechenland ausgeben, sondern hauptsächlich für Bosnien“. Hierfür wendete sich das Team von Grenzenlose Wärme an die Hilfsorganisation SOS Bihać. Erst einmal sei es wichtig, herauszufinden, wo überhaupt Bedarf ist, damit dieser auch gedeckt werden könne. „Schlafsäcke, Männerbekleidung und Hygieneprodukte werden besonders gebraucht“, sagt die Sozialpädagogin. Nachdem die Frage nach dem Was geklärt war, organisierte die Initiative den Hilfstransport. Dabei helfen soll die Organisation „Aachener Netzwerk“. Sie planen ebenfalls Transporte nach Bosnien. Jetzt gilt es, die Sachspenden schnellstmöglich zu verteilen: „Die Idee ist, mit einem vollgepackten LKW runterzufahren“, was ihnen durch den Zusammenschluss mit anderen Organisationen überhaupt erst möglich ist. Bisher konnten 150 Schlafsäcke mit den Spendengeldern eingekauft werden. Weitere 500 stellte das „Hamburger Hilskonvoi“ zur Verfügung. Zusätzlich sei eine Sachspendenannahme in Dortmund geplant.
„Wie schätzen die Flüchtlinge selbst ihre Perspektiven ein?“, frage ich.
„Sie merken ja selber, dass es nicht vorangeht. Stattdessen werden ihnen immer wieder neue Versprechungen gemacht, die nicht eingehalten werden“, antwortet Nadine.
Die Pädagogin wird still, kurz wirkt sie frustriert, dann redet sie weiter. Die ehrenamtliche Arbeit mit den Flüchtlingen hinterlässt Fragen. Zu viele Augen seien verschlossen, wenn man an die menschenverachtenden Zustände in den Camps denkt. Je nach Blickwinkel hängen die Probleme mit den Einwohner:innen zusammen. Manche können sich nicht vorstellen, die eigenen Privilegien aufzugeben. Nadine meint, man müsse sich die ganze Situation vor Augen führen, aber sie weiß auch, dass dies schwierig ist, wenn man noch nie vor Ort war. Nach dem Feuer im Flüchtlingscamp Lipa saßen die Geflüchteten schon in den Bussen, der Fahrer hätte nur noch losfahren müssen, damit die Menschen in ein anderes Flüchtlingscamp gelangen. „Dann wurde alles gestoppt, weil sich die bosnischen Kommunen dagegen wehrten, dass die Flüchtlinge bei ihnen untergebracht werden.“ Nun leben sie in undichten Zelten, ohne Heizung, schmelzen Schnee für etwas Wasser und baden in Flüssen – das alles, während das Thermometer minus 15 Grad anzeigt.

Wer Nadine H. und Jens N. zuhört, gewinnt den Eindruck, Flüchtling sein sei immer eng mit Brüchen im Leben und dem Aufwachsen an einem schwierigen Ort verbunden.
Unter welchen Bedingungen geflüchtete Menschen leben können, erfahre ich im eigenen Zuhause. Meine Tante, die eine syrische Familie bei sich aufnahm, pflegt noch heute, Jahre nach deren Auszug, engen Kontakt. Sie hilft damals in einer Flüchtlingsunterkunft aus. Als mir Hakim* über fünf Jahre später seine Geschichte erzählt, sitzt er mit uns beim Abendessen. Er musste seine Heimat in Syrien zurücklassen und floh über die Türkei nach Griechenland. Auf der Suche nach Sicherheit begibt sich der damals 20-jährige Hakim auf die lebensgefährliche Überfahrt über das Mittelmeer. Zusammen mit 30 anderen sitzt er in einem Boot. Am Ende seines Rückblicks schaut er lachend zu uns herüber, er habe zu jener Zeit viel durchgemacht. „Manchmal lachen wir aus Trauer, nicht aus Spaß“, erklärt er, als sich unsere Blicke kreuzen. Heute lebt er ein ganz normales und noch viel wichtiger, ein glückliches Leben – ohne Diktator, dafür mit Zukunft.
Was ein wenig hilft, wenn Menschen wie Hakim und meine Tante nicht da sind, hat Nadine in Koutsochero erlebt. Dort verteilte sie Einwegkameras an Familien im Camp. Ein Foto-Workshop, bei dem die Flüchtlinge ihre Sicht der Dinge personalisieren sollten, indem sie drei Fragen bildhaft beantworten:
Was bedeutet Heimat für dich?
Was bedeutet Zukunft für dich?
Was bedeutet Flucht für dich?
Nadine sagt, dies sei sehr wichtig, um Menschen nicht weiter zu überfordern. Informationsfluten können sehr anstrengend sein, weil dadurch die einzelnen Perspektiven und Geschichten untergehen. Projekte wie der Foto-Workshop sollen helfen. Ein Bild ist ihr dabei besonders in Erinnerung geblieben. „Da war diese Familie, die in einem kleinen Container ein Familienfoto machte. Die Aufnahme zeigte eine offene Wunde, die schlecht versorgt wurde“. Einerseits ist da dieses Familienbild und der Zusammenhalt, andererseits die Probleme, mit denen die Geflüchteten tagtäglich zu kämpfen haben.

Niemand flüchtet aus Spaß. Und trotzdem gibt es diese Angst, dass Geflüchtete uns etwas nehmen könnten. Was wir brauchen, sind NGOs wie „Grenzenlose Wärme“, die informieren und ein Bewusstsein darüber schaffen, was in den Flüchtlingslagern passiert. Die Flüchtlingspolitik bekommt noch lange nicht so viel Aufmerksamkeit, wie sie benötigt. „Das merken wir auch, wenn wir Infostände haben. Viele Menschen wissen einfach nicht Bescheid“, schließt Nadine ab. Mit ihren Eindrücken, die sie auf ihren zwei bis dreiwöchigen Hilfsfahrten einsammeln, baut die Hilfsorganisation Vorurteile ab – und das ist es, was wir brauchen. Unsere vermeintlich legitime Angst, die Geflüchteten könnten uns etwas wegnehmen, wird uns auf diesem Wege genommen. Durch Aufmerksamkeit und unsere Solidarität kann diesen so unterschiedlich wandernden Menschen eine positive Zukunftsperspektive geboten werden. Und das wäre dann kein Grund für Misstrauen und Ablehnung, sondern für menschliches Handeln.
Hier geht es zur Spendenaktion. Gelder, die übrig bleiben, gehen an die Organisation Wave, die in Thessaloniki obdachlose Geflüchtete mit einer warmen Mahlzeit unterstützt.
*Name von der Redaktion geändert
www.grenzenlose-waerme.blog.de
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.
Reingeguckt! Jetzt musst du auch die anderen Artikel lesen:
Smalltalk auf Partys
Was bedeutet es, obdachlos zu sein?
Was es bedeutet, in Wohlstand aufzuwachsen.
Jetzt DIEVERPEILTE supporten und mit dieser geilen Autorin anstoßen!
Folgt Grenzenlose Wärme auf Instagram und uns auf Facebook, Instagram und Spotify.
Autor:innen
Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.
One Comment on “Grenzenlose Wärme: Wir müssen über Flüchtlinge reden!”