Der Regen schlägt auf das Autodach, die Motorhaube und gegen die Windschutzscheibe. Die grauen Wolken verdichten den Blick ins Blaue und lassen nicht einen Sonnenstrahl durchscheinen. Mein Fahrlehrer und der Prüfer reden über den Durchfallgrund. Über den jungen Mann, der rechts am Straßenrand stand, die Straße überqueren wollte und den ich nicht gesehen habe.
Der Prüfer: „Er stand da und hat auch etwas komisch geguckt und dachte wahrscheinlich: ‚Huch, was ist denn hier los, warum kann ich nicht rübergehen?‘.“
Mein Fahrlehrer: “Ich glaube, er hatte auch eine körperliche Behinderung, das sah man daran, wie er seinen Arm gehalten hat.“
„Na toll“, denke ich, „jetzt hatte der auch noch eine körperliche Behinderung.“ Eigentlich hat die Situation schon etwas Komisches. Fast wie in einem Sketch irgendeiner deutschen Comedy Show. Fünf Minuten fuhr ich das Auto, ich sollte links abbiegen und da habe ihn nicht gesehen. Ich höre in der Situation noch, wie der Prüfer „Ach nö“ zu sich flüstert, sehe im rechten Augenwinkel den Close-up des Körpers des Mannes an mir vorbeiziehen und denke: „Scheiße, das wars!“
Ich soll neben einem schwarzen Fahrzeug, wie es im Fahrlehrer:innen-Fachjargon heißt (nicht Auto) halten und mein Fahrlehrer soll mir, falls nötig beim Einparken helfen: Am Ende parkt er ein. Wir müssen die Sitze tauschen und die Prüfung ist zu Ende. Der Rückweg fühlt sich sehr viel länger an als der Hinweg. Jedes weitere Wort, das die beiden wechseln, fügt mir körperliche Schmerzen zu. Ich bin angespannt und heule deshalb noch nicht. Melancholisch, im American-Teeniefilm-Style will ich auch nicht aus dem Seitenfenster schauen. Also blicke ich durch die Windschutzscheibe und schaue mir an, wie mein Fahrlehrer sein Auto fährt, als sei es das Einfachste auf der Welt: Da mal schnell abgebogen, smooth den Fahrradfahrer überholt – wäre ich hinter dem gewesen, ich schwöre, ich hätte den Mistkerl nicht überholt. Scheißegal, ob ich genug Platz gehabt hätte.
Dabei ist es nicht ungewöhnlich, dass viele beim ersten Mal durchfallen. Besonders in der Hansestadt, die die höchste Durchfallquote Deutschlands hat. Eigentlich interessant: Ich war letztens in Berlin und verstehe nicht, wie die Berliner:innen besser abschneiden können. Ich fand den Verkehr noch viel schlimmer als in Hamburg. Andererseits kenne ich die Straßen in meiner Stadt natürlich besser.
Ich spürte, dass der 5. April nicht der Tag meines Führerscheinerwerbs sein würde, aber gleich nach fünf Minuten? Vielleicht wollte ich einfach, dass ich nicht zu lange gequält werde: das Herzklopfen, die Angst, gleich einen Piep zu hören, weil mein Fahrlehrer auf die Bremse tritt – das war einfach zu viel an diesem Tag.
Eigentlich mag ich Autofahren, eigentlich macht es mir sehr viel Spaß. Aber wenn es um eine Prüfung geht, dann fühlt es sich an, als ob ich unvorbereitet in einen Zweikampf muss. Ich sage euch Leute, ich würde sofort K.O. gehen. Und ich sage das nicht, damit irgendjemand jetzt entgegnet: „Doch, klar würdest du das schaffen, du würdest dich ja darauf vorbereiten.“ Ja, in meine scheiß Fahrprüfung bin ich auch nicht unvorbereitet hineingegangen. Im Gegenteil: Vier Seiten Notizen, gedankliches Autofahren, echtes Abfahren der Strecken im Prüfgebiet mit dem Fahrrad. Ich habe Autos beobachtet, wie sie links und rechts abbiegen, mir Kreuzungen eingeprägt, sogar das Schalten habe ich mit meinem Fahrrad geübt: anhalten auf eins, weiterfahren auf zwei, dann drei, bei gerader Strecke gleich in die Sechs. Während ich das schreibe, spüre ich, wie absurd das ist. Wie verrückt kann man sich machen?
Eigentlich war das Scheitern vorprogrammiert: Wer vor einer Prüfung eine Stunde heult, weiß, dass das nicht der Tag ist, an dem er:sie den Führerschein bekommt. Ich frage mich mehr als ein Mal, warum ich mit 35 Jahren unbedingt noch Autofahren lernen muss. In Berlin zum Beispiel machen die meisten Leute ihren Führerschein mindestens zehn Jahre früher. So lang bin ich ohne ihn ausgekommen und von dem Geld hätte ich auch geil nach New York fliegen können. Aber irgendwie habe ich buchstäblich lange vom Autofahren geträumt. Es musste also irgendwann passieren.
Ich weiß noch, wie ich in der Endphase meiner Masterarbeit fast jeden Tag geheult und mich verflucht habe, dass ich den Master überhaupt angefangen hatte. Die MA habe ich am Ende geschafft und auch sofort bestanden, aber das ist keine Prüfung, mit der potenziell Menschen zu Tode kämen. Keine, bei der du die ganze Zeit angeschaut wirst.
Aber ich mochte den Fahrprüfer und als ich sein „Ach nö“ hörte, hat es mir fast leid getan, dass ich ihm den Spaß verdorben habe, mir meinen Führerschein auszuhändigen. Um ehrlich zu sein, konnte ich die beiden auch nur enttäuschen, weil ich wusste, was an diesem Tag passieren würde. Ich hatte es meinem Fahrlehrer Wochen vorher schon gesagt, dass ich das nicht schaffen werde. Aber ich glaube, er dachte, dass ich einen auf „Ich kann das eh nicht“ mache, damit er dann sagt: „Doch natürlich“ – tätschel, tätschel.
Genauso wie bei meiner Masterarbeit verfluchte ich meine Entscheidung überhaupt begonnen zu haben. So viel Geld und psychische Kapazitäten: Verloren! Es gibt kein Entkommen. Dramatisch.
Kurz denke ich: „Ja supi, bin jetzt gefahren, kann ich jetzt. Sollte ich mal in einem abgelegenen Waldstück einen Menschen retten müssen, der in seinem Auto einen Herzinfarkt bekommt, könnte ich ihn oder sie heroisch ins Krankenhaus fahren.“ Dafür würde ich dann eine Sonderauszeichnung und meinen Führerschein bekommen. Und da dieses Szenario mir viel leichter vorkommt als 45 Minuten ein bisschen durch Hamburg fahren, merkt ihr schon, dass ja irgendwas nicht ganz in Ordnung ist. Aber wisst ihr, diese Fahrprüfung ist so extrem leicht zu verkacken. Ich würde wahrscheinlich das Staatsexamen in Rechtswissenschaften leichter bekommen als meinen Führerschein. No offense, Jurastudierende!
Vor allen Prüfungen, die ich in meinem Leben absolvieren muss – ob damals die Realschulprüfung, das Abitur, die mündliche Bachelorprüfung oder die schriftliche Fahrprüfung – ich habe immer eine Strategie: Ich wasche meine Haare. Ihr werdet lachen. Aber, um mich gut zu fühlen, müssen meine Haare gut aussehen. Ich habe Locken und jede Person mit Locken weiß, wie schnell die scheiße und ungepflegt aussehen können und deshalb muss ich sie waschen und schick machen und sie müssen toll aussehen und sich toll anfühlen, damit ich mich toll fühle. Bei jeder Prüfung hat es funktioniert: Sie sahen toll aus, ich sah toll aus, ich fühlte mich toll. Aber die praktische Führerscheinprüfung hat mir gezeigt: Haare waschen alleine reicht auch nicht!
Endlich kommen wir wieder am TÜV an, wo die ganze Prüfung startete. Der Prüfer steigt nach quälendem Small Talk aus. Ich schaue meinen Fahrlehrer an. Er sagt: „Beim nächsten Mal schaffst du es bestimmt, Anna!“ Ja, das glaube ich auch.
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.
Illustration: Amelie Chioma

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Autor:innen
War bis Juli 2022 Redakteurin bei DIEVERPEILTE. Hat Geisteswissenschaften mit Fokus auf Indien an der Universität Hamburg studiert. Themenschwerpunkte sind Gesellschaftspolitik und feministische Themen.