Warnung: Dieser Text enthält Schilderungen von häuslicher Gewalt.

Mit 19 Jahren zog ich aus, weil ich es zu Hause nicht mehr ausgehalten habe. Meine Kindheit wurde von Kälte dominiert. Geschrei, Minderwertigkeitsgefühle, Vorwürfe, Kontrolle, subtile Aggression und bedrückende Stille – um nur einige Beispiele zu nennen. Ich finde nicht die richtigen Worte für das, was ich erlebt habe, weiß jedoch, dass viele Dinge, die passiert sind, dafür verantwortlich sind, dass mir mein Kopf manchmal Streiche spielt. 

Gewalt muss nicht mit einem blauen Auge oder in einem Polizeiauto enden, damit sie einen fürs Leben prägt. Gewalt kann auch anders sein, so anders, dass man sich ihr erst viel später bewusst wird, weil die eigene Geschichte nicht so schlimm ist wie die, von denen man hört. Ich musste nie in die Notaufnahme. Meine Mutter hat immer alles dafür getan, dass wir ein Daheim haben und mein Vater war, wie er selbst über sich sagt, fürs Geld zu gebrauchen.

Als ich 16 war, kam ich mit meinem ersten Freund zusammen. Hier lernte ich das Gefühl von Wärme kennen. Ich sage kennenlernen, weil ich es in meinem zu Hause nie wahrgenommen habe. Meine Eltern trennten sich, als ich fünf Jahre alt war. Ich zog mit meinem jüngeren Bruder, meiner großen Schwester und meiner Mutter nach Nürnberg, wo ich aufgewachsen bin. Die Beziehung meiner Eltern wurde schon in unserer Kindheit immer von Feindseligkeiten begleitet. Ich erinnere mich an viele Momente, in denen sie übereinander herzogen und ihre Kommunikation über uns stattfinden musste. Wenn sie doch mal miteinander redeten, dann nur, weil es ums Geld ging oder weil wir Kinder „Probleme“ machten. Was es heißt, liebevoll aufzuwachsen, wurde mir erst viel später bewusst. Meine ältere Schwester, die immer zwischen den Stühlen stand, fing irgendwann an, sich zu ritzen. Mit 13 Jahren wurde sie in eine psychosomatische Klinik gebracht, wo sie sich ein paar Wochen später erhängte. Meine Eltern schieben sich noch heute gegenseitig die Schuld zu. Sie ist also umsonst gestorben.

Weil ich mich zu Hause nicht wohlfühlte, suchte ich, wann immer ich konnte Zuflucht bei Freunden. So lernte ich eines Tages meinen Ex-Freund kennen. Unsere ersten beiden Jahre verliefen wie aus dem Bilderbuch. 2012 fing unsere Beziehung an, sich zu verändern. Eines Tages kam er zu mir, um mir zu beichten, dass er ein paar Mal gekifft hätte. Ich erinnere mich noch daran, dass wir in seinem Auto saßen, eine Tüte rauchten und alles unglaublich aufregend war, weil es sich so verboten anfühlte.

Ab diesem Moment im Auto, als wir den Joint aufgeraucht hatten und nach Hause fuhren, wurde mein Ex zum Kiffer und entfernte sich nach und nach von der Person, die mich glücklich machte. Er begann mich anzulügen, wollte sein eigenes Leben führen. Das waren die ersten Veränderungen, die ich in unserer Beziehung bemerkte. Wir stritten uns, ich weinte. Mit aufgequollenen Augen in die Schule zu gehen, wurde somit zur Gewohnheit für mich. Was auch bei meinen Mitschüler:innen und Lehrer:innen nicht unbemerkt blieb. Mit 19 begann unsere On-off-Beziehung, die noch weitere vier Jahre halten sollte. Ich führte ihm meine Abhängigkeit absichtlich immer wieder vor Augen und versuchte ihn bei mir zu behalten. Als ich noch bei meiner Mutter wohnte, trennte er sich trotzdem von mir. Meine Probleme, Verlustängste und Sorgen fraßen mich auf. Mit ihm verlor ich nicht nur meine heile Welt, sondern auch das Gefühl von Familie.

Ich bin nicht genug. Nicht schlau, nicht liebenswert, nicht willkommen. In meinem Leben dachte ich das oft und auch noch heute schleichen sich diese Gedanken in meinen Kopf. Aber ich weiß: Das sind die Worte meiner Kindheit, die nachklingen. In meiner Jugend gab es kaum Zärtlichkeiten oder so etwas wie Vertrauen, weshalb ich unter anderem Berührungs- und Bindungsängste entwickelte. Es war, wie es war, heute kann ich nur selbst die Verantwortung für mein Glück übernehmen. Mein Bruder redet nicht gerne darüber, aber ich glaube, dass es ihm ähnlich geht.

Die Beziehung mit meinem Ex verlief unglücklich, trotzdem brachte ich ihn dazu, bei mir einzuziehen – da war ich 22. Denn trotz allem war er mein engster Vertrauter, meine Bezugsperson und ich konnte mich auf ihn verlassen. Aber nachdem wir zusammengezogen waren, fingen wir an, uns richtig zu streiten. Er wurde immer lauter, machte die Möbel kaputt und lies mich alleine in dem Chaos zurück, das er veranstaltet hatte. Irgendwann kam die Kündigung von der Vermieterin. Die Nachbarn hatten sich zusammengetan und einvernehmlich für unseren Auszug gestimmt. Wir zogen um in eine neue Wohnung.

Ich weiß noch, als mein Ex mir Beleidigungen wie Hure, Fotze oder Missgeburt an den Kopf warf. Dabei schaute er mich hasserfüllt an, kam mir auf beängstigende Weise nahe oder schmiss mich gegen die Wand, auf den Boden und warf Sachen gegen mich. Es gab Situationen, in denen ich sein Gras wegwarf, ihm eine Szene machte, weil er kiffte oder einfach nur Streit suchte, um ihm zu zeigen, wie unglücklich ich bin. Manchmal eskalierte das so schlimm, dass ich mich aus Angst vor ihm im Bad einschloss, heulend auf dem Boden saß und darauf wartete, dass er die Wohnung verließ, nachdem er die Badezimmertür fast eingetreten hatte. Einmal spuckte er mir nach einem Streit ins Gesicht, schaute mich angewidert an, während er mir Schimpfwörter an den Kopf knallte.

Häusliche Gewalt gehört zu den größten Tabu-Themen unserer Gesellschaft. Das Verfassen dieses Textes kostete mich Überwindung, Tränen und Scham. Ich glaube, in vielen Wohnräumen, durch alle gesellschaftlichen Schichten hindurch, schwelt eine Gewalt, so wie ich sie kennengelernt habe. Es gibt nicht nur extreme Gewalt oder Friede, Freude, Eierkuchen. Dazwischen existiert viel. Aber es wird eher über die vermeintlich krassen Fälle gesprochen, nicht über die anderen. Die Menschen unterschätzen, dass auch Handlungen, wie ich sie hier beschrieben habe, Narben hinterlassen können. Die Betroffenen schweigen viel zu häufig. Aus Angst, aus schlechtem Gewissen, und auch, weil es ihnen schwerfällt, sich ihrer Situation bewusst zu werden – denn keiner gesagt dir, dass das, was du gerade erlebst, tatsächlich häusliche Gewalt ist.

Die Zahl der gemeldeten Gewalttaten in Partnerschaften oder von Ex-Partnern ist in Deutschland im vergangenen Jahr gestiegen. Laut einer Auswertung des Bundeskriminalamts stieg 2019 die Zahl der Fälle um 0,7 Prozent. Demnach gab es fast 141.792 Fälle – die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein.

Ich war nie bei der Polizei. Irgendetwas habe ich immer gefunden, was mich davon abhielt. 2016 kam ich zu dem Entschluss, dass ich mein Leben ändern muss, wenn ich es glücklich verbringen möchte. Ohne die Hilfe meiner Freundinnen hätte ich das vermutlich nicht geschafft. Noch heute bin ich mir unschlüssig darüber, was damals eigentlich passiert ist. Wenn ich mir Dokumentationen oder Berichte über häusliche Gewalt ansehe, erkenne ich mich zwar wieder, möchte jedoch nicht zugeben, dass ich eine von ihnen war. Mein Ex und ich haben heute ein gutes Verhältnis. Wir haben über die Dinge gesprochen, die passiert sind, wodurch wir Frieden schließen konnten. Eine respektable Aussprache zwischen mir und meiner Familie gab es bis heute nicht.

Illustration: @surfiart

Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.

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