Wer sich, wie ich, tagtäglich wie ein leicht ablenkbarer Affe von einem sozialen Netzwerk ins nächste schwingt, kommt nicht umhin, auch auf die Schattenseiten dieser Plattformen zu treffen. Schnell eskalierende Diskussionen, derbe Beleidigungen, Hetzkampagnen – die Liste ist lang. Hass im Netz: Wir alle haben schon davon gehört. Wir wissen, dass er aufgrund stetig zunehmender Aktivität im virtuellen Raum ein immer größer werdendes Problem darstellt. Den Inhalt, auf den ich treffe, empfinde ich mal mehr, mal weniger schlimm. Ich klicke beispielsweise auf das Video einer Gitarristin, die „Sultans of Swing“ von den Dire Straits – wie ich finde, richtig gut – covert. Ein Typ kommentiert: „Klar, Mädel, dass nur gerne ihre Brüste zeigen möchte“. Während es also eigentlich um ihre Performance gehen sollte, wird ihr Körper thematisiert – so weit, so bekannt.
Neben diesem und den oben genannten Beispielen mache ich allerdings häufig noch ganz andere Erfahrungen, manchmal als Betroffene, manchmal als Zeugin. Zum einen sind da die Typen, die, obwohl du sie gekonnt ignorierst, unendliche Male in deine DMs sliden, dich dann aber aufgrund ihres gekränkten Egos als Schlampe bezeichnen. Ihr nächster Gedanke: Vielleicht kann ein gutes, altes Dick Pic die Konversation noch retten? Tausendmal nein. Euren Nacktmull möchte niemand ungefragt sehen. Sowas ist übergriffig, nennt sich sexuelle Belästigung und ist übrigens in vielen Ländern (darunter auch Deutschland) strafbar. An anderer Stelle wird in Kommentarspalten diskutiert, welche Kleidung ein Vergewaltigungsopfer anhatte oder ob denn etwa Alkohol im Spiel war – so, als hätte das irgendetwas mit der Gedankenhaltung des Vergewaltigers zu tun, der von vornherein vorhatte, sich einer anderen Person gewaltsam aufzudrängen. Was kommt in der nächsten Folge von Victim blaming? „Verhindern Sie ermordet zu werden, sterben Sie jetzt!“ oder „Angst, ausgeraubt zu werden? Entledigen Sie sich einfach sofort ihres sämtlichen Eigentums?!“. Es ist absurd. Und es kann nicht oft genug wiederholt werden, dass Opfer sexueller Gewalt niemals selbst schuld sind. Niemals.
Diese Tatsache ist allerdings, ausgenommen der feministischen Bubbles, im virtuellen Raum noch nicht angekommen. Was wenig verwunderlich ist in einer Gesellschaft, in der nach wie vor eine massive Geschlechterungerechtigkeit herrscht. Generell scheinen mir die sozialen Netzwerke aber manchmal eine Art Tollhaus für rücksichtslose, unreflektierte Menschen zu sein, die einem konzentrierte, patriarchale Galle auf den Bildschirm spucken. Wer jetzt denkt, dass das mit Hass im Netz nichts zu tun hat, liegt schlicht und einfach falsch. Wer jetzt argumentieren möchte, dass ja alle Menschen, unabhängig ihres Geschlechts, von Hass im Netz betroffen sind, soll sich diesen Whataboutism nun bitte sonst wohin stecken, danke. Ich wollte wissen, ob meine persönlichen Wahrnehmungen auch statistisch Deckung finden und habe mir daher einige solcher Vorfälle und deren zahlenmäßiges Ausmaß näher angeschaut. Ich denke, diese sprechen für sich. Beginnen wir mit nur drei der unzähligen Geschichten, die ich hier anführen könnte.
Die Italienerin Tiziana Cantone schickte 2015 Videos an enge Freunde. Es waren pornografische Aufnahmen, welche kurz darauf im Netz landeten. Tiziana wurde daraufhin so wüst beschimpft, dass man es nicht wiedergeben sollte. Sie äußert in einem Video den Satz „Ma staifacendo un video? Bravo.“ – „Machst du ein Video? Super.“ Dieser Satz landete von nun an auf Handyhüllen, T-Shirts, sogar Radiojingles wurden daraus gemacht. Für Tiziana begann ein Spießrutenlauf, der mit ihrem Selbstmord endete – sie hielt es nicht mehr aus. Die österreichische Grünen-Politikerin Sigi Maurer bekam 2018 obszöne Nachrichten, in denen ihr – gelinde ausgedrückt – Oral- und Analverkehr „angeboten“ wurde. Maurer veröffentlichte die Nachrichten, wurde deshalb angeklagt und in erster Instanz auch verurteilt, wegen übler Nachrede. Ihr Freispruch erfolgte nach einem langen, obskuren Prozess, der erst im Februar dieses Jahres endete. Drei Tage vor diesem Prozessende machte auch die deutsche Autorin, Antirassismus- und Antisexismus-Aktivistin Jasmina Kuhnke Bekanntschaft mit den Schattenseiten des Internets. Eine befreundete Journalistin machte sie darauf aufmerksam, dass ein Video online gegangen sei. In diesem verstörenden Video wird sie schwerstens rassistisch beleidigt, und, für Kuhnke besonders bedrohlich: Ihre Privatadresse genannt. Das Video endet mit den Worten „Ich will dich massakrieren“. Mittlerweile ist Jasmina Kuhnke umgezogen.
Rachepornos, sexuelle Belästigung, Morddrohungen. Was haben diese Fälle nun gemeinsam?
Sie alle sind öffentlich bekannt gewordene Beispiele für Hass im Netz. Sie zeigen, dass er nicht nur Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen, trifft. Und sie spiegeln wider, was auch die vorhandenen Daten dazu zeigen. Frauen, Mädchen und Personen aus der LGTBQI+ Community sind häufiger von spezifischem Hass im Netz betroffen als Männer. Mit spezifischem Hass ist gemeint, dass Männer zwar häufiger Formen von Gewalt wie etwa Beleidigungen („name calling“) erleben, Frauen, Mädchen und Angehörige der LGBTQI+ Community aber überproportional von sexualisierter Gewalt, wie beispielsweise Belästigung, Cyberstalking, (sexuellen) Gewaltandrohungen oder eben den sogenannten „Rachepornos“ betroffen sind.
Eine Studie des Pew Research Centers 2017 zeigte, dass 41 Prozent der Amerikaner:innen bereits von Hass im Netz betroffen waren. 66 Prozent gaben an, ein solches Verhalten miterlebt zu haben. Betrachtet man nun den Gender-Aspekt, wird das Problem, welches auch ich persönlich häufig wahrnehme, deutlich: Denn obwohl Männer, wie erwähnt, insgesamt häufiger Beleidigungen ausgesetzt sind als Frauen (30 Prozent vs. 23 Prozent), sind Frauen, vor allem junge Frauen im Alter von 18 bis 29 Jahren, mehr als doppelt so häufig sexueller Belästigung ausgesetzt wie Männer (21 Prozent vs. 9 Prozent).
Dazu kommen die klassischen Dick Pics – 53 Prozent der jungen Frauen erhalten Bilder von Schwänzen. Obwohl sie nicht danach gefragt haben. Einfach so, aus der Laune der Versender heraus, die nicht den Anschein eines Bewusstseins dafür zu haben scheinen, wie ekelhaft und creepy das ist.
Eine Studie von Amnesty International aus demselben Jahr zeichnet ein ähnliches Bild. Befragt wurden Frauen im Alter von 18 bis 55 Jahren aus den USA, Neuseeland sowie 6 europäischen Ländern. Durchschnittlich berichteten 23 Prozent der Frauen, selbst Missbrauch oder Belästigungen im Netz erlebt zu haben, wobei die Werte von 16 Prozent in Italien bis zu 33 Prozent in den USA reichten. 26 Prozent derjenigen Frauen, die von Gewalt im Netz betroffen waren, berichteten von Drohungen mit physischen und/oder sexuellen Übergriffen. Fast die Hälfte (46 Prozent) aller betroffenen Frauen schätzte den Übergriff als sexistisch oder misogynistisch motiviert ein. Im Schnitt gaben 17 Prozent der Betroffenen an, dass persönliche Informationen von ihnen online veröffentlicht wurden und 8 Prozent sagten aus, dass intime Bilder ohne ihre Einwilligung geteilt wurden.
Es finden also sowohl die Fälle von Tiziana Cantone, Sigi Maurer und Jasmina Kuhnke, als auch
meine persönlichen Erlebnisse und Wahrnehmungen traurigerweise Deckung in statistischen
Erfassungen. Es ist nicht nur Zufall oder persönliche schlechte Erfahrung – es hat System.
Angesichts solcher Zahlen frage mich, ob sich die Menschheit in den letzten Jahrtausenden tatsächlich so weit entwickelt hat, wie gerne behauptet. Einen Typen, der seinen erigierten Penis mittels Handykamera festhält und dieses fotografische Meisterwerk dann in die Postfächer der Frauen seiner Begierde befördert, stelle ich mir nämlich amüsanter (oder auch trauriger?) Weise immer als das Abbild eines Neandertalers vor. Ich frage mich auch, was die großen Feminismuswellen gebracht haben, wenn wir uns stetig mit neuen, ekelhaften (virtuellen) Methoden der Abwertung herumschlagen müssen, die es einmal mehr wie einen Kampf gegen Windmühlen erscheinen lassen. Ob denn alle Bemühungen umsonst waren bzw. sind, wenn es heute immer noch Menschen gibt, die Hass im Netz für ein Randphänomen halten und die Sexualisierung von Frauen und ihren Körpern für eine reine Erfindung von männerfeindlichen Feministinnen.
Um hier etwas klarzustellen: Es geht mir nicht darum, die einst bestehende Utopie herzustellen,
in der das Internet ein netter Raum der Freiheit ist, der lediglich Quelle der Vernetzung, des
freundlichen Austauschs und der Wissensvermittlung sein soll. Es geht mir auch nicht um eine
Schwarz-Weiß-Gegenüberstellung und Analyse von sogenannten „Snowflakes“ und „Man wird doch wohl noch sagen dürfen“-Menschen. Ich glaube, die wenigsten werden das Internet verfluchen und den sozialen Netzwerken den Rücken kehren, weil sie einmal als Idiot:in bezeichnet werden. Muss ich mir als Frau allerdings fünfmal überlegen, ob ich dieses Bild oder jenen Kommentar posten kann oder mir schon rein nur Gedanken darüber machen muss, welche teils drastischen Konsequenzen es haben kann, einfach nur im virtuellen öffentlichen Raum anwesend zu sein, ist die Situation eine ganz andere. Es geht mir darum, zu zeigen, womit wir im Jahr 2021 immer noch konfrontiert sind – beziehungsweise schon wieder, nur auf andere Art.
Auch, wenn mich diese Tatsache, zusammen mit vielen anderen, zermürbt, mich müde macht und auch wütend, soll dies kein Plädoyer dafür sein, in Wehrlosigkeit und Stillstand zu versinken. Ruhe geben hilft maximal bei Krankheit. Aber selbst bei Krankheit hilft man nach, sie loszuwerden, oder? Und als solche kann man diese patriarchalen Auswüchse durchaus betrachten. Behandeln wir sie also. Legen wir den Finger in die Wunde – denn sie schmerzt sowieso schon. Machen wir dadurch auf sie aufmerksam. Zeigen wir die Realität so vieler von uns.
Denn der Status quo ist: Im Internet wird ziemlich viel gehasst, vor allem auch sexistisch. Und
auch, wenn ich mich von dieser Emotion gerne distanziere, hasse ich heute etwas zurück.
Seien wir laut. Noch lauter. Außer jene, die sich aufgrund ihrer Ignoranz und mangels Betroffenheit leisten können, wegzuschauen. Euch sei gesagt:
Einfach mal die Schnauze halten hilft und tut auch nicht weh – versprochen.
Autorin: Selinski
Illustration: Strahinja Aleksandra
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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