Es ist lange her, denke ich, während ich mir einen alten BH meiner Mutter anziehe und die einzige frische Unterhose aus dem Kleiderschrank in meinem Kinderzimmer fische.

Die Zwanziger sollten meine besten Jahre sein, so hatte man mir das zumindest verkündet. Ich habe jetzt beinahe zwei Jahre Zwanziger hinter mir und damit auch beinahe zwei Jahre Pandemie durchlebt. Gerne würde ich Covid-19 die Schuld an meiner sexuellen Abstinenz geben. Das wäre eigentlich eine astreine Ausrede. Allerdings war ich auch vorher kein besonders aktiver Single. Zwar habe ich einiges an Dating-Erfahrung hinter mir, aber die meisten Menschen, mit denen ich lockerleicht bei einem Bier über Gott und die Welt reden kann, sehe ich an und denke mir: Nein! Niemals würde ich mit dir in die Kiste steigen wollen.

Keine Ahnung, woran das liegt. Zwischendurch frage ich mich, ob ich mich selbst für etwas Besseres halte. Wer denke ich, wer ich bin, wenn ich andere Leute in meinen Gedanken still und heimlich als unfuckable bezeichne?

Wenn jeder Topf einen Deckel findet, wenn auch nur im Sinne einer temporären Frischhaltefolie, dann bedeutet das wohl, dass die Mehrheit der Menschheit irgendwann mal Sex hat. “Eklig”, denke ich und fühle mich wieder, als wäre ich im Kindergarten. Es grenzt schon an ein Wunder, dass ich die Sache mit dem Geschlechtsverkehr überhaupt schon mal ausprobiert habe.

Ich nehme das Auto in die Innenstadt des Kaffs, indem ich aufgewachsen bin. Eigentlich hatte ich gar nicht vor, jemanden zu treffen. Die Familienstreitigkeiten der Weihnachtsfeiertage haben jedoch Spuren hinterlassen. Zur Ablenkung habe ich ein  bisschen geswiped. Der heutige Abend ist die (freiwillig gewählte) Konsequenz meiner Handlungen. 

Damit ich dem mysteriösen Unbekannten einen meiner zwei Schlabberlooks (die meinen gesamten Kofferinhalt repräsentieren) erspare, suche ich in meinem Elternhaus nach einem Date-gerechten Look.

Am Ende trage ich die Schminke meiner Mutter, die Klamotten meines Bruders und rieche nach einer Varietät der von mir im Badezimmer gefundenen Deos und Parfüms. Das ist eigentlich alles andere als sexy…

Der Mann, der mir gegenübersitzt, ist nüchtern. Nicht nur, weil er keinen Alkohol trinkt. Alles, was er erzählt, klingt unfassbar langweilig, schnöselig und mir irgendwie zu konservativ. Seine Persönlichkeit ist einer der Gründe, warum ich nach dem Abitur schnellstmöglich aus der Heimat wegziehen wollte. Gleichzeitig lässt sie mich zuhause fühlen. Eine Geborgenheit, welche ich sehr lange nicht wertgeschätzt habe. Die Konversation ist für ein erstes Date viel zu direkt und ehrlich. Das tut gut.

Obwohl ich mich später im Auto darüber ärgere, fahre ich an diesem Abend allein nach Hause.

Einen Tag später feiere ich Silvester mit Freund:innen und nehme mir als einzigen Vorsatz, im Jahr 2022 mehr Sex zu haben. Die Idee kommt mir nach ein paar Trinkspielen und in diesem Moment glaube ich wirklich, sie ist Top-Notch.

Vielleicht verabreden wir uns deswegen das zweite Mal auf meine Bitte direkt bei ihm zuhause. Nach ca. 5 Minuten ist mein einziges Vorhaben für 2022 Realität geworden. In seinem Kinderzimmer, im Haus seiner Eltern. Inmitten der Straßen, in denen ich groß geworden bin… 

Mein neunzehnjähriges Ich, welches sich aus dieser Stadt herausemanzipieren wollte, springt vor Wut im Dreieck. Nicht so mein Momentanes.

Als ich das zweite Mal bei ihm bin, gehen uns die Kondome aus. Während er kurz nebenan in den Supermarkt springt, schlägt er lachend vor, ich könne ja mal seine „Pornoecke“ durchforsten. 

Also liege ich jetzt nackt im Bett und krame in einer Schublade, welche bei mir selbst (wenn es sie gäbe) in den Untiefen meines Kleiderschrankes versteckt wäre. Hier befindet sie sich in greifbarer Nähe zum Kopfteil des Bettes.

Ich finde einen komplett neu verpackten Satisfyer für Frauen und überlege kurz, ihn mitgehen zu lassen. Dann sind da noch einige Dildos und Penis Sleeves.  “So weit, so gut”, denke ich, bis ich die Analdusche finde. Jetzt wird es interessant. Dann fällt mir eine Vorrichtung für einen Umschnalldildo in die Hände. 

An meiner eigenen Reaktion merke ich, an welchen Stellen meine ach-so-offene-und-liberale Fassade bröckelt. Das ist der Zeitpunkt, an dem ich nicht sicher bin, ob sich Fantasie und Realität nicht gerade ganz merkwürdig vermischen. Einerseits weiß ich, worum es sich bei den Gegenständen handelt (man betreibt wohl seine Recherche). Andererseits war ich bisher viel zu prüde, um anzuerkennen, dass meiner Meinung nach langweilige Menschen auch aufregenden Sex haben können. Ich fühle mich von meinem Gehirn absolut verarscht.

Als ob ich ernsthaft geglaubt habe, so etwas gibt es nur in Filmchen, – „im Internet“, korrigiere ich mich selbst.

Wie komme ich auf diesen Gedanken? 

Gleichzeitig freue ich mich, dass bestimmte eigene Fantasien gar nicht so unnormal scheinen. Um diese in die Realität umzusetzen, dauert es aber wahrscheinlich noch eine Weile, da bin ich mir bei aller Verunsicherung in diesem Moment ziemlich sicher.

Nach dem Sex liegen wir im Bett, kuscheln und reden über mein sexuelles (Un)vermögen. Er findet es „krass“, dass ich noch nie einen Penis im Mund hatte und „interessant“, dass ich mich als bisexuell identifiziere. Seine Kommentare lösen in mir für ein paar Sekunden das Bedürfnis aus, ihm die Nase zu brechen. Dann denke ich nach und freue mich über unseren Austausch. Eine offene Konversation. Man kann immer etwas voneinander lernen.

Mein Vorsatz steht übrigens noch immer und ich fühle mich gleich ein bisschen wilder, wenn ich freitagabends verzweifelt versuche, mir selbst Yoga beizubringen, anstatt mich mit Freund:innen oder Dates zu betrinken.

Autorin: Lena-Jacobi Chau
Illustration: Teresa Vollmuth

Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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