„Meine Tante ist die allerbeste Tante, die es gibt“, strahlt sie in die Klasse hinein. Währenddessen kramt sie eine sonnengelbe Tupperbox aus ihrem Scout-Schulranzen hervor. Im Inneren befinden sich selbst gemachte Cupcakes, die sie am Abend zuvor mit der verkündeten besten Tante gebacken hat. Die anderen Kinder tummeln sich um sie herum und schauen mit gierigen Augen auf die bunt glasierte Backware. Sie genießt sichtlich die Schar, die sich um sie versammelt hat und verteilt großzügig und mit Stolz. Diese Art von Situation läuft in Dauerschleife auf dem Schulhof ab. Es geht um Finja, die Dinge von zu Hause mitgebracht hat und die anderen Kinder, die ihren Proviant erst bewundern und dann etwas davon abbekommen.
Finja ist mir bei meinem dreimonatigen Praktikum an einer Sonderschule begegnet. Ich hatte mein Abitur in der Tasche und benötigte dazu noch einen fachpraktischen Nachweis, um meine Chancen auf einen Studienplatz an der pädagogischen Hochschule zu erhöhen. Wie Finja wirklich heißt und wo sich die Schule befindet, werde ich aus Datenschutzgründen nicht nennen.
Die Neunjährige wohnt bei ihrer Tante V., die seit einigen Wochen das alleinige Sorgerecht für die Zweitklässlerin hat. Dies wurde bei einem Gerichtstermin, – zu dem ihre Mutter zu spät und der Vater mit polizeilicher Begleitung erschien – an einem Freitagvormittag beschlossen. An diesem Tag war das Mädchen nicht im Sachunterricht, um die Verwandlung von Raupen zu Schmetterlingen zu lernen – wie die anderen Kinder aus ihrer Klasse. Sondern in einem Raum voller Erwachsener, deren Verantwortungspflicht gegenüber der Neunjährigen versagte.
In einem Fall wie bei Finja entscheidet das Familiengericht nach §1666 BGB, wo sie leben soll. In der Regel wird die Zusammenarbeit zwischen dem Jugendamt und den Familienberater:innen gefördert und einer nahestehenden Person der Familie das Sorgerecht des minderjährigen Kindes übertragen. So wie hier: Finjas Tante. 14600 dieser Fälle gab es im letzten Jahr in Deutschland.
„Ich vermisse meine Mama.“ Pause. „Sie schläft immer sehr viel und dann kann ich zwar an ihrem Handy spielen, aber das wird irgendwann auch öde“, erzählt Finja. Ihren Kopf hat sie auf den linken Arm gestützt. Da wird mir bewusst, dass sie ihre Mama nicht vermisst, weil sie sie nur so selten sieht. Vielmehr fehlt sie ihr, weil die Momente der wirklichen Präsenz ihrer Mutter verschwindend gering sind. Das Erste, was mir bei Finja auffällt, sind die zerzausten Haare, die ohne Schnitt und Form in alle Himmelsrichtungen abstehen – als wüssten sie auch nicht, wohin mit sich. Ihre lieben Teddyaugen, der dunkle Teint und der aufgeblähte Kinderbauch, der manchmal unter ihren zu engen Oberteilen hervorragt. Und als wäre Finjas Familien-Background nicht schon genug, hat dieses Kind ihre komplette Kindheit an der Dialyse im Krankenhaus verbracht, da sie vor ein paar Jahren eine Spenderniere eingesetzt bekam. Fünf Operationen später hat Finja eine lange Narbe davongetragen – von der Mitte ihres Bauches bis hin zur Brust.
Es ist 8:50 Uhr. Das Licht des Klassenzimmers ist viel zu grell, als die Kinder aus der Gruppe ihrer Erzieher:innen, bei denen morgens zusammen gefrühstückt wird, wieder in die Klasse kommen. Mit lauten Geräuschen werden die sperrigen Schulranzen vom Rücken, über den Arm abgestreift und auf den Parkettboden gedonnert. Mein Blick wandert durch aufgeweckte Gesichter und bleibt bei einem Kind hängen. Sie hat ihr Gesicht auf der Fläche ihres Tisches unter ihren Armen vergraben. Die Füße berühren gerade so den Boden und aus dem zusammengekauerten Haufen Arme ertönt ein Winseln. Ich streichle ihr über den Rücken und möchte wissen, was los sei. Die anderen Kinder beginnen von den Abenteuern ihres Wochenendes zu berichten: L. und J. schmücken ihre Erlebnisse aus, wie es für Kinder typisch ist. F., M. und H. haben ferngesehen.
„Finja, möchtest du uns von deinem Wochenende erzählen?“, fragt der Klassenlehrer die Schülerin. Mit einem Kopfschütteln in die Armbeuge hinein verneint sie die Frage. Die Mitschüler:innen beginnen, ihre Erzählungen bildhaft auf Papier zu bringen. Mit angespitzten Buntstiften und bemühten Gesichtern wird losgekritzelt. Ich sitze immer noch bei Finja und biete ihr intuitiv an, eine Runde über den Schulhof zu gehen. Etwas anderes bleibt mir – ohne Ausbildung oder Fachwissen – auch nicht übrig. Sie nickt und hebt zum ersten Mal an diesem Morgen ihren Kopf. Ich gebe dem Klassenlehrer und den ausgebildeten Pädagog:innen kurz Bescheid, dass ich draußen eine kleine Runde mit ihr drehe. Diese Freiheit habe ich mittlerweile. Nachdem ich seit einem Monat Räume auf- und abschloss, die Pausenaufsicht übernahm, mich mit dem Kopierer auf dem Gang anfreundete und die erwachsene Person, mit der ich in der Summe wahrscheinlich am meisten redete, die Frau war, die mir die Frühstücksbrötchen verkaufte.
Finja erzählt mir an der noch etwas kühlen Luft am Morgen eines bevorstehenden heißen Sommertages, was sie bedrückt: „Ich gehe nicht gerne in die Schule.“ Ich nehme es erst mal auf und weiß selbst nicht so richtig, was ich ihr entgegnen soll. „Weißt du, in der Schule, da muss ich immer nur lernen und das machen, was die Lehrer:innen sagen“, erklärt sie mir. Ich nicke und frage sie, was sie denn lieber täte, als zu lernen und sie antwortet „Spielen“. Innerlich finde ich ihre Ablehnung gegenüber dem hierarchischen System irgendwie gut und erkenne mich in ihrer rebellischen Seite ein Stück weit wieder.
Eine PISA-Studie ergab, dass Kinder zwischen acht und zwölf Jahren, im Vergleich zu anderen Ländern, in Deutschland weniger gerne in die Schule gehen. Finja ist eines dieser Kinder. Deutschland bildet gemeinsam mit Großbritannien und Südkorea das Schlusslicht bei der Frage des Wohlbefindens der Kinder im Schulkontext.
Es ist 11:50 Uhr und die Kinder strömen von der frischen Pausenluft zurück auf die Holzstühle. Angestrengt vom Toben werden Flaschen an Münder geführt und ihr Atem kondensiert in den Plastikbehältern. „Wo ist Finja?“, will Herr M. wissen und L. antwortet in die Flasche hinein, sodass eine Art Echo entsteht „Die ist noch auf dem Schulhof“. Genervt stapft der Lehrer in Richtung Ausgang und schimpft in seinen Bart „Nur Probleme mit diesem Kind“. Dann dreht er sich noch mal zu mir um und ruft „Kannst du mal schnell übernehmen?“ Ich nicke, hole das angefangene Buch aus der blauen Kiste neben der Tafel heraus und beginne vorzulesen. Aus dem Off hören wir, wie Finja und ihr Klassenlehrer sich gegenseitig anschreien. Die dunkle laute Männerstimme argumentiert, dass hier noch weitere Kinder seien, die im Gegensatz zu ihr etwas lernen wollen und die Neunjährige droht im Gegenangriff, dass sie ihn hasst und sowieso bald die Schule wechseln wolle.

Es ist mittlerweile die dritte Konferenz mit dem Großteam der Sonderschule vergangen. Dabei sagt und zeigt uns Finja sehr deutlich ihre Not. Nach ausgiebiger Diskussion entscheidet die Schule, dass Finja eine Sonderregelung bekommt, indem sie selbst entscheiden darf, wann sie mit den anderen Kindern am Unterricht teilnehmen oder lieber spielen möchte. Nachdem sie in den vergangenen Wochen mehrfach vom Klassenlehrer aus der Spielecke – mit Plastik-Pferdchen und Legofiguren in den Händen – schreiend auf ihren Platz getragen wurde, soll Finja nun „selbstorganisiert lernen, für ihre Bedürfnisse einzustehen“. Oder wenn wir die nicht-offizielle Form dieser neuen Regelungen nennen, dann lautet diese „Wir wissen auch nicht, was wir noch mit ihr machen sollen“.
Finja sprengt den Rahmen. Aber wie soll ein Kind verstehen, dass es etwas zerstört, was von vornherein schon rissig ist? Mit Biegen und Brechen wird versucht, ihr diesen “Rahmen” überzustülpen und sie passend zu machen, statt den Rahmen endlich mal auszuwechseln. Mittlerweile studiere ich im ersten Semester Sonderpädagogik an der pädagogischen Hochschule in Heidelberg und lerne dort lösungsorientierte Ansätze im Umgang mit Krisensituationen. Das Wichtigste ist, individuell auf die Kinder zu schauen.
Finja braucht ein stabiles Umfeld, das an ihren Bedürfnissen orientiert ist. Auch ein stationärer Aufenthalt in einer Kinderpsychiatrie stand immer wieder im Raum, wurde vonseiten der Schule jedoch nicht unterstützt. Dabei ist ein Kopf manchmal so voller emotionaler Themen, dass eben keine Matheformeln mehr hineinpassen.
AUTORIN: CARLA MATHILDA BERTLING

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