Nach drei Stunden im Auto nähern wir uns endlich unserem Ziel. Langsam bekomme ich Hunger und mir ist langweilig. Doch gleichzeitig merke ich, wie etwas in mir es plötzlich gar nicht eilig hat. Ach, es ist doch eh nett im Auto, sagt eine Stimme in meinem Kopf, die lieber sitzen bleiben würde. Mir fällt auf, dass ich ein bisschen nervös bin. Auch wenn ich mir das nicht ganz eingestehen möchte.
Wir befinden uns in einem nicht enden wollenden Pinienwald nördlich von Bordeaux. Unser Ziel nennt sich Euronat. Es ist das größte Naturist:innenencamp Europas. Naturismus bedeutet FKK. Neben mir sitzt meine französische Gastmutter, hinter mir ihre zwei Kinder. Sie besuchen die Großeltern, die nach dem Lockdown beschlossen haben, permanent dort zu bleiben. Als sie mich gefragt haben, ob ich sie begleiten möchte, habe ich natürlich ja gesagt. Ich fahre also mit einer Familie, die ich seit vier Tagen kenne, in eine Siedlung am Meer, wo alle nackt sind. Eine etwas seltsame Kombination.
Ich kann mir nicht wirklich vorstellen, wie dieser Ort aussieht, wie die Stimmung dort ist. Sind dort wirklich alle nackt? Ab wann zieht man sich aus? Gibt es dafür eine Regel? Wo zieht man sich aus? Gibt es Kabinen beim Eingang oder verschwinden alle irgendwann in ihr Zimmer? Ist man auch beim Essen nackt? In meinem Kopf erwartet mich eine Tafel mit fünf Unbekleideten aus drei Generationen. Ich bin gespannt.
Über die Nacktheit selbst mache ich mir keine Gedanken. Sie ist meiner Generation ja beinahe angeboren. Mit aller Absurdität, die dieser Satz enthält. Wir fühlen uns wohl, Haut zu sehen. Wir fühlen uns wohl, Haut zu zeigen. Auf der Wiener Donauinsel sieht kaum noch jemand hin, wenn Frauen oben ohne in der Sonne liegen. Je nach Ort gilt das auch für Nacktbaden. Wir sind jung und frei und halten uns nicht an die alten Regeln. Nacktheit ist zum Symbol geworden. Mit unseren Kleidern legen wir die Gesellschaftszwänge ab. Mit unserem Oberteil entledigen wir uns dem Patriarchat.
Dabei ist das Konzept alles andere als neu. Es geht sogar der DDR-Zeit voraus, der es häufig angerechnet wird. Der erste offizielle Verein wurde 1898 gegründet und mit ihm eine Bewegung gesellschaftlicher Liberalisierung manifestiert. Motive dafür reichten von Gesundheit bis Rebellion. Rebellion gegen die Bourgeoisie, die Religion, später auch gegen die Uniformen der DDR. Systeme, die in einer nackten Welt nicht so gut funktionieren. Also entblößte man sich. Um zu baden, zu joggen, zu wandern, zu gärtnern. Die Hochburgen sind damals wie heute der deutschsprachige Raum. Allen voran die Küste und der Raum Berlin.
Auch in Euronat hört man an jeder Ecke Deutsch, erzählt mir der Großvater. Das Dorf ist so international wie seine Straßennamen: Avenue de Méxique, Village d’Asie, Boulevard de l’Europe. Von überall reisen Leute an und richten sich in den unterschiedlichsten Behausungen ein. In mobilen Häuser, Bungalows, Hüttchen auf Stelzen, Studios, Zelten, Wohnwägen. Wir sitzen mit einem Glas Wein auf der Veranda. Bekleidet. Schon über 20 Jahre kommen sie hierher. Nur das Zelt haben sie gegen ein Chalet getauscht, seit sie im warmen Teil des Jahres hier wohnen. Die Siedlung organisiert sich als Verein, in dem sie selbst aktiv sind. Bis zu 13.000 Leute lassen hier im Sommer die Seele und so baumeln. Einige hundert wohnen ganzjährig in Euronat, was sich wohl recht angenehm gestalten lässt. Es gibt Supermärkte, Restaurants, Sportgelände und Wellnessanlagen. Alles natürlich unbekleidet.
Am nächsten Morgen stellen sich mir meine Fragen erneut. Werden wir uns jetzt ausziehen? Eigentlich ist mir richtig kalt. Nach einigem Hin und Her entscheide ich mich für eine lockere Hose und einen Kimono. Luftig und lässt sich leicht ausziehen. Auch wenn ich das nicht muss, wie mir meine Gastmutter versichert. Hier ist ein Ort des Wohlfühlens. Zwang zur Nacktheit passt damit nicht zusammen. Ich fühle auch keine schrägen Blicke, als ich bekleidet an den Strand fahre. Doch ich möchte mich auch endlich ausziehen. Die meisten sind nackt oder tragen ein leichtes Hemd. Wenn außer mir niemand etwas anhat, werde ich zur Nackten.
Der französische Philosoph Jacques Derrida fällt mir ein. Letzte Woche erzählte mir eine Freundin von einem seltsamen Blick, den ihre Katze ihr zuwirft, wenn sie nackt vor ihr steht. Als wüsste die Katze, dass sie nackt wäre. Eine bizarre Vorstellung — wie soll ihre Nacktheit für sie seltsam sein, wenn sie selbst immer nackt ist?
Doch die Katze ist nackt, ohne es zu wissen, schreibt Derrida. Ohne dieses Wissen ihrer Nacktheit ist sie gewissermaßen gar nicht nackt. Sie fühlt sich nicht nackt. Sie sieht sich nicht nackt. Sie ist in ihrer Nacktheit weder schamhaft noch schamlos. Nacktheit gibt es in der Natur gar nicht, schreibt er. Es gibt nur das Gefühl, in der Nacktheit zu existieren — sich nackt oder nicht nackt zu fühlen. Das Tier ist nackt, ohne in der Nacktheit zu existieren. Also ist es nicht nackt.
Im Naturismus gibt es auch keine Nacktheit. Also ziehe ich mich aus. Und werde zur Katze.
Ein Traum. Ich liege an der Atlantikküste, in meinen Ohren das Meer, auf meiner Haut die Sonne. Es gefällt mir hier besser als auf einem Textilstrand. Die Leute um mich sind verschieden, aber doch alle gleich. Die Dinge, die uns normalerweise voneinander trennen, fehlen. Es gibt keine Badekleidung, nach der man Leute in Schubladen stecken könnte, keine auffälligen Farben und Formen. Nur Menschen.
Es fühlt sich nicht aufregend an, nackt zu sein. Es fühlt sich auch nicht aufregend an, Nackte zu sehen. Spätestens nach dem dritten großen Sack kommt nichts Neues mehr. Aber ich sehe nicht wirklich hin. Ich sehe auch nicht wirklich weg. Der bewertende Blick, mit dem ich Menschen unvermeidbar begegne, fehlt. Körper — alt, jung, schlank, breit — wirken alle schön. Gleich schön. Mir fällt auf, wie genau ich bekleidete Leute immer betrachte. Ich glaube, ich bin Menschen noch nie so offen gegenübergestanden. Noch nie so nackt. Als hätte ich mit meinem Kimono meine Vorurteilskraft in die Tasche gepackt.
Umgekehrt habe ich mich auch noch nie so unnackt gefühlt. So unbeobachtet. So unsichtbar. Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, dass mein weiblicher Körper keine Rolle spielt. Fühlen sich Männer immer so? Die Freikörperkultur ist asexuell. Mein Körper fühlt sich zum ersten Mal asexuell an. Ich frage mich, was zuerst da war. Macht uns die Nacktheit zu Menschen, die sich nicht so sexualisieren oder zieht die Nacktheit nur Menschen an, die sich nicht so sexualisieren müssen? Wahrscheinlich beides, aber ich gebe dem ersteren Vorrang.
Die universelle Nacktheit scheint eine Grenze aufzulösen, vor der ich sonst das Bedürfnis habe, mich zu schützen. Erst Kleidung schafft den Unterschied zwischen bedeckter und unbedeckter Haut. Es gibt unendlich viele Arten, sich zu kleiden, aber nur eine, nackt zu sein. In einer Welt, in der alle nackt sind, kann man sich nicht falsch anziehen. Kein Rock ist zu kurz, kein Kleid ist zu provokant. Versuch jetzt mal, mich zu objektifizieren.
Vielleicht ist das dieser Safe Space, von dem alle immer sprechen. Hier hat davon wohl kaum jemand gehört. Hier gab es auch keine Lautsprecherdurchsagen und Awareness-Beauftragte. In einem Lebensstil, der über hundert Jahre alt ist, sind diese modernen Konzepte nicht notwendig.
In einem Interview mit dem Falter meinten Bewohner:innen des Naturist:innenpark in der Wiener Lobau, dass ihnen der Nachwuchs fehle. Das finde ich schade.
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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Autor:innen
War bis November 2022 Redakteurin bei DIEVERPEILTE. Hat Wirtschafts- und
Sozialwissenschaften in Wien studiert und befindet sich aktuell im
Philosophiestudium. Themenschwerpunkte sind Gesellschaft, Wirtschaft und
Poltik.