Ich habe dreißig Kilo Gepäck dabei. Vielleicht etwas mehr. Ein MacBook Air, eine Canon, vier Bücher, eine Packung Pueblo, zwei Wintermäntel, eine Lederjacke, eine halb ausgetrunkene Wasserflasche, noch mehr Kleidung, Bettwäsche, ein Handtuch, drei Flaschen Parfum, einen Terminkalender, eine Musikbox, Bluetooth-Kopfhörer und ein bisschen Geld. Ich glaube, das reicht für ein paar Monate in der Großstadt. Im Überblick behalten beim Kofferpacken bin ich nicht besonders gut. Hinzu kommt, dass ich der Last-Minute-Umzugstyp bin, die sich erst kurz vor dem eigentlichen Auszug um eine neue Bleibe kümmert, was bei einem Aufenthalt im Ausland schwierig enden könnte. Im Umziehen bin ich aber mittlerweile richtig gut. Also bis auf die Sache mit dem Überblick behalten. Das hier ist der siebte Tapetenwechsel innerhalb der letzten eineinhalb Jahre: Wien, Barcelona, Würzburg, Köln Junkersdorf, Köln Chlodwigplatz, Korfu und nun Berlin. Mit meinen 29 Jahren habe ich schon viele unterschiedliche Schlafmöglichkeiten bezogen. Existenzängste und unbeheizte Winternächte waren inklusive.

Dafür bin ich jetzt „Weltenbummlerin“, das sagt man mir jedenfalls nach. Keine Ahnung, ob das stimmt, aber wie man Koffer packt, weiß ich jedenfalls. Übergepäck habe ich trotzdem jedes Mal. Vielleicht sollte ich mal über meinen Geiz hinwegsehen und über die Anschaffung einer Kofferwaage nachdenken. Aber ich muss ja ans „Gepäckreduzieren“ denken, also lieber doch keine Waage. Erst mal brauche ich sowieso keine, ich habe jetzt ein Zimmer in Berlin. Ein bisschen schräg ist das schon. Gerade zwei Monate ist es her, da jammerte ich meinen Freund:innen die Ohren voll, weil ich mich erneut vor der lästigen Frage wiederfand, wo mein Platz in dieser Welt ist. Aber so ist das halt als Weltenbummlerin. Jetzt bin ich ja hier, in Berlin. Ich bin jetzt Berlinerin, zusammen mit knapp 3,8 Millionen anderen Menschen, die dasselbe von sich behaupten. Neulich habe ich irgendwo gelesen, dass das 3.880 Personen weniger sind, als noch zu Beginn des Jahres. Das Gegenteil von meinem 331-Einwohner:innen-Dorf-Leben auf Korfu, erst recht in der Corona-Zeit. Vor knapp neun Jahren war ich zum ersten Mal hier, nicht weit vom Alexanderplatz, mit meinem Ex und ein paar Freund:innen zu Silvester. Der Abend endete hinter Gittern. Damals war es also nicht die Entdeckung einer anderen Welt für mich, durchgeknallt und voller Möglichkeiten, wie ich die Stadt heute wahrnehme.

Mitte November, neun Jahre später. Einsamkeit, Anonymität und dröhnende Techno-Demos in der Nachbarschaft – in meiner Vorstellung sah mein Umzug nach Berlin etwas anders aus. Wieso versteht das eigentlich keiner? Eine Freundin bezeichnet meinen Zustand als normal, die Eingewöhnungszeit nach dem Umziehen. Daraufhin sage ich ihr am Telefon: „Ja, du hast ja recht, das wird schon.“ Aber glücklich bin ich darüber nicht. Ich hatte dieses Bild vor Augen, wie ich aus dem Zug steige, meine Maske vom Gesicht reiße und atme, auf den Bahnsteig blicke und von meinen Freund:innen freudestrahlend in den Arm genommen werde – aber bis auf die dreckige Stadtluft wartete am Berliner Hauptbahnhof niemand auf mich.

Das sind natürlich Kleinigkeiten. Aber ist es eigentlich erlaubt, sich über nicht erfüllte Erwartungen zu ärgern, obwohl immer noch Menschen an Corona erkranken? Wenn nur diejenigen klagen dürfen, deren Probleme am größten sind, dann hätten nur diejenigen das Recht auf Klagen, die am ärmsten dran sind. Und wie findet man heraus, wer das ist? Dreißig Minuten Bahn fahren reichen nicht aus, um eine Antwort darauf zu finden. Stattdessen frage ich mich, wie meine neue Mitbewohnerin wohl sein wird und während ich nach dem Türknauf der Eingangstür greife, zucke ich für einen kurzen Moment zusammen, als diese von innen geöffnet wird. Huch, da ist sie ja schon. Meine Mitbewohnerin, die viel größer ist als in meiner Vorstellung und die mich jetzt in diesem Moment am Hauseingang lächelnd in Empfang nimmt. Sie sieht nett aus, hilft mir beim Kofferschleppen. Die Zeit, in der wir mein dreißig Kilo leichtes Leben in den dritten Stock hieven, hat etwas Magisches. Ich denke an gemeinsames Zähneputzen und lange Abende in der Küche, bei denen wir Eros Ramazzotti hören und fremde Leute im Innenhof stalken.

Ach herrje, nun habe ich so leidenschaftlich vor mich hingeträumt, dass ich etwas unvorbereitet über den Teppich am Eingang gestolpert bin. Aber jetzt bin ich ja da! Nach fünf Monaten wieder in Deutschland, sitze ich nun in unserer gemeinsamen Wohnküche in Berlin und trinke eine Tasse Tee mit meiner Mitbewohnerin. Fünfundvierzig Minuten später erfahre ich, dass auch sie neu in der Stadt ist und Sigmund Freud ein Tiefenpsychologe war, der, wer hätte es gedacht, mit krassen Unsicherheiten zu kämpfen hatte und sie außerdem zu jenen gehört, die das Privileg besitzen, die Vorteile einer vollständigen Immunisierung genießen zu dürfen.

Ich wäre auch gerne vollständig geimpft

Während ich das denke und neidisch auf den Impfstatus und die damit einhergehende Freiheit meiner Mitbewohnerin bin, räume ich den Inhalt meines Koffers in meine zwölf Quadratmeter. Dabei wird mir im Beisammensein der Stille klar, dass ich die kommenden Tage bis auf ein paar Termine niemanden treffen werde, gar keinen, niemand da, der mich aufgrund von Gründen treffen könnte. Meine Mitbewohnerin? Die studiert Vollzeit und ist deswegen auch raus. Ich habe also genug Zeit, um mich einfach hinzulegen, ungestört zu lesen oder diesen Artikel hier fertig zu schreiben. Und wenn alles nicht hilft, kann ich mir immer noch selbst beim Atmen zuhören. Cool. So fühlt es sich also an, Neuberlinerin zu sein. Ich schaue aus dem Fenster und blicke auf unseren bisher wenig besuchten Hinterhof hinunter. „Schau mal da! Die Flaschensammlerin da unten, die war heute morgen auch schon da“, erzähle ich mir selbst (ein wenig zu euphorisch), da sonst niemand da ist. Aber rund um unsere Wohnung, da befinden sich viele von diesen Dingen, die man in Großstädten findet: angesagte Cafés, Kneipen und Restaurants, idyllische Seitenstraßen voller Menschen und Clubs. Ideal, um nach einem Umzug in eine neue Stadt neue Kontakte zu knüpfen. Ich meine, solange die richtigen Freund:innen noch keine Zeit für einen haben. Aber Moment, da ist noch diese Sache mit der Pandemie und der wirksamen 2G-Regelung. Wirklich gelegen kommt mir das als erst „einmal Geimpfte“ gerade nicht.

Umziehen Einsamkeit 03
ALLE ILLUSTRATIONEN: LAURA SISTIG

Was immer du nun denkst, es stimmt. Und irgendwie auch nicht. Mit Impfen in Deutschland ist es nämlich leicht, weil ich da nur meine Krankenkassenkarte zücken und einen Termin beim Hausarzt oder anderen dafür vorgesehenen Stellen machen muss. Auf einer Insel wie Korfu ist das schwierig – für mich. Die griechischen Impfstellen verlangen erstens eine griechische Steuernummer, wenn man keine hat, muss man zweitens eine PAMKA-Nummer beantragen, wofür man drittens eine Personenidentifizierung beim Zentrum für Bürgerservice (KEP) durchführen muss. Man soll nie unvorbereitet bei Bürgerämtern auftauchen, das lernt man spätestens beim MPU. Soeben gebrochen. Arbeitgeberbescheinigung: nicht dabei. Nachweis Wohnsitz: Wie lautet meine Adresse noch mal? Bürgschaft durch Griech:in: Ernsthaft? Dann habe ich gemerkt, dass ich diese Sache mit dem Überblick behalten in den Griff bekommen muss. Die Frau in der Behörde hat ihren Job aber auch wirklich ernst genommen. Kopfschüttelnd hat sie mir das Formular für meine Identifikation in die Hand gedrückt und mich weggeschickt.

Ich glaube, wenn Menschen bei Behörden auftauchen, dann haben sie fast immer ein dringendes Anliegen, denn nach allem, was ich so gehört habe, lässt sich dort kaum jemand freiwillig blicken. Wenn ich die Frau hinter dem Plexiglas gewesen wäre, hätte ich jedem Menschen, mit oder ohne Nachweis, eine PAMKA in die Hand gedrückt, damit sich diese Leute verdammt noch mal impfen lassen können. Pandemie gelöst. Sah die Frau offensichtlich anders. Da habe ich mich äußerst zusammengerissen und fragte mich: Warum soll ich mir noch mal die Mühe machen, eine zweistündige Autofahrt an meinem freien Tag auf mich zu nehmen, mit dem unbefriedigenden Ergebnis, ungeimpft weggeschickt worden zu sein. Und vor allem: Warum lasse ich mich nicht einfach in Deutschland immunisieren? Kein zweiter Versuch, Problem gelöst.

Das war vor sechs Wochen. Ich wieder in Deutschland, erhalte Mitte November meine erste Corona-Schutzimpfung. Meine Theorie, dass Impfen in Deutschland viel einfacher ist als auf Korfu, bewahrheitet sich. Und jetzt bin ich hier, in Berlin. Ich bin jetzt eine von 59,5 Mio. Personen in Deutschland, die eine oder mehrere Impfdosen erhalten haben (Stand: 02. Dezember 2021). Wer genug von Selbstgesprächen in seinem Zimmer hat, tut so etwas.

Aber worauf ich eigentlich hinauswollte, ist das unangenehme Gefühl, das ich beim Umziehen nach Berlin verspürte: Einsam sein. Ich verabscheue dieses Gefühl, weil es mir so etwas Bescheuertes wie Minderwertigkeitsgefühle vermittelt. Letzten Winter in Barcelona zum Beispiel, da habe ich einen schlimmen Fehler gemacht. Nachdem ich mein soziales Leben mit dem anderer Menschen in meinem Alter verglichen habe, habe ich mir eingeredet, dass mich niemand liebt. Die wirkten alle so verdammt glücklich. Auf der Straße, aber besonders auf ihren neidisch machenden Instagram-Posts. Da dachte ich, die anderen wollten mich nicht dabei haben. Ich dachte, dass ich der einzige Mensch bin, dem es so geht – was übrigens Quatsch ist. Meiner Freundin am Telefon, die ich damals aus einem depressiven Moment heraus anrief, ging es nämlich genauso. Und wie ich erst kürzlich in einer Studie des wissenschaftlichen Dienstes der EU-Kommission gelesen habe, fühlten sich 2016 rund zwölf Prozent der EU-Bürger:innen mehr als die Hälfte der Zeit einsam. Besonders krass fand ich, dass der Anteil in den ersten Monaten der Pandemie auf 25 Prozent anstieg. Aber weil ich mich damals so dafür geschämt habe, habe ich bis auf meiner Freundin am Telefon kaum jemanden von meinen Gefühlen erzählt und mich die restliche Zeit meines Auslandaufenthalts allein in meiner Wohnung versteckt.

Und wie komme ich da wieder raus? Ich weiß ja, dass Alleinsein und Einsamkeit nicht dasselbe sind. Einsam ist man nämlich dann, wenn einem jemand fehlt, um sich gut zu fühlen. Beim Alleinsein kann man sich hingegen auch ohne die Gesellschaft anderer pudelwohl fühlen. Und obwohl aus gemeinsamen Zähneputzen und tiefgründigen Eros Ramazotti-Stunden mit meiner Mitbewohnerin noch nichts geworden ist, bin ich nun, vier Wochen nach meinem Einzug und meiner nicht ganz freiwilligen Isolation, doch ziemlich glücklich. Ich habe gelesen, mich, während ich diesen Artikel hier fertig geschrieben habe, auch mal hingelegt, und manchmal, da habe ich mir sogar selbst beim Atmen zugehört. Selbst der Hinterhof und das Solo-Stalken fremder Menschen fühlen sich jetzt schon viel besser an. Immerhin könnte ich auch krank sein. Oder Corona bekommen. Deswegen sage ich mir, dass meine Sorgen zwar völlig okay, aber auch irgendwie banal sind. Ich bin manchmal einsam und schlecht drauf, und ich akzeptiere meine Gefühle. Das ist mir wichtig. Der schlimmste Fehler wäre in diesem Fall, wenn ich mich dem Gefühl von Einsamkeit hilflos ausliefere und meinen Zustand abwerte.

Wir alle müssen lernen, zum Alleinsein zu stehen – meine Freundin am Telefon, ich, meine Mitbewohnerin, die Frau hinter dem Plexiglas… alle. Dann müssen wir uns nie wieder einsam fühlen. Und falls doch: Was würdet ihr anderen raten, in einer solchen Situation zu tun?

*Fühlst du dich auch manchmal einsam? Einsamkeit kann jeden treffen. Organisationen wie Malteser Redezeit oder Silbernetz (für Ü60) bieten Menschen, die allein sind oder mit jemandem sprechen möchten, ein offenes Ohr. Wenn ich du wäre, würde ich es mal mit einer Telefonfreundschaft probieren.

Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.

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