Es ist der erste Abend, circa 19.15 Uhr, als ich vorsichtig in den Aufenthaltsraum des Internats gehe, in dem ich seit heute wohne. Ein befremdliches Gefühl, der Neue zu sein. Trotzdem fasse ich mir ein Herz und geselle mich zu den Anderen. Argwöhnische bis offen ablehnende Blicke treffen mich. Die Ersten wenden sich ab.

Ein junger Mann im Rollstuhl fragt mich: „Und, was willst du hier?“
„Ich … Ich bin neu hier. Das ist mein erster Abend.“
Ein anderer Mann aus der Gruppe, an Krücken, stammelt mit gedrückter Stimme: „A-aber … D-du g-gee-gehörst ni-ni-ni-nicht h-h-hierhe-r!“

Tränen steigen mir in die Augen und ich ziehe mich ohne eine weitere Erwiderung aus dem Aufenthaltsraum zurück. Das Gefühl ist zu präsent, zu intensiv. Ich gehöre nicht dazu. Wieder einmal. Wieder einmal finde ich mich in der Rolle des Außenseiters, des Marginalisierten, des Unerwünschten. Bereits am ersten Abend beschleicht mich das Gefühl, dass ich nicht besonders lange auf diesem Internat bleiben werde.

An meiner alten Schule bin ich gemobbt worden. Man schlug mich, bewarf mich mit Glasscherben, Steinen und Stühlen. Freund:innen hatte ich – natürlich – keine. Dafür war ich wohl zu anders, zu schwach, zu behindert. Ich hatte es allem Anschein nach nicht verdient dazuzugehören. „Krüppel“ und „Spasti“ waren meine Namen. Meinen richtigen Namen kannten allenfalls die Lehrer:innen. Diese hielten sich im Übrigen äußerst bedeckt, wenn meine Mutter Alarm schlug und schon wieder fragte, wieso ihr Sohn erneut mit blutiger Nase nach Hause gekommen sei. Vier Jahre lang durchlief ich dieses Martyrium, bis meine Mutter sich dazu durchrang, mich von der Schule zu nehmen. Nach längerer Suche – keine Schule wollte ein behindertes Kind, das nicht behindert aussah, – wurde ich in dieses Internat geschickt.

Jetzt hocke ich auf meinem Bett in meinem Einzelzimmer und weine, denn bereits am ersten Abend wird mir mitgeteilt: Auch hier, zwischen all den Leidensgenossen:innen, will man mich nicht. Natürlich stellt man sich nun die Frage, was damit gemeint ist, wenn von einer „unsichtbaren Behinderung“ die Rede ist.

Laut dem Statistischen Bundesamt sind 7,8 Millionen Menschen in Deutschland schwerbehindert. Ich gehöre zu ihnen, doch meine Behinderung hat einen großen Nachteil – man sieht sie nicht. In concreto habe ich das VACTERL-Syndrom. Man kann vereinfacht formuliert sagen, dass beinahe alle meine inneren Organe fehl- oder nicht ganz ausgebildet sind. Dazu kommt noch eine Spaltung der Brustwirbelsäule.

Die Inzidenz liegt bei etwa 1,6 auf 10.000 Geburten. Hauptsächlich (zu circa 85 Prozent) sind Jungen betroffen. Es gibt Menschen, die jahrelang mit mir zu tun haben und nichts, absolut gar nichts von meiner Behinderung wissen. Dabei verstecke ich sie gar nicht. Es wäre ein Fehlschluss anzunehmen, dass ich noch mal Glück im Unglück gehabt habe. Erfahren diese Menschen dann von meiner Behinderung, reagieren sie immer gleich – mit verunsicherter Anteilnahme.

„Das sieht man dir aber gar nicht an“ oder „das hätte ich nie gedacht, dass du behindert bist“.

Danach beginnt das liebevolle Entmündigen (so habe ich es irgendwann einmal getauft). Später erfuhr ich, dass es hierfür einen Fachausdruck gibt – Ableismus. Man traut mir plötzlich nichts mehr zu und nimmt mich aus der Verantwortung. Einfache Aufgaben sind auf einmal „zu viel“, kleine Tätigkeiten sind schlagartig zu anspruchsvoll – man drückt mich in die Opferrolle, ohne das zu beabsichtigen. Ich bin davon überzeugt, dass wenige Menschen mir tatsächlich an den Kittel wollten, die so mit mir umgegangen sind, aber mit mir gesprochen hat keine:r. Im Ernst, ich kann mich an keine Person erinnern, die mich offen gefragt hat, wie sie von nun an mit mir umgehen soll. Gewünscht hätte ich mir eine gewisse Empathie, ein gewisses Miteinander. Ein offener, ehrlicher und interessierter Dialog wäre ideal gewesen, allerdings ist das Ansprechen von Behinderungen immer noch stigmatisiert und damit auch tabuisiert. Ein einfaches „Hey du, wie ist das so mit XY?“ oder „Inwieweit schränkt dich deine Behinderung ein?“ hätte so viele Türen aufgestoßen. Ich bin zu jeder Zeit bereit gewesen, ein ehrlich interessiertes Gespräch über meine Behinderung zu führen. Deswegen hätte ich mich gefreut, wenn jemand mit mir in den Austausch gegangen wäre.

Ebenfalls heikel verhielt es sich mit Frauen. Sobald die Frauen von meiner Behinderung erfuhren, schien ich augenblicklich meine Maskulinität verloren zu haben. Ich mutierte sofort vom potenziellen Schwarm zum hilfsbedürftigen Bübchen, das man vor der bösen Welt beschützen musste. Was wie die Pauschalisierung eines gekränkten Egos anmutet, ist nichts als die schlichte Wahrheit. Es gab so häufig Situationen, in welchen sich eine Liebschaft anzubahnen begann, dann aber doch abgebrochen wurde mit dem Satz: „Wenn du nicht behindert wärst …“. Besonders in meinen jüngeren Jahren hat mich das enorm verletzt. Ich kam mir ausgenutzt und verkannt vor, denn als Kummerkasten war ich bei den Damen äußerst beliebt. Nur eben romantische oder gar erotische Ebenen blieben mir gänzlich verschlossen.

Der Weg dort raus war, wie so oft, der Selbstwert. Indem ich intensiv und mit professioneller Hilfe an meinem Selbstwert arbeitete, änderte sich auch mein Umfeld. Konkret gesagt änderte sich der Umgang mit mir. Wollte man mir nun übel mitspielen, spielte ich einfach nicht mehr mit.

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Unser Autor Philipp Rübenkönig Mitte März in Baden Baden: „Die Gesellschaft ist nicht gemacht für Menschen wie mich, und das ist auch erst mal gar nicht schlimm. Es wäre nur äußerst wünschenswert, wenn sie lernen würde, mit einer gewissen Diversität und einer bestimmten Vielfalt umzugehen.“ Foto: Jasmin Boehm

Als ich dann auf das Internat für Schwerbehinderte kam, brach für mich eine Welt zusammen, denn hier warf man mir vor, dass ich nicht behindert genug sei, nicht gehandicapt aussehe. Es war bizarr: Erst wurde ich ausgeschlossen, weil ich behindert war, aber nicht so aussah – hier wurde ich ausgegrenzt, weil ich nicht behindert genug war.

Mein anfänglicher Eindruck sollte sich bewahrheiten: Ich machte meinen Abschluss nicht auf diesem Internat, sondern wieder zu Hause auf einer Abendschule. Dies war wieder mal meiner Gesundheit geschuldet. Es war zwingend nötig, dass ich mir ein gewisses Maß an Ruhe verschaffte, das ich auf dem Internat nicht bekam. Wirklich gemobbt, wie auf der ersten Schule, wurde ich in dem Internat nicht, dafür fehlten meinen Mitschüler:innen die physischen Mittel sowie der Einfallsreichtum. Ich weiß, dass das absurd klingt: Ich war „zu gesund“, um von ihnen körperlich misshandelt zu werden. Die Gefahr, dass ich mich zur Wehr setzen würde, war zu groß. Man begnügte sich damit, mir überdeutlich zu zeigen: „Du gehörst nicht hierher” und „Du bist anders als wir“. Sekundiert wurde das mit der einen oder anderen Überfahrt meines Fußes mit dem Rollstuhl.

Nach dem Internat durchlief ich noch drei weitere Schulstationen, machte meine Mittlere Reife und scheiterte zweimal am Abitur. Die Belastung machte meine Behinderung nicht mit – es war und ist mir nicht möglich, acht Stunden am Tag zu arbeiten oder zehn Stunden in der Schule zu sitzen. Für gesunde Menschen ist das anstrengend, sie sind müde und erschöpft – das habe ich mir erzählen lassen. Nach einer Ruhephase geht es aber wieder. Bei mir setzen, je nach Tagesform, nach vier bis sechs Stunden heftige Schmerzen im Rücken ein, die dann in die Beine und in die Arme ausstrahlen. Mein Kreislauf fährt dann runter, was bedeutet, dass ich schon mal einer Ohnmacht nahe sein kann. Ignoriere ich diese Warnsignale meines Körpers, dann rächt sich das.

Der erste Anlauf zum Abitur scheiterte an einer Pyelonephritis (Nierenbeckenentzündung), die mich zehn Wochen ins Bett bzw. Krankenhaus zwang. Der zweite Anlauf wurde von einer Endokarditis (Herzinnenhautentzündung) zu einem verfrühten Ende verurteilt. Als ich mich dann wieder erholt hatte, hielt sich meine Ambition, es noch einmal zu versuchen, sehr in Grenzen.

Nach den misslungenen Versuchen ging es im Prinzip genauso weiter wie bisher. Ausbildungsplätze wurden mir mit der Begründung vorenthalten: „Für Behinderte haben wir keinen Platz.“ Kurze Pause. „Und wieso sind Sie überhaupt behindert?“. Zweimal habe ich eine Absage bekommen mit dem Vermerk, wie geschmacklos es sei, sich als behindert auszugeben, obwohl man es augenscheinlich nicht sei. Ja, eben … augenscheinlich. Solche Situationen haben mir bewiesen, dass die Gesellschaft – oder vielmehr der Arbeitsmarkt – nicht für Menschen wie mich ausgelegt ist. Es gibt eine Musterschablone und passt man dort nicht hinein, so fällt man gnadenlos durchs Raster.

Aus meinem Umfeld kam dann irgendwann der zweifelhafte Geistesblitz, wieso ich meine Behinderung denn nicht einfach unter den Tisch fallen ließe? Dagegen sprachen zwei fundamentale Punkte: Zum einen wäre das Betrug, sollte mir während der Arbeit etwas zustoßen und die Versicherung müsste einschreiten. Das Debakel wäre vorprogrammiert. Zum anderen, der für mich wesentlich wichtigere Punkt, hätte ich mich in dem Fall selbst verraten. Beziehungsweise einen Teil von mir. Das wollte ich nicht. Entweder sollte man mich so nehmen, wie ich war, oder eben nicht. Es lag und liegt mir fern, mich für eine Arbeitsstelle, einen Menschen oder ein Ziel zu verbiegen. Meine Behinderung ist ein Teil von mir. Ich definiere mich nicht über sie, aber ich verstecke sie auch nicht. Das wäre Selbstverleugnung und dies steht keinem Menschen gut zu Gesicht.

Zu Beginn dieser Phase entwickelte ich eine Trotzhaltung. Wenn alle Menschen (waren es nicht – es sind nie „alle“) mich als undefinierbar sahen, dann wollte ich ihnen genau das geben – einen distinguierten, neunmalklugen und selbstsüchtigen Exzentriker, der Regeln maximal wahrnahm, wenn er sie brach. Ich hatte keinen vernünftigen Schlafrhythmus, ich verbrachte meine Tage lesend, philosophierend, schreibend oder an der Konsole sitzend. Die wenigen Freund:innen, die ich hatte und auch noch habe, kannten mich nicht anders.

Doch es brauchte nicht sehr lange, bis ich feststellte, dass mich diese Strategie nicht weiterbrachte, denn im Endeffekt spielte ich auch hier nur eine Rolle. Ich begriff, dass gegen etwas sein – in meinem Fall gegen die „böse“ Gesellschaft – nur Gegenwehr erzeugt. Also änderte ich meinen Kurs und legte meinen Fokus auf mich. Die Gesellschaft, wer auch immer das genau sein soll, würde immer etwas zu bemängeln haben. Wieso sollte ich mich dann um ihre Erwartungen kümmern? Wenn Sie Gründe suchten, um mich zu verurteilen, dann wäre es ein Leichtes, diese auch zu finden.

So trat das Ich, der Mensch Philipp Rübenkönig in den Vordergrund und ich brachte die folgenden Jahre damit zu, mich mit mir und meinem Leben zu beschäftigen. Sei es unter theologischen, philosophischen, esoterischen oder psychologischen Gesichtspunkten. Ich verstand, dass meine Behinderung zu keinem Zeitpunkt mein Widersacher oder mein Gegner war. Ganz im Gegenteil, sie war meine Lehrerin, doch ich hatte über ein Jahrzehnt ihren Unterricht geschwänzt. So begann ich Nachhilfe zu nehmen und gelangte zu unglaublich wertvollen Einsichten. Zum Beispiel, dass es viel schöner und stärkender ist, wenn man auf sich selbst hört, anstatt irgendeiner Norm hinterherzuhecheln. Fühlt sich etwas für mich nicht richtig an, oder tut mir etwas nicht gut, dann lasse ich davon ab. Die Gesellschaft ist nicht gemacht für Menschen wie mich, und das ist auch erst mal gar nicht schlimm. Es wäre nur äußerst wünschenswert, wenn sie lernen würde, mit einer gewissen Diversität und einer bestimmten Vielfalt umzugehen. Wir müssen nicht alle das gleiche Leben leben. Es gibt kein Schema F, nach dem man vorgehen kann, um ein „gutes“ Leben zu führen.

Also begann ich mich gut zu behandeln, Nachsicht mit mir selbst zu haben und mein bester Freund zu werden. Dies war der schönste, aber nicht der einfachste Weg, neue Bekanntschaften zu machen und darüber hinaus echte Freund:innen kennenzulernen. Ich schloss Frieden mit mir, damit ich die Waffen endlich niederlegen konnte. Und ich lernte, dass es keinen Krieg gegen mich geben kann, wenn ich nicht daran teilnehme. Im Kampf heilen Wunden nämlich nicht.

AUTOR: PHILIPP RÜBENKÖNIG, FOTOS: JASMIN BOEHM

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