Es war Anfang 2019, als meine Partnerin und ich uns dazu entschließen, all die Dinge, die dem Menschen in einer Wohlstandsgesellschaft wie unserer unerlässlich vorkommen, hinter uns zu lassen. Wir sagten Tschüss zu unserer gemütlichen Dachgeschosswohnung, einem Großteil unserer persönlichen Habseligkeiten, unserer Krankenversicherung und schlussendlich auch zu unseren Jobs. Alles, was uns über Jahre festhielt, ließen wir los. Alles, was uns lebensnotwendig vorkam, sollte zukünftig in einen Rucksack passen. Mit Anfang 30 hatte man in unserer Gegend entweder ein Haus, Kinder, einen Kombi in der Einfahrt, einen Hund im Vorgarten oder zumindest den Plan, diese Dinge irgendwann zu haben. Die Gamechanger hatten mit Anfang 30 natürlich bereits all diese Dinge. Wir hingegen hatten nichts von alle dem, dafür aber ein großes Bedürfnis, sich von all dem zu befreien und die Chance zu nutzen, sich die Welt noch einmal genauer anzuschauen – zumindest solange wir die Zeit dazu noch hatten. Wir wussten, wenn wir es jetzt nicht täten, würden wir es niemals tun. Es gab Dinge, für die man später definitiv zu alt wäre, es gab jedoch auch Dinge, für die man irgendwann keine Zeit mehr haben würde, und so fanden wir uns auf Anraten eines alten Freundes acht Monate später mit dem Vermerk „Kein Wohnort in Deutschland“ im Personalausweis auf einem Kontinent wieder, an dem die Menschen bekanntlich mit am glücklichsten seien – in Südostasien. Ich erinnere mich nicht mehr, ob es die Suche nach einer Art Zufriedenheit oder Glück war oder einfach der Wunsch, sich in einer Welt fernab dieser durchgeplanten und von Sicherheit abhängigen Gesellschaft wiederzufinden.

Einmal im Leben alles hinter sich zu lassen und die Welt auf eine neue Art und Weise kennenzulernen, erschien uns irgendwie stimmig. Abseits einer Welt von Kriegen, Klimakrisen und Pandemien erhofften wir uns etwas zu finden, von dem uns die Medien seit je her verkauften, dass wir es dort finden würden. Ganz gleich, was es war. Ob Instagram, Facebook oder Co., bei der mehrmonatigen Vorbereitung dieser Reise kamen wir nicht drum herum, uns all jene Menschen anzuschauen, die fröhlich mit ihrem Chai-Latte und einem selbstgefälligen Grinsen im Gesicht die Cafés auf Bali besetzten Rezepte für glückliche Leben in Form von Coaching-Programmen verkauften und ihren sogenannten „Lifestyle“ lebten. Aber nicht nur das. Wir sahen durchgebräunte Männer mit Half Buns und Perlenketten, die wie Mönche zwischen Reisfeldern meditierten, Frauen mit langen Kleidern auf Schaukeln zwischen Reisfeldern hin und her schwingen, Paare, die mit Meeresschildkröten tauchten oder mit Kindern vor Streetfoodständen ablichten ließen. Social Media hatte uns nicht nur Antworten auf nicht gestellte Fragen gegeben, sondern auch gezeigt, was uns auf der Reise unseres Lebens erwarten würde. Wenn jemand wusste, was Glück ist, wie es funktioniert und was man dafür tun müsse, um es festzuhalten, dann waren es die etlichen Backpacker:innen, die täglich ihren Lifestyle auf Instagram und YouTube teilten. Mehr mussten wir nicht wissen, als das die perfekte Welt knapp 9000 Kilometer entfernt auf uns warten würde.
Neun Monate nach der Idee und 15 Flugstunden später standen wir auch schon da, bei glühender Hitze am Flughafen von Bangkok. Wie jede:r richtige Backpacker:in starteten wir unsere Reise genau dort, immerhin schien es ein leicht zu bereisendes Land gewesen zu sein und Städte wie Bangkok (Thailand) oder Kuala Lumpur (Malaysia) waren kurz vorher erst die meist besuchten Reiseziele gewesen. Also warum nicht erst mal die vorgetretenen Pfade laufen? Unsere mehrmonatige Reise sollte uns von Thailand nach Malaysia, über Indonesien nach Kambodscha und Vietnam führen – selbstverständlich mit der Option des Open Ends und vielen Monaten Zeit, alles in sich aufzusaugen, was uns die Community versprochen hatte. Und egal, was passieren würde, wir waren auf alles vorbereitet, sogar auf den ersten Taxifahrer, der uns prompt auf dem Weg in die Unterkunft um zu viel Geld erleichterte. Mit einem Grinsen war dieser zuvor prophezeite Fehltritt dann auch gleich vergessen, denn die Eindrücke, die Bangkok hinterließ, waren zu atemberaubend, um sich durch solch eine Lappalie verunsichern zu lassen. Dann ging alles ganz schnell und wir saßen fünf Monate später mit Masken in einem der letzten Flugzeuge, das Südostasien vor dem absoluten Lockdown verließ. Nach dem vorzeitigen Ende unserer Reise hatten wir glücklicherweise all die Kulissen und Bilder gesehen, die uns das Internet ein halbes Jahr vorher versprochen hatte. Nur lernten wir auch eine Seite kennen, die das Internet (wie so oft) nicht gerne preisgibt – eine traurige Realität.
Nach vielen Tagen, Wochen und Monaten Leben aus dem Rucksack sahen wir nicht mehr die liebevoll geknüpften Armbänder in Form von Souvenirs, wir sahen die Kinderhände, die sie mühsam versuchten, an die Tourist:innen zu bringen. Außerhalb des Bildausschnitts verschiedener Posts, die Paare mit Elefanten zeigten, erblickten wir die massiven Fußfesseln, welche die Tiere daran hinderten, dorthin zu gehen, wo sie eigentlich hingehörten. Wir sahen alte Frauen in Blechhütten sitzen, die für kaum erwähnenswertes Geld Benzin an betrunkene Oben-ohne-Partytourist:innen auf Motorrollern verkauften. Auf den größten Partymeilen und jenseits davon boten minderjährige Kinder unter Zwang sexuelle Gefälligkeiten gegen Geld an, während ein gut gekleideter Mensch im Schatten einer Ecke stand und das Treiben beobachtete. Wir sahen Menschen, die die Straßen der Großstädte pflasterten, weil die Gesellschaft keinen Platz mehr für sie übrig hatte, nur unweit von freizügigen Tourist:innen, die mit billigem Fusel ihr letztes Stück Mitgefühl betäubten, dass es eigentlich brauchte, um noch ein wenig Mitleid mit denjenigen Menschen zu haben, die schon fast am Lebensende angekommen, die letzten Züge aus einer Klebstofftube inhalierten. Auch nur einer von vielen Missständen, die es als Tourist:in zu ignorieren gibt, um sich die Reise nicht völlig zu vermiesen.
Jedes Land für sich zeigte, dass es nicht nur abhängig vom Tourismus zu sein schien, es zeigte auch, dass der Tourismus neben dem größten Freund auch der größte Feind geworden war. Wir fanden kein Land vor, in dem keine Müllberge brannten oder die romantischen, kristallklaren blauen Buchten nicht mit Plastikmüll und Flaschen zugemüllt waren, während ein Boot voll mit Tourist:innen entweder zu einer Party oder einer Tauchtour aufbrach, obwohl der Bestand an Korallenriffen und besonderen Fischen stark zurückgegangen war. Während sich in Indonesien einige Menschen mit den letzten, vom Aussterben bedrohten „halbwegs frei lebenden“ Orang-Utans ablichten ließen, standen auf der anderen Seite der Insel die Wälder in Flammen, um neue Palmöl-Plantagen zu pflanzen, damit unser Nutella nicht ausgehen würde. Doch das mit Abstand einprägsamste Bild waren nicht die Hunde am Spieß auf dem Grill und die westlichen Touristen, die sich daran erfreuten. Es war dieser kleine Junge im Dschungel von Sumatra, der kniehoch im Müll stand – in unserem Müll. Müll, der einen Weg von tausenden Kilometer hinter sich gebracht hatte und in dem dieses und viele andere Kinder spielten.

Und wir? Nun ja, wir waren mittendrin, nicht als die Gutmenschen, die andere aus ihren Wohlstandsländern innerlich für ihre Ignoranz hassten. Wir waren mittendrin als Teil eines Problems, an dem wir alle jeden Tag bewusst oder unbewusst über tausende von Meilen mitgewirkt hatten. Es war 2019, als wir uns auf eine Reise begaben, die unser Leben verändern, uns die Schönheit einer Welt offenbaren sollte, die uns Social Media so schöngeredet hatte. Doch es war auch das Jahr, in dem wir desillusioniert worden und erkannten, dass viele Dinge, die uns so selbstverständlich erschienen, alles andere als selbstverständlich waren. Es war das Jahr in dem wir lernten, dass Ignoranz manchmal auch zum Schutz der eigenen Persönlichkeit einen Wert zu haben scheint. Wir lernten, dass Bildausschnitte einer heilen Welt eben nur Bildausschnitte sind und nichts darüber aussagen, was außerhalb dieser Bilder zu finden sei. Wir lernten, dass Armut und die Zerstörung einer so wunderbaren Welt eben nicht den Stellenwert haben, den sie eigentlich haben sollten. Am Ende war jedoch die wichtigste Lektion, dass wir alle, ob arm oder reich einen Teil dazu beitragen können, auch wenn wir tausende Kilometer entfernt leben. Denn jede Plastikflasche am Späti findet ihren Weg in die Hände eines kleinen Kindes, ob nun in Afrika, Asien oder sonst wo auf der Welt. Es ist und bleibt unsere Verantwortung, damit umzugehen und einen Teil dazu beizutragen, auch wenn man glaubt, man könne nichts auf der Welt ausrichten. Doch außer dieser Erkenntnis um die Verzerrung einer Wirklichkeit und die Ignoranz, mit der viele von uns jeden Tag den Problemen „vermeintlich anderer“ begegnen und einem riesigen Kloß über die Bilder im Hals, lernten wir auch noch etwas anderes:
Dass es Menschen gibt, die trotz dieser massiven Probleme niemals damit aufhören, an das Gute zu glauben oder ihr Lächeln verlieren, die Häuser sogar ganze Dörfer aus Plastikmüll errichten, Menschen, die sich selbstlos für die Natur und andere Lebewesen einsetzen, ohne dafür etwas zu verlangen und Menschen, die trotz eines Kriegs ihren Feinden mit Liebe gegenüberstehen. Was wir sahen, war auch Hoffnung und die Chance, dass sich etwas verändern kann, wenn wir gemeinsam die Augen nicht mehr vor dem verschließen, was direkt vor uns liegt. Wenn wir begreifen, dass Probleme außerhalb der eigenen digitalen Bubble real sind, dann sind wir auch gemeinsam in der Lage, sie zu lösen. Manchmal reicht dafür ein einziger Blick vom Display auf die Welt vor uns, die niemals aufhören wird, sich „offline“ zu drehen.

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