Eigentlich sollte über diesem Text ein Bild von Jovis (27) sein, aber er hat sich für dieses entschieden: Er beim Händchenhalten mit einer Heimbewohnerin. Ob die beiden ein Verhältnis haben? Nein, doch dazu kommen wir noch. Es ist Mitte April und viele Menschen, die in Pflegeberufen arbeiten, sind abgefuckt. Meine Mutter zum Beispiel. Das ist sie schon, seit ich sie kenne. Ein Zustand, den ich ändern möchte. Und deshalb habe ich mir auch Gedanken gemacht. Ich weiß, dass Mama ihren Beruf mit Liebe ausführt, auch wenn sie das nur selten zugibt. Bei jedem Telefonat heult sie mir die Ohren voll, wie scheiße ihre Arbeitsbedingungen doch sind. Früher besuchten mein Bruder und ich sie im Altenheim. Wir fanden das cool, wie sich Mama um die alten Menschen kümmerte. Mit diesem Interview möchten Jovis und ich meine Mutter an die schönen Seiten ihres Berufs erinnern.
DIEVERPEILTE: Jovis, bevor wir über meine Mutter quatschen, würde ich gerne über dich reden. Du meintest, dass du dich gerade auf deine anstehende Ausbildung vorbereitest. Das machst du mit einem BFD. Was ist das eigentlich?
Jovis John: Der BFD ist der Bundesfreiwilligendienst und wird von mehreren Träger:innen in Deutschland angeboten, die meist auch das FSJ anbieten. Man könnte ihn mit dem früheren Sozialdienst vergleichen. Beides wird oft nach der Schule zur Orientierung ins Berufsleben genutzt oder wie von mir: zum Ausstieg aus der Arbeitslosigkeit. Sowohl der BFD als auch das FSJ finden meist in sozialen Einsatzstellen statt.
Der für dich entscheidende Unterschied zwischen BFD und FSJ?
Ab dem 27. Lebensjahr ist nur noch der BFD möglich – und das sogar in Teilzeit mit mindestens 20,5 Stunden pro Woche.
Du sagst, für dich ist der BFD der Ausstieg aus der Arbeitslosigkeit: Seit wann bist du arbeitslos und was hast du davor gemacht?
Eigentlich war ich mein ganzes Leben lang arbeitslos. Ich habe nie etwas gesellschaftlich Anerkanntes gemacht, was auch mit meiner Erziehung zu tun hat.
Wie meinst du das?
Meine Kindheit war von Depression, Gewalt und Drogen bestimmt. Anfang 2020 habe ich eine Drogen-Entwöhnungstherapie gemacht und nun nutze ich den BFD zur persönlichen Stabilisierung, um nicht mehr in die Drogenszene zu geraten.
Das ist ganz schön stark!
Mein Chef und die Praxisleitung kennen meine Vergangenheit. Ich bin ihnen sehr dankbar, dass sie mir diese Chance gegeben haben, mich zu beweisen.
Was bringt dir der BFD noch? Bekommst du überhaupt Geld dafür?
Der BFD bringt mir eine Grunderfahrung in dem Beruf, den ich später ausüben möchte. Zusätzlich einen kleinen Wissensvorsprung, den ich später in der Berufsschule und in der Ausbildung einsetzten kann, was sicherlich von Vorteil sein wird. Das Ganze wird mit einem Freiwilligengehalt bzw. Taschengeld vergütet und beträgt um die 280 Euro – wovon aber noch ein Teil abgerechnet wird, wenn man Arbeitslosengeld bezieht.
Was ist das für eine Ausbildung, von der du sprichst?
Ich leiste meinen BFD in einem Demenzzentrum ab, also ein Altenheim für demenzkranke Menschen. Die Einrichtung bietet die seit 2020 generalisierte Ausbildung zum Pflegeassistent:in und zur Pflegefachkraft an. Damit kann man im späteren Berufsleben sowohl in Pflegeheimen als auch im Krankenhaus als Pfleger:in tätig sein. Aufgrund meines Hauptschulabschlusses muss ich zuerst die Ausbildung zur Assistenzkraft absolvieren, welche zwei Jahre dauert. Danach würde ich gerne die weiterführende Ausbildung zur Pflegefachkraft machen.
Was dachtest du über Demenz, bevor du dort angefangen hast?
Ich hatte schon vorher Erfahrungen mit dementen Personen gemacht. Meine Großmutter ist an Demenz erkrankt. Anfangs pflegten sie meine Mutter und ihre Geschwister daheim, bis es nicht mehr ging. Sie war in drei Heimen, bis wir eines finden konnten, das mit älteren Bewohner:innen mit Würde umgeht. Das trug unter anderem auch zu meiner Entscheidung bei, in einen sozialen Beruf wie die Pflege einzutauchen. Der Umgang mit meiner Oma lehrte mich mit Demenzkranken ruhig und geduldig, aber auch manchmal bestimmend umzugehen, z.B. wenn jemand seine Körperhygiene vernachlässigt.
Wie sieht der bestimmte Umgang aus?
Es wird viel mit Überredungskunst gearbeitet, weil die Demenzkranken häufig eine nicht feste Meinung besitzen und nach kurzer Bedenkzeit kommt es vor, dass ihre Ansicht wieder ganz anders aussieht. Wen jemand aber nicht will, können wir die Person auch nicht zwingen. Dazu sind wir nicht befugt. Doch in manchen Situationen ist es eben nötig, hartnäckig zu bleiben.
Was für Situationen könnten das sein?
Wenn sich ein Bewohner:in nicht frisch machen lassen möchte, nachdem sich dieser eingestuhlt hat. Du kannst dir vorstellen, dass der Geruch für alle, die zu dieser Zeit auf der Station sind, nicht besonders angenehm ist. Oder wenn man versucht, Heimbewohner:innen zu überzeugen, bei der Körperpflege mitzuarbeiten. Auch hier stimmen wir einen bestimmten, aber keinesfalls aggressiven Ton an, um sie davon zu überzeugen.
Wo wir gerade bei Körperpflege sind. Dürfen Pfleger:innen eigentlich eine Liebesbeziehung zu Bewohner:innen eingehen?
Ich glaube, das ist in den meisten solcher Einrichtungen untersagt und ich würde das auch nie machen. Vor allem fände ich es auch falsch, da die meisten Bewohner:innen in solchen Heimen nicht mehr ganz auf der Höhe sind und ich persönlich auch davon ausgehen würde, dass da ein Hintergedanke mitspielt. Aber außerhalb solcher Einrichtungen kann jeder tun und lieben, wen er möchte.
Wie würdest du einem Kind erklären, was Demenz ist?
Das ist eine schwierige Frage. Ich würde dem Kind versuchen zu erklären, dass die Person immer mehr vergisst und Dinge, die selbst für ein Kind alltäglich und leicht sind, wieder zur Herausforderung werden. Opa und Oma brauchen viel Unterstützung und man muss ihnen Dinge erklären, auch wenn man es vielleicht gerade erst gemacht hat. Dabei glaube ich, dass Demenz von Kindern leichter akzeptiert wird als von einem Erwachsenen und als viel selbstverständlicher betrachtet wird, weil Kinder nicht so schnell urteilen.
Was hat sich bei dir durch den BFD im Bezug auf ältere Menschen geändert?
Das Verständnis. Auch wenn man nicht an Demenz leidet, ist es normal, dass man im Alter nachlässt und oft langsamer wird oder sich nicht mehr so gut bewegen kann. Meiner Meinung nach sollte man mit älteren Menschen in unserer Gesellschaft verständnisvoll und zuvorkommend umgehen.
Wie könnte so ein Umgang aussehen?
Indem man den älteren Leuten im Bus den Platz anbietet, wenn kein freier Sitz zur Verfügung steht. Aber auch beim Aussteigen helfen oder es mit Ruhe betrachten, wenn eine ältere Person an der Supermarktkasse das Kleingeld zählt, bis sie es passend hat.
Wirst du wütend, wenn sich Menschen respektlos gegenüber älteren Menschen verhalten?
Was heißt wütend. Oft bin ich einfach nur etwas traurig, dass es an Respekt und Verständnis mangelt. Aber ich war auch noch nie in einer Situation, in der eine z. B. eine ältere Person vor mir beleidigt wurde. Ich denke, dass ich da vielleicht schon ein bisschen aus der Haut fahren würde, würde ich das beobachten.
Warst du selbst schon mal respektlos zu ihnen?
Ja … Als ich mal mit ein paar Punks in meiner Stadt unterwegs war, erhielten wir von einem sehr alten Pärchen grobe rassistische Sprüche, die etwa so klangen: „ Beim Führer hätte man euch vergast.“ Daraufhin führte ich mit dem Herren eine hitzige Diskussion, bei der ich nicht sachlich bleiben konnte.
Mal was anderes. Wirst du auch immer so müde im Pflegeheim?
Nein, es ist ja meine Arbeitsstelle. Ich muss aktiv sein. Morgens, wenn ich anfange zu arbeiten, brauche ich ein bisschen, bis ich in Hochform bin. Einen Fehler kann ich mir aber nicht erlauben, da man sich dort auf mich verlässt. Auch nach der Arbeit bin ich noch recht aktiv und fülle meine Freizeit möglichst sinnvoll aus.
Was machst du denn in deiner Freizeit?
Eigentlich bin ich ein sehr sozial angebundener Typ, aber aufgrund der aktuellen Situation treffe ich mich nur einzeln mit Freund:innen. Meistens drinnen. Dann wird gekocht, gesund und frisch natürlich. Ansonsten gehe ich gerne alle an der Saar entlang spazieren. Eines meiner größten Hobbys ist das Lesen und Schreiben. Am liebsten lese ich Horror-Literatur von Edgar Allen Poe und H. P. Lovecraft. Früher schrieb ich viele Kurzgeschichten, heute mehr Gedichte und Songtexte. Aber ich spiele auch ganz zeitgemäß mit meiner Playstation, meistens online mit alten Freund:innen aus Bayern.
Wo wir gerade bei Mahlzeiten sind. Was hältst du vom Essen im Pflegeheim?
Ich muss zugeben, dass das Essen bei uns meist wirklich gut aussieht und es gibt täglich zwei Menüs für die Herrschaften zur Auswahl (wenn sie noch wählen können). Aber ich kann mich auch daran erinnern, dass das Essen bei meiner Oma im Heim nicht so schmackhaft aussah wie bei uns, sondern viel mehr nach „Krankenhausessen“. Ich denke, das hängt mit dem Wohnheimen zusammen. In manchen gibt es drei Sterne Küche, in einigen eben nur einen Stern. Doch bei uns im Heim schmeckt es so lecker, dass ich auch mal eine Kleinigkeit nasche, wenn mal etwas übrig bleibt.
In den Nachrichten hört man ja viel darüber, dass der Lebenswille der Senior:innen sinkt. Was ist denn trotz Corona immer noch großartig im Pflegeheim?
Die Dankbarkeit, die einen die meisten der zu Pflegenden zeigen, wenn man ihnen bei Dingen hilft, die für einen selbst alltäglich sind. Das Anreichen von Essen oder das Frischmachen der Personen ist zwar anstrengend, aber man bekommt auch viel zurück. Wenn manche der älteren Damen mich anlächeln, wenn ich mit dem Essenanreichen fertig bin, spüre ich in ihren Blicken tiefste Dankbarkeit. Auch wenn sie das einem oft nicht mehr sagen können.
Wie fühlt man sich nach einem harten Arbeitstag im Heim?
Durch das viele Heben und Bücken leidet man zwar oft an Rückenschmerzen und an vieles, was man dort zu sehen bekommt, muss man sich gewöhnen – was auch psychisch belasten kann. Doch an das meiste gewöhnt man sich und auch schneller als man denkt, wenn man es will.
Letzte Frage: Wie wichtig ist dein Beruf für unsere Gesellschaft?
Ich denke, Pflegeberufe sind sehr wichtig und werden auch immer bedeutungsvoller. Unsere medizinischen Standards werden besser und das Leben länger, ergo es gibt immer mehr ältere und pflegebedürftige Menschen, um die sich gekümmert werden muss. Für beide Seiten kann die Pflege von Älteren und Kranken ein Geschenk sein.
Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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Autor:innen
Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.