WARNUNG: Dieser Text enthält Schilderungen von sexualisierter Gewalt.

Früher Abend unter der Woche. Nach einem kürzlich ereigneten Erlebnis sexueller Belästigung will ich einfach nur entspannt mit einer Freundin in eine Bar gehen und meine Ruhe haben. Ich ziehe ein weites Shirt an, weil ich mich in enger Kleidung unwohl fühle, denn auch wenn ich weiß, dass ich keine Schuld für die Belästigung trage, wurde mir diese in der Vergangenheit bereits aufgrund meines engen Oberteils auferlegt. Andererseits kann mich ein weites Shirt auch nicht schützen, denn gleichzeitig habe ich die Erfahrung gemacht, dass mir ein solches Oberteil von einem Jungen auf einer Party ungefragt hochgerissen wurde, als ich gerade einmal vierzehn Jahre alt war.

Ich bin verwundbar, verletzlicher als sonst. Erlebte Szenarien der Vergangenheit spielen sich nach und nach in meinem Kopf ab. Ich erinnere mich an ungewolltes Grapschen, öbszöne Bezeichnungen und Verfolgungen, Bisswunden und blaue Flecken auf meiner Haut. Diese Traumata haben sich in den letzten Jahren in verschiedenen Situationen gesammelt. Nach einem letzten Blick in den Spiegel verlasse ich meine Wohnung und mache mich auf den Weg zur Bar.

Im Außenbereich des Lokals sitzt ein offensichtlich betrunkener Mann mittleren Alters. Er begrüßt uns lüstern, wir ignorieren ihn jedoch und gehen einfach in den Laden. Draußen sitzen acht Männer. Im Innenbereich ist nur ein Kellner zu sehen. Wir sind die einzigen Frauen im ganzen Lokal und bereits beunruhigt. Vom Innenbereich aus hören wir besagten Mann mit den Jungs am Nebentisch grölen. Er halt ihnen eine unverständliche Predigt über irgendein in seiner Welt belangvolles Thema und beendet seine Rede mit „Klappe zu, Affe tot!“ Die Typen scheinen sich daraufhin zu amüsieren und den Mann wie einen Helden zu feiern. Um dreiundzwanzig Uhr stolpern die Männer zusammen zur Bar im Innenbereich, um zu zahlen. Auf dem Weg dahin steuert der Mann mittleren Alters auf uns zu. Einer der anderen Typen schaut uns an und lallt mit einem hämischen Grinsen: „Jetzt macht er euch fertig, Ladies“. Ehe ich überlegen kann, was das überhaupt heißen soll, bombardiert uns der Mann mittleren Alters mit obszönen Fragen und Bezeichnungen. Und es ist wieder einmal passiert. Wir wurden gerade gecatcallt. Catcalling ist eine verbale sexuelle Belästigung, die nahezu jede Frau bereits erlebt hat. Sie impliziert das Hinterherrufen, Nachpfeifen, das Senden von unerwünschten sexuellen Bildern im Internet oder dem sexuell motivierten Verfolgen einer Person.

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ALLE FOTOS: LEA MAY

Hierzulande ist Catcalling bislang weder ein eigener Straftatbestand, noch eine Ordnungswidrigkeit, abhängig von den Umständen besteht jedoch die Möglichkeit einen ähnlichen Tatbestand als Beleidigung oder sexuelle Belästigung zu ahnden.

Normalerweise würde ich Idioten wie ihm jetzt einfach salopp einen Spruch drücken und ihn darüber aufklären, dass er locker mein Vater sein könnte, aber nach den Vorfällen der letzten Zeit ist mir einfach nur noch schlecht. Ich schalte auf Schutzmodus und starre auf den Boden. Ich höre nur noch das Gelächter der Männergruppe im Hintergrund, die mittlerweile im Halbkreis um uns steht. Lautes, missgünstiges Gelächter. Nach einer Weile richte ich meinen Blick auf, schaue in die Runde und frage, warum denn niemand von ihnen etwas dazu sagt oder uns hilft. Ein paar von ihnen lachen daraufhin noch, nur ein paar benommene Blicke unter ihnen nehme ich wahr. Der Kellner hält es auch nicht für notwendig Zivilcourage zu leisten, er scheint sich einfach auf den Feierabend zu freuen. Wir warten, bis die Männer das Lokal verlassen und gehen anschließend auch, denn die Stimmung ist offensichtlich vermiest.

Szenarien wie diese sind allgegenwärtige Begleiter im Leben einer Frau. Sexuelle Belästigung begegnet Frauen in der Schule, auf der Arbeit, im Bekanntenkreis, im Freundeskreis, durch den Typen den man datet und manchmal sogar in der Familie oder auf der Straße. Viele Männer müssen ich nur im Freundeskreis umschauen. Im Auftrag von Amnesty International hat das Forschungsinstitut GFS Bern eine repräsentative Umfrage mit 4500 Frauen ab 16 Jahren gemacht. 59 Prozent aller Frauen gaben an, bereits sexuell belästigt worden zu sein. Als Frau weiß ich, dass die Dunkelzahl höher ist, da viele Frauen Grapschen, Catcalling oder das Versenden anzügliche Bilder nicht mehr als Belästigung sehen und es zur Normalität geworden ist oder Frauen einfach ein Schamgefühl entwickeln, das Erlebte zu äußern.                             

Laut einer aktuellen Studie der AFP mit 3908 Befragten gab mehr als die Hälfte an, Beleidigungen aufgrund des Geschlechts sowie sexuelle Annäherungsversuche, sexistische Sprüche und Bemerkungen erfahren zu haben. Viele Befragte litten unter den Erfahrungen. Mehr als die Hälfte sagte, aufgrund von Erfahrungen mit Catcalling ängstlicher geworden zu sein. Vierzig Prozent erklärten, bestimmte Örtlichkeiten zu meiden. Acht Prozent änderten nach eigenen Angaben ihren Kleidungsstil.

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Hierbei handelt es sich um nachgespielte Szenen. Weitere Arbeiten von unserer Fotografin Lea May findest du auf ihrer Website. Du kannst ihr auch auf Instagram folgen.

Was mich mehr schockiert, als das Catcalling des übergriffigen Mannes, ist das Verhalten der außenstehenden Männer. Wenn wir Frauen uns selbst verteidigen, oder andere Frauen uns verteidigen, dann hört uns keiner zu. Wenn Männer ein Wort für uns einlegen, dann zählt automatisch die Meinung dieses Mannes. Hätten sie uns geholfen und sich gegen dieses Verhalten ausgesprochen, hätten sie die Situation deeskalieren können und uns ein sicheres Gefühl gegeben. Wenn wir uns Männern anvertrauen, werden wir mit Sprüchen wie „Es sind nicht alle Männer so“. Wir wissen, dass nicht alle Männer so sind, zumindest hoffen wir das doch sehr. Aber es geht hier nicht um Männer. Männer sollen uns zuhören, um endlich zu verstehen, was uns passiert. Dieser Abend hat wieder einmal gezeigt, dass junge Männer unbedingt für sexuelle Belästigung, Gewalt und Catcalling sensibilisiert werden müssen und beim nächsten Ereignis einschreiten sollten.

Wie erkennt man in Zukunft also genau, ob eine Gefahrensituation vorliegt? Die Bundeszentrale für politische Bildung hat ein Schema nach Hans Dieter-Schwind angegeben, mit dem man selbst einschätzen kann, ob Zivilcourage zu leisten ist.
Dabei ist erst einmal die Wahrnehmung des Ereignisses wichtig. Der potentielle Helfer muss bemerken, dass etwas geschieht und seine Aufmerksamkeit auf das ungewöhnliche Ereignis lenken. Je klarer zu erkennen ist, dass ein Opfer der Hilfe bedarf, desto eher wird auch Hilfe geleistet. Der zweite Punkt ist das Erkennen der Notlage: Wenn ein Ereignis erst einmal registriert worden ist, muss die Entscheidung getroffen werden, ob es sich bei diesem Ereignis um einen Notfall handelt oder nicht. Gelangt der Zuschauer zu dem Resultat, dass seine Hilfe notwendig ist, übernimmt er Verantwortung und ist zur Hilfe bereit. Dritter Punkt ist die eigene Verantwortung: Die eigene Verantwortung muss erkannt und bewertet werden. Als nächstes ist die Art der Hilfe einzuschätzen. Der potentielle Helfer muss sich nun für eine bestimmte Art der Hilfe entscheiden. Die Entscheidung ist eigentlich schon mit der Bewertung des Ereignisses gefallen. Als letzter Punkt folgt die Ausführung.

Fehlte es den Männern in der Bar einfach nur an Sensibilität? Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass ich mir gewünscht hätte, dass jemand für uns einsteht. Ein kleines Wort, eine kleine Aussage hätten in dieser Situation vielleicht schon gereicht.  So kann eine Person nicht nur vor einer weiteren schlechten Erinnerung bewahrt werden, sondern im schlimmsten Fall auch vor einer lebensbedrohlichen Situation.

Am Ende bleibt die Frage: Was muss geschehen, damit Frauen im öffentlichen Raum sicher sind und sich auch so fühlen? Solange Menschen nicht für andere und deren Konfliktsituationen durch deren Lebensrealitäten einstehen, ist auch der nächste Barbesuch nicht nur ein Besuch in der Lieblingskneipe, sondern für manche ein politischer Akt wie für meine Freundin und mich an diesem Abend.

Es ist zwei Uhr nachts. Ich liege nun in meinem Bett, denke über die vergangenen Stunden und den Vorfall in der Bar nach. Müde schließe ich die Augen in der Hoffnung, dass sich etwas ändert.

Autorin: Anni Weiler

*Anmerkung der Redaktion: Dies ist ein Erfahrungsbericht und gilt mitnichten für alle Menschen. Es geht hier um eine persönliche Perspektive, nicht um Pauschalisierung. 

*Das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ ist ein bundesweites Beratungsangebot für Frauen, die Gewalt erlebt haben oder noch erleben. Unter der Rufnummer 0800-116 016 und via Online-Beratung können sich neben Betroffenen auch Angehörige, Nahestehende und Fachkräfte Unterstützung holen.

Dieser Text erschien zuerst auf DIEVERPEILTE.

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