Als ich zum ersten Mal den feinen Sandstrand unter meinen nackten Füßen spüre, den Blick auf das türkisblaue Meerwasser gerichtet, ist Juni. Ich bin überglücklich. Die nächsten fünf Monate wird dieser traumhafte Ort, dessen Anblick ich unmöglich in Worte fassen kann, mein Zuhause sein. Weil ich hier in Marathias, einem Dorf im Süden der griechischen Insel Korfu, bin. Wo ich das Kinderprogramm für ein deutsches Reiseunternehmen leiten werde. Doch das Bild in meinem Kopf vom Paradies verändert sich mit der Zeit immer mehr in das einer Müllkippe. Eine Verwandlung, die ich nicht akzeptieren will.

Es ist Sommer und die Hochsaison hat begonnen. Mit der Zahl der Tourist:innen steigt auch das Aufkommen an Plastikmüll in unserem Dorf. Meine Pausen verbringe ich auf den Sonnenliegen am Strand von Marathias. Von meiner Unterkunft brauche ich sieben Minuten zu Fuß zum sechs Kilometer langen Traumstrand. Doch anstatt mich an der atemberaubenden Umgebung zu erfreuen, ärgere ich mich über den Plastikmüll auf dem Weg. Müll, der unter anderem aus den fahrenden Autos hier in der Natur landet. Worauf ich meinem Kollegen, der hier aufgewachsen ist, die Frage stelle: „Warum schmeißen die Leute ihren Müll nicht in den Mülleimer?“. „Ich denke, die Beweggründe dafür sind sehr unterschiedlich. Viele sind zu faul, einigen ist es egal und anderen fehlt die nötige Aufklärung darüber, dass auch das bisschen Plastikmüll etwas ausmacht.“ Das bringt mich zum Nachdenken. Ist der Müll am Straßenrand ein einheimisches Problem? Nein. Viele Reiseziele sind zu Sinnbildern der Plastikkrise geworden. Die Entsorgung von Abfall funktioniert nicht. Achtlosigkeit kommt hinzu. Mit den Folgen stehen die Einheimischen weitgehend allein da.
Am Strand angekommen, schließe ich Bekanntschaft mit dem nächsten Problem: Einwegplastik. Der Kellner fragt mich, was ich trinken möchte. Ich bestelle eine Flasche Wasser. Wenige Minuten später bringt er mir einen halben Liter Wasser in einer PET-Flasche. Dazu einen großen Plastikbecher mit Deckel, Eis und Strohhalm. „Das brauche ich nicht“, sage ich. „Dann lass es einfach liegen, ich schmeiße es dann weg“, lächelt er mich wohlwollend an. Trinkhalme, To-go-Becher, Teller, Besteck, – Einwegprodukte, die unbedacht auf den Tischen der Kund:innen landen und für mich zum Anlass vieler Diskussionen werden. Nicht, weil wir in Deutschland oder in anderen Ländern das Plastikproblem besser unter Kontrolle haben als die Menschen in Griechenland. Sondern weil ich mich als Mensch in der Verantwortung sehe, etwas gegen die Vermüllung der Welt zu tun. Doch kaufe ich beispielsweise Kleidung, Bücher oder Lebensmittel im Internet ein, belaste auch ich die Umwelt, indem ich eine Menge Verpackungsmüll verursache. Plastikkonsum ist ein globales Problem und wie wir damit umgehen, betrifft uns alle.
Aber die Beach Bar-Betreiber:innen haben recht, wenn sie sagen, dass sie kein Glas an den Strand geben möchten. Man will, dass das eigene Umfeld sicher ist. Was darüber hinaus passiert, ist für viele hier einfach Angelegenheit der Gemeinde. Dabei hat Griechenland einen alarmierend hohen Verbrauch an Einwegkunststoff, ein während der zehnjährigen Finanzkrise weitgehend vernachlässigtes Abfallsystem und die längste Küste in der EU. Meer, das für die Einheimischen nicht nur Wasser und Strand ist. Es ist Kulturgut und Wirtschaftsraum. Eine Ressource, die es zu schützen gilt. Denn ohne Strand und Tourismus würden die Existenzen vieler Einheimischer zugrunde gehen. Trotz des hohen Risikos kann das Abfallsystem die hohen Massen an Plastikmüll und dessen Entsorgung nicht bewältigen. Die Entsorgung und damit verbundene Problematik bleibt an der Bevölkerung hängen, die weder die finanziellen noch zeitlichen Ressourcen für die Pflege der Strände und umliegenden Natur hat.
Das macht mich traurig. Und damit beginnt meine Geschichte.
Es ist Oktober. Wir haben Freitag. Letzte Nacht hat es gestürmt und geregnet. Der erste Starkregen, den ich nach 15 Wochen Saison erlebe. Das Wasser prasselte auf uns nieder. 24 Stunden. Am Morgen nehmen wir das Auto, um zur Arbeit zu gelangen. Zuhause bleiben können wir nicht, das Hotel und die Gäste brauchen uns. Es regnet immer noch. Wind und der Regen, der nun in Fontänen über die Straßen fließt, haben die großen Kieselsteine von unserer Hoteleinfahrt auf die Straße gespült. Einige Bäume sind gebrochen. „Das Büro stand knöcheltief unter Wasser“, erzählt unsere Kollegin A. bei unserer Ankunft. Wasser prasselt jetzt auf uns nieder. Nach einer Stunde hat sich die Situation normalisiert. Ich beginne das Kinderprogramm. Wir laufen zum Strand. Ich möchte sehen, was das Unwetter noch angerichtet hat.

11 Uhr. Ich stehe mit meiner Kollegin A. und den drei Kindern am Eingang zum Strand. Wir sind sprachlos. Die Bucht, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Die Wellen haben alles mitgerissen. Nun steht nichts mehr da, wo es einmal war. Und damit ist der Traum vom Paradies für mich gestorben. Sogar mehr als das. Ich schlage vor, dass wir das Kinderprogramm nutzen, um den Strand zu säubern. Bereitwillig packen die Kinder mit an. Ich entscheide mich dafür, dem Mann gegenüber, der einer von acht Beach Bar-Betreibern hier am Strand ist, unsere Hilfe beim Aufräumen anzubieten. „Die hätten wir gestern gebraucht.“ Mit diesen Worten dreht er sich von uns weg und macht weiter. Alles klar, denke ich mir und blicke auf die Verwüstungen der Strandbar nebenan. Die nächsten 1,5 Stunden bringen wir Ordnung in das Chaos. Wir sammeln Plastik, stapeln nassgewordene Kissen und verstauen Sonnenliegen und Tische. Die Dankbarkeit lässt man uns spüren.
Es ist Samstag. Dass das Unwetter für die Menschen hier nicht allzu dramatisch war, habe ich inzwischen gemerkt. Um diese Jahreszeit kommt das Meer näher. „Das passiert jedes Jahr“, erzählt die Frau aus dem Minimarkt. Ihr Gesichtsausdruck wirkt entspannt. Ein bisschen dramatisch ist das aber schon. Durch den Klimawandel, der das Eis der Polarregionen schmelzen lässt, steigt der Meeresspiegel. Und das immer schneller. „Darum wird es den Strand von Marathias in ein paar Jahren nicht mehr geben“, sagt eine andere Frau aus dem Dorf, die ich beim Plastiksammeln kennenlerne. „Vor zwei Jahren kam das Meer noch nicht so weit nach vorne. Da gab es auch viel mehr Sand hier“, ergänzt sie. Um den Sturm ist es erstaunlich ruhig geworden; die Gastronomie läuft weiter, die Tourist:innen brutzeln erneut auf den Sonnenliegen. Der Plastikmüll am Rande des Strandes bleibt unberührt. Schockiert es mich? Ehrlich gesagt: „Ja.“ Dass die Menschen einfach weiter machen, hat mich im ersten Moment getroffen.
Es ist wieder Montag. Ich beginne das Kinderprogramm unter dem Motto „Plastikmüll“. Es ist eine neue Woche, folglich auch neue Kinder. Aus 3 wird 10. Während ich davon ausgehe, gleich einen langen Monolog über Plastikverschmutzung halten zu müssen, beantworten die Kinder mit überraschend hohem Interesse meine Fragen. „Haben wir Menschen noch die Kontrolle über unseren eigenen Plastikkonsum?“. Die Antwort ist eindeutig: Nein. „Habt ihr selbst die Kontrolle über euren eigenen Plastikkonsum?“, frage ich. Die Antworten fallen gemischt aus. Ich hake nach: „Kauft ihr das Plastik selber oder kaufen das eure Eltern?“ Der 9-jährige M. sagt: „Ich kaufe das eigentlich nicht so oft.“ Daraufhin frage ich ihn, ob es ihm auffalle, wenn er etwas aus Plastik bekommt und wie er darauf reagiert. „Meistens nehme ich es einfach entgegen, weil es jetzt auch schon so normal geworden ist“, antwortet M. „Aber du könntest ja auch sagen, dass du dir zum Beispiel beim Thema Zahnbürste eine aus Bambus wünscht und nicht aus Plastik. Dann würdest du vermutlich auch eine bekommen. Aber dafür müsstest du das halt ansprechen“, sage ich. „Stimmt“, antwortet M. Nachdem wir alle Fragen rund um das Thema Plastik besprochen haben, schließen wir die Aufklärungsstunde ab. Wir wollen zum Strand: Plastik sammeln. Bepackt mit Regenjacken, Bollerwägen und Müllbeuteln ziehen wir los.
Während von anderen endlos darüber gesprochen wird, gehen die Kinder hinaus in die Wogen und packen an. Und wenn die Kinder, angesichts der steigenden Umweltverschmutzung mit der Wut kämpfen, glaube ich diesen Emotionen nicht nur, ich spüre sie ebenfalls. Es geht hier nicht nur um Umweltschutz, sondern auch darum, Verantwortung als Mensch zu übernehmen. Damit sich Dinge verbessern, müssen wir ein Bewusstsein dafür schaffen, was falsch läuft und was man eben besser machen kann.

13 Uhr. Wir sind zurück auf der Hotelanlage. Die Strandsäuberung war ein voller Erfolg. Das zeigt der Haufen Müll, den wir auf dem trockenen Boden in unserem Garten ausgebreitet haben. Ich hole die Kofferwaage: 18,4 Kilogramm. Wow! Wir beginnen damit, den Müll zu säubern und zu trennen: Verpackungsplastik, Hartplastik, PET, Aluminium, Styropor, Mikropartikel und Glas – ganz schön viel Arbeit. „Wo landet eigentlich der Müll hier auf Korfu?“, frage ich meinen Kollegen, während ich das hier schreibe. „Der getrennte Müll landet in einer von 16 Recyclingstellen, die derzeit auf der Insel in Betrieb sind. Alles andere wird von den Gemeinden entsorgt“, antwortet er.
Es ist Mittwoch. Die Begeisterung für unsere Themenwoche hat nachgelassen. Tatsächlich haben sich einige Kinder darüber beklagt, dass die Müllsammel-Aktion keinen Spaß mache. Das Wetter sei ungemütlich. Meine Kollegin fragt mit einem skeptischen Unterton, ob wir wirklich erneut zum Strand gehen werden. Ich antworte: „Ja!“ Kinder brauchen Motivation, dann zeigen sie auch Durchhaltevermögen. Wie sollen sie lernen, Verantwortung zu übernehmen, wenn wir ihnen diese entziehen, sobald es „ungemütlich“ wird? Oft brauchen Kinder nur einen neuen Input oder eine andere Technik. Ich denke weiter und entwickle eine Strategie. Wenige Minuten später stehe ich vor den Kindern, meine Kollegin A. neben mir und erkläre die Spielregeln. Dieses Mal werde der Müll direkt beim Einsammeln getrennt, dafür bilden wir verschiedene Teams aus Verpackungsplastik, Hartplastik, PET, Aluminium, Styropor, Glas und PET-Deckeln*. Nun brauchen wir noch die Motivation: Wir wollen unseren Rekord von Montag schlagen. 20 Kilogramm Plastikmüll sind das Ziel. Ist das Ziel erreicht, dürfen sich die Kinder im Anschluss eine Belohnung aussuchen. Für jedes weitere fünfte Kilo eine weitere. Die Kinder sind nicht mehr aufzuhalten. Ein 7-Jähriger läuft los, um die Bollerwägen zu holen. Wir gehen in Richtung Strand.

12:30. Dass meine Strategie aufgegangen ist, zeigt die Kofferwaage: 26 Kilogramm. Ob ich stolz auf die Kids bin? Wahnsinnig! Durch zwei Tage Plastiksammeln kommen 44,4 Kilogramm Müll zusammen. 2019 fand ein Wissenschaftler mehr als 40 Kilogramm Plastikmüll im Magen eines Wals, den man an einer philippinischen Küste völlig dehydriert fand, woran er letztendlich qualvoll verendete. Dass Platiksammel-Aktionen im Kinderprogramm funktionieren, haben inzwischen auch die anfänglichen Skeptiker:innen gemerkt. Obendrauf haben wir – rein hypothetisch gesehen – ein Walleben gerettet. Das Eis bzw. die Limonade, die sich die Kinder als Belohnung gewünscht hatten, war wahrlich verdient.
Die Kinder haben gute Chancen, zu umweltbewussten Erwachsenen heranzuwachsen. Sie sind jene Macher, an denen es dieser Erde so sehr mangelt. Zudem haben sie noch Zeit. Was hatte ich mit 9 Jahren vorzuweisen? Nichts ausser schlechten Noten und zu viel Zeit vor dem Fernseher.
Mit dem Verfassen dieses Artikels merke ich, was wir heute brauchen, mehr denn je, ist eine Sensibilisierung für die Umwelt und den Umgang mit Plastikmüll. Nicht nur in Griechenland, sondern auf der ganzen Welt und besonders jeder einzelne Mensch. Natürlich ist auch das Entsorgungssystem vieler Staaten entscheidend, aber um sich damit zu beschäftigen, braucht es eine stabile Wirtschaft. Eine Wirtschaft, die sich Griechenland jetzt erst wieder aufbaut.












*Die gesammelten Kunststoffdeckel werden Recyclingunternehmen angeboten. Mit dem eingenommenen Geld werden Rollstühle an Behinderten- und Querschnittsgelähmtenorganisationen sowie an Vereinigungen zur Unterstützung von minderjährigen Verkehrsunfallopfern gespendet.

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Autor:innen
Ist in Nürnberg aufgewachsen, brach erfolgreich drei Studiengänge ab und entdeckte ihre Leidenschaft für den Journalismus durch ein Praktikum in einer Musikredaktion. 2019 gründete sie das DIEVERPEILTE-Magazin. Themenschwerpunkte sind Mental Health, Krankheiten, soziale Ungerechtigkeit, Sexualität und Drogen.